Das 30-jährige Jubiläum des Mauerfalls hat erwartungsgemäß ein Trommelfeuer der antikommunistischen Propaganda ausgelöst. Doch die Geschichte der DDR ist es wert, tatsächlich analysiert zu werden. Von Fabian Lehr.

Die Wurzel des Scheiterns der DDR liegt weniger in Ostberlin als in Moskau. In der Sowjetunion nach der Revolution 1917 hatten die Bolschewiki an der Spitze eines armen, von Krieg und Bürgerkrieg verwüsteten, unterentwickelten Agrarlandes eine Mangelwirtschaft zu verwalten, die vom kapitalistischen Ausland sabotiert und isoliert wurde.

Bürokratische Degeneration

Unter diesen Bedingungen eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen, war unmöglich. Bis Mitte der 20er war es auch ein bolschewistischer Grundsatz, dass der Aufbau des Sozialismus nicht in einem Land, sondern nur international, als Föderation zahlreicher größerer und möglichst hochentwickelter Länder erfolgreich sein kann. Bis dahin waren aber die anderen Revolutionen in Europa gescheitert.

Auf dieser Basis der Rückständigkeit des Landes und der Isolation fiel die Revolution einer inneren Degeneration zu Opfer. Die ArbeiterInnen, die in der Revolution die Macht in die eigenen Hände genommen hatten, wurden immer mehr von BürokratInnen, die den Mangel verwalteten, verdrängt. Stalin und seine Clique wurden zu deren politischen Ausdruck und ersetzten die Arbeitermacht durch die absolute Herrschaft der Bürokratie – und zwar in einem grausamen, wie Trotzki es beschrieb, „einseitigen Bürgerkrieg“ in den 1920ern und -30ern. Letztendlich bedeutete dies, dass als einzige Errungenschaft der Oktoberrevolution die neue wirtschaftliche Basis übrigblieb – also die Ersetzung der kapitalistischen durch eine staatlich geplante Wirtschaft.

Aus dem Interesse der Bürokratie fließt auch Stalins Theorie vom „Sozialismus in einem Land“. Ihre Orientierung war klar: Den Staat fest in die Hände bekommen, und dann ungestört als „normaler“ Nationalstaat nicht die kapitalistische Umwelt zu revolutionieren, sondern im Einvernehmen mit dieser eine respektierte Stellung als eine Großmacht unter mehreren einzunehmen.

Neuordnung Deutschlands nach dem zweiten Weltkrieg

Im zweiten Weltkrieg erreichte das einen Höhepunkt. Die sowjetische Führung hatte nicht vor, den Sieg gegen den Faschismus zur Revolutionierung Europas zu nutzen, sondern um in Absprache mit den Westmächten den Machtbereich des sowjetischen Staates auszudehnen. Um dieses Einvernehmen nicht zu gefährden, trugen die von Moskau instruierten kommunistischen Parteien in Frankreich und Italien wesentlich dazu bei, die 1944/45 herrschende revolutionäre Stimmung abzuwürgen und die Bildung neuer bürgerlicher Republiken zu ermöglichen.

In Osteuropa schuf die siegreiche SU Satellitenstaaten nach ihrem eigenen Bild, d.h. dem des deformierten Arbeiterstaates Stalin‘scher Prägung. In Ostdeutschland jedoch war das 1945 ff. gar nicht beabsichtigt. Stattdessen sollte es diplomatischer Joker im Dienst sowjetischer nationaler Sicherheitspolitik sein: Die SU ist bereit, sie an eine gesamtdeutsche bürgerliche Republik abzutreten, wenn diese gesamtdeutsche Republik sich dafür zur Neutralität verpflichtet. Doch das stieß bei den Westalliierten auf taube Ohren. Der letzte Vorstoß war eine Note Stalins von 1952, in der er diesen Gedanken sogar offen aussprach. Als der Westen das ablehnte, sah sich die SU gezwungen, Ostdeutschland zu „behalten“ und in ihr System zu integrieren.

Bis dahin aber war im Land ökonomischer Raubbau getrieben worden. Bis in die 1950er wurden tausende Industrieanlagen als Kriegsreparation demontiert, während die restlichen Betriebe einen beträchtlichen Teil ihrer Produktion abliefern mussten. 1952 war die Produktion der durch den Marshallplan aufgepäppelten Westzonen höher als vor Kriegsausbruch. In der sowjetischen Zone war sie um ein Drittel gefallen. Rohstoffe lieferte die SU Ostdeutschland damals kaum, was die industrielle Produktion weiter drosselte. Verschlimmert wurde die Lage durch Handelsboykotte des Westens.

Wie in der SU, übte in der DDR eine schmale Parteibürokratie eine autoritäre Herrschaft ohne Rechenschaftspflicht ggü. der Bevölkerung oder demokratische Kontrolle aus. Arbeitskämpfe wurden unterbunden, ebenso Meinungsfreiheit und politische Mitsprachemöglichkeiten der ArbeiterInnen. Die nach der Befreiung vom Faschismus weitverbreitete prosozialistische Stimmung, die der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland (SED) zunächst erhebliche Popularität verschafft hatte, verflog unter diesen Umständen bald.

Da brach im Juni 1953 der große ostdeutsche Aufstand aus. In erster Linie war er eine Arbeiterrevolte gegen die deprimierende wirtschaftliche und politische Lage, die sich an der Ankündigung entzündete, das von ihnen verlangte, ohnehin schon enorme Arbeitspensum noch weiter hinaufzuschrauben. Erst nachdem er begonnen hatte, versuchten alle möglichen Reaktionäre sie für ihre Zwecke zu kapern.

Seine Niederwerfung durch sowjetische Truppen ließ von den Sympathien für die SED nicht viel übrig. Der Unmut äußerte sich nun erst recht in Form von Auswanderung in die boomende BRD. Der Massenexodus von WissenschaftlerInnen, IngenieurInnen, ÄrztInnen und LehrerInnen, die von der DDR teuer ausgebildet worden waren und nun die Wirtschaft der BRD aufbauten, wurde zur Bedrohung für den ökonomischen Aufbau der DDR – der die SED 1961 schließlich durch den Bau der Mauer begegnete, wodurch der junge Staat sich zwar wirtschaftlich stabilisieren konnte, in der Achtung seiner BürgerInnen aber noch tiefer sank.

Aufschwung…

Erst unter den Eindrücken großer Aufstände nach dem Tod Stalins änderte die Moskauer Bürokratie ihre Herangehensweise. Nach den Aufständen von 1953 in Ostdeutschland und 1956 in Ungarn und dem Bruch Jugoslawiens mit dem sowjetischen Block erkannte man in Moskau, dass es für die politische Stellung der SU in Europa untragbar war, durch ökonomische Auspressung und erdrückende politische Bevormundung der Satellitenstaaten dort regelmäßige Volksaufstände geradezu zu erzwingen. Man ließ den herrschenden Bürokratien der Satellitenstaaten nun mehr politische Selbstständigkeit und begann andererseits ein wirtschaftliches Subventions- und Aufbauprogramm für sie, um ihre Bevölkerung zu besänftigen und damit die sowjetische Vorherrschaft über diese Länder zu stabilisieren. Die SU begann, die DDR mit genug Rohstoffen zu beliefern, um ihrem industriellen Potenzial zur Entfaltung zu verhelfen.

Ab den 1960er begann der Lebensstandard in der DDR stark anzusteigen. Sie wurde der wohlhabendste Staat des gesamten Ostblocks und erreichte ein BIP/Kopf, das nahe dem Großbritanniens lag. Mit Honeckers Programm der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ wurden Grundbedürfnisse wie Wohnen, Strom, Gas, Heizung, Grundnahrungsmittel und öffentliche Verkehrsmittel zu extrem niedrigen Preisen befriedigt. In der DDR litt niemand mehr Mangel an irgendwelchen grundlegenden Gütern und Dienstleistungen. Die Wohnbauoffensive der 1970er und -80er Jahre, das größte soziale Wohnbauprogramm der deutschen Geschichte, löste die Wohnungsfrage. Obdachlosigkeit und Arbeitslosigkeit gab es nicht.

Dieser materielle Aufschwung ging mit großem kulturellem Fortschritt einher. Kunst und Kultur wurden der Masse der Bevölkerung zugänglich gemacht. Die gesellschaftliche Stellung der ostdeutschen Frauen war besser als irgendwo in der kapitalistischen Welt. Aber die ostdeutsche Bevölkerung verglich ihr Lebensniveau nicht mit dem der SU, Rumäniens oder Polens, sondern mit dem, was sie im Westfernsehen von der BRD sah. Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) war stark dadurch behindert, dass es keine gemeinsame internationale Planwirtschaft gab, die Ressourcen und Arbeitskräfte möglichst rational hätte einsetzen können, sondern lauter Nationalstaaten, die mehr oder weniger autonom wirtschafteten und deren nationale Parteibürokratien jeweils möglichst große Autarkie anstrebten. Statt die Kapazitäten des RGW für eine einheitliche internationale Wirtschaftspolitik und Forschung zu bündeln, mussten die einzelnen Staaten selbst Projekte von höchster Bedeutung isoliert für sich allein stemmen. So versuchte die DDR in ihrem unter hohen Kosten gescheiterten Mikroelektronikprogramm, aus eigener Kraft in der Computertechnik das Niveau des Westens einzuholen.

… und Zusammenbruch

Die DDR bezog aus der Sowjetunion Rohstoffe weit unter Weltmarktpreis zu RGW-Freundschaftspreisen und exportierte dafür Industrieerzeugnisse zum Weltmarktpreis in die Sowjetunion. Dieses System, das der DDR die Sicherstellung eines Lebensstandards nicht dramatisch unter dem der BRD ermöglichte, geriet ab den späten 1970er und frühen -80er Jahren ins Wanken. Die Sowjetunion erhöhte, als in den 70er Jahren der Ölpreis auf dem Weltmarkt explodierte, massiv die Preise für Erdöl auch innerhalb des RGW. Die dadurch gerissenen Lücken im Budget schloss man durch die Aufnahme von Auslandskrediten im kapitalistischen Ausland in untragbarem Maß.

Die SED wehrte sich gegen Gorbatschows Kurs, dessen quasi-Auflösung des RGW die ökonomische Existenzgrundlage der DDR bedrohte. In der ostdeutschen Bevölkerung fanden die politischen Veränderungen in der Sowjetunion allerdings starke Resonanz. Man nahm die Phrasen von Freiheit und Demokratie, mit denen Gorbatschow sein Programm der kapitalistischen Restauration bemäntelte, für bare Münze und forderte ähnliche Reformen für die DDR. In Massendemonstrationen forderten 1989 Millionen Ostdeutsche, frustriert von der sich abzeichnenden wirtschaftlichen Misere und der politischen Unfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit, politische Mitsprachemöglichkeiten und ein Ende des Alleinherrschaftsanspruchs der SED.

Die Proteste trugen anfangs keinen mehrheitlich antikommunistischen Charakter. Was man forderte, war überwiegend eine sozialistische Demokratie, mehr Freiheit innerhalb des Rahmens der DDR. Insbesondere durch das Umwerben der Bewegung aus Bonn und ohne bewusste revolutionäre Alternative, änderten sie aber innerhalb von Wochen ihren Charakter. Aus „Wir sind das Volk“ wurde „Wir sind ein Volk“, aus der Forderung nach sozialistischer Demokratie und Reform der DDR die Forderung nach Anschluss an die BRD. Neben Gorbatschow wurde auf den nun immer stärker nationalistischen Charakter annehmenden Demonstrationen Helmut Kohl gefeiert. Die Vereinigung mit der reichen BRD schien das Zaubermittel zu sein, auf einen Schlag alle politischen wie ökonomischen Probleme zu lösen.

Die SED gab auf und räumte den „Reformern“ das Feld, die das Land innerhalb von weniger als einem Jahr auf den Weg des Anschlusses an die BRD und der vollen kapitalistischen Restauration führten, deren Schrecken den Ostdeutschen jetzt erst klar zu werden begannen. Der ökonomisch erfolgreichste Staat des RGW war am Ende. Die DDR scheiterte letzten Endes daran, dass das gewaltige Potential der Planwirtschaft durch die bürokratische Herrschaft im gesamten Ostblock nicht gehoben werden konnte – und machte so der Katastrophe der kapitalistischen Restauration den Weg frei, die Massenarbeitslosigkeit und Armut für Millionen Menschen bedeutete.

(Funke Nr. 178/8.11.2019)


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