Das vorliegende Dokument wurde 2006 am internationalen Weltkongress der Internationalen Marxistischen Tendenz (IMT) verabschieded. Es soll der Klärung der wichtigsten Fragen über China dienen: Was war der Charakter des maoistischen Regimes? Was waren die Triebkräfte hinter der Wiederherstellung des Kapitalismus? Und vor allen Dingen: Was sind die Entwicklungsperspektiven der neuen "Supermacht China"?
Einleitung
Nach der Russischen Revolution des Oktober 1917 ist die Chinesische Revolution von 1949 das wichtigste Ereignis der Weltgeschichte. Sie führte zur Abschaffung des Großgrundbesitzes und des Kapitalismus und somit zum Ende der imperialistischen Herrschaft auf einem riesigen Gebiet dieser Erde.
Während die Russische Revolution zum Aufbau eines relativ gesunden Arbeiterstaates führte, der von der Arbeiterklasse unter der Führung der Bolschewiki - einer revolutionären Partei mit internationalistischer Perspektive - gebildet wurde, führte die Chinesische Revolution von 1949 unmittelbar zum Aufbau eines stalinistisch deformierten Arbeiterstaates.
Von Beginn an fehlten die grundlegenden Eckpunkte einer Arbeiterdemokratie. Es gab weder Sowjets, noch Arbeiterkontrolle, noch richtige, vom Staat unabhängige Gewerkschaften - und auch keine authentische marxistische Führung. An der Spitze der Revolution standen chinesische StalinistInnen. Nicht auf die städtische Arbeiterklasse stützte sich Mao, sondern auf eine Bauernarmee - dem klassischen Instrument bonapartistischer Herrschaft. Er manövrierte zwischen den Klassen - die Rote Armee diente ihm dabei als Rammbock erst gegen die GrundbesitzerInnen, später auch gegen die KapitalistInnen.
Der Sieg der Chinesischen Revolution war auf der Grundlage einer Reihe besonderer objektiver Umstände möglich geworden. Der wichtigste Faktor dabei war die Unfähigkeit des US-Imperialismus zu intervenieren. Gleichzeitig war es für China unmöglich, sich unter kapitalistischen Rahmenbedingungen und unter dem zutiefst degenerierten bürgerlichen Regime von Tschiang Kai-Schek zu entwickeln. Ein weiterer Faktor war die Existenz eines mächtigen, stalinistisch deformierten Arbeiterstaates in Gestalt der UdSSR an Chinas Grenze.
Mao Tse-tung und die chinesischen StalinistInnen schufen in China einen Staat nach dem Vorbild des stalinistischen Russland - eine monströse bürokratische Karikatur eines Arbeiterstaates; daher begann die Chinesische Revolution von 1949 gerade dort, wo die Russische Revolution geendet hatte.
Vergessen wir nicht: Die Chinesische Revolution schaffte den Kapitalismus in China ab, obwohl die Absichten der KP-Führung zunächst ganz anders gewesen waren. Maos ursprüngliche Perspektive war die einer hundertjährigen kapitalistischen Entwicklungsphase. Er hatte die stalinistische Etappentheorie übernommen, die besagt, dass in einem rückständigen, unterentwickelten Land eine sozialistische Revolution nicht möglich sei, und deshalb die erste Etappe „demokratisch“ sein würde, also bürgerlich-kapitalistisch. Erst wenn sich der Kapitalismus einmal entwickelt hätte, würde auch der Kampf für den Sozialismus möglich sein. Diese Theorie wurde just von jenen Ereignissen widerlegt, die die chinesischen KommunistInnen an die Macht bringen sollten.
In der ersten Etappe bildete Mao eine „Volksfront“ mit einer Reihe von bürgerlichen Parteien. Manche BeobachterInnen erwarteten, dass Mao die Revolution „verraten“ würde, wie es die kommunistischen Parteien in Spanien und anderen Ländern getan hatten. Dort waren die Volkfrontbündnisse dafür benutzt worden, die Bewegung der ArbeiterInnen unter Kontrolle zu bringen. Es gab aber einen grundlegenden Unterschied zum China des Jahres 1949: Dort lag die Staatsmacht in Maos Händen; die „besonderen Formationen bewaffneter Menschen“ (so Friedrich Engels' Definition des Staates) wurden mehr nicht von den Bürgerlichen dirigiert. Die meisten KapitalistInnen waren zusammen mit Tschiang Kai-Schek nach Taiwan geflohen. Es gab eigentlich gar keine eigenständige bürgerliche Klasse mehr, mit denen man ein reales Bündnis hätte eingehen können.
Unter diesen Umständen wurde die Volksfront zu einem Werkzeug, um die städtische Arbeiterklasse zu zügeln. Man wollte sie in den Grenzen dessen halten, was das stalinistische Regime für richtig hielt. Weil es aber keine „fortschrittliche Bourgeoisie“ gab, mit der sie ein „demokratisches“, kapitalistisches China aufbauen konnten und weil die wahre Staatsmacht eben in den Händen der Roten Armee lag, sahen sich die chinesischen StalinistInnen genötigt, die Schalthebel der Wirtschaft zu übernehmen. Sie waren in gewissem Sinne gezwungen, in der geschichtlichen Praxis Leo Trotzkis Theorie der „Permanenten Revolution“ zu bestätigen - wenn auch in einer besonderen Form. Trotzkis Theorie, die er in der Auseinandersetzung mit der russischen Geschichte entwickelt hatte, besagt, dass sich in einem rückständigen Land das Proletariat an die Spitze der Volksbewegung für bürgerlich-demokratische Forderungen stellen muss. Einmal zur Macht gelangt, würde es diese Forderungen aber nur dadurch absichern können, dass es den Kapitalismus abschafft und die Revolution auf andere Länder ausdehnt - also zum Sozialismus fortschreitet.
Trotz der Tatsache, dass die Chinesische Revolution nicht die Form einer proletarischen Revolution annahm, unterstützten die MarxistInnen diese Revolution, weil sie die Produktivkräfte von den Beschränkungen des Kapitalismus und Feudalismus befreite und die Basis für eine Entwicklung der Wirtschaft legte, die anders nicht möglich gewesen wäre. Sie argumentierten aber auch, dass die chinesischen Massen eine zweite, politische Revolution für eine wirklich sozialistische Gesellschaft durchführen müssten.
Das Wachstum der chinesischen Wirtschaft nach 1949 war spektakulär. Es genügt, Chinas Wachstum mit dem von Indien in der Periode von 1949 bis 1979 zu vergleichen. Beide Länder starteten mehr oder weniger auf dem gleichen Niveau, aber das Wachstum Chinas war in dieser Zeitspanne viel größer. Das kann nur durch die Tatsache erklärt werden, dass China über eine zentralisierte, staatlich geplante Wirtschaft verfügte. Auch wenn unter einer echten Arbeiterdemokratie weit mehr möglich gewesen wäre, so war die geplante Wirtschaft unter Mao doch ein riesiger Schritt vorwärts. Das Wachstum der damaligen Zeit stellt die Basis dar, auf die sich das moderne China heute stützt.
Allerdings waren mit der bürokratischen Bevormundung viele Unzulänglichkeiten verbunden. Die chinesische Bürokratie zeichnete sich durch eine engstirnige, nationalistische Auffassung aus - etwas, was allen stalinistischen Regimes gemein war. Wären China und Russland echte Arbeiterstaaten gewesen, sie hätten sich mit den osteuropäischen Staaten zu einer sozialistischen Föderation zusammengeschlossen und einen internationalen Produktionsplan erstellt, um die Arbeitskräfte und die Rohstoffe all dieser Länder rational gemeinsam einzusetzen. Wie die MarxistInnen schon 1949 vorausgesagt hatten, führten die nationalistischen Auffassungen der chinesischen und der sowjetischen Bürokratie schließlich zum offenen Konflikt.
So kam es zur chinesisch-sowjetischen Spaltung von 1960. Die Sowjetbürokratie hatte versucht, China in ihre Einflusssphäre zu bringen. Die chinesische Bürokratie konnte dies nicht hinnehmen. Im Unterschied zu den meisten osteuropäischen Ländern war die KP nicht durch eine Intervention der Roten Armee Stalins an die Macht gekommen. Daher hatte Mao eine gewisse eigene Basis, ähnlich wie Tito in Jugoslawien. Als der Konflikt ausbrach, zogen die russischen StalinistInnen all ihre Hilfe, ihre Fachleute usw. zurück, was einen ernsten Rückschlag für die chinesische Entwicklung bedeutete. Danach schwenkte die chinesische Bürokratie auf den zutiefst reaktionären Kurs der Autarkie um, wodurch sie China vom Rest der Weltwirtschaft und somit auch von der internationalen Arbeitsteilung isolierte.
Mao versuchte ein Ablenkungsmanöver, indem er den „Revisionismus“ der Sowjetbürokratie anprangerte. Er brauchte eine ideologische und theoretische Rechtfertigung für die Spaltung mit der Sowjetunion. Aber im Endeffekt gab es zwischen der chinesischen Bürokratie und ihrem sowjetischen Gegenspieler keinen Unterschied. Auch in China versuchte die Bürokratie ihre eigene Version des „Sozialismus in einem Land“ aufzubauen - ein Vorhaben, das selbst in einem Land von kontinentalem Ausmaß unmöglich ist.
Folglich war das rückständige, isolierte China gezwungen, die Produktion ausgehend von einem sehr niedrigen Niveau und ganz ohne die Hilfe der technischen Errungenschaften der UdSSR weiterzuentwickeln. Das bedeutete, dass die Entwicklung in China sowohl in Hinblick auf menschliche, als auch auf natürliche Ressourcen teuer bezahlt werden musste. Aber trotzdem konnte sich China von einer rückständigen Halbkolonie des Imperialismus zu einer Großmacht entwickeln.
Trotz aller Unzulänglichkeiten konnte die chinesische Bürokratie erreichen, woran die schwache chinesische Bourgeoisie voll und ganz gescheitert war: Es gelang ihr, erstmals eine echte nationale Einheit und einen modernen Staat aufzubauen. Die Agrarrevolution wurde in einem Zug erledigt und die Verstaatlichung der Produktionsmittel legte die Basis für eine noch nie da gewesene Entwicklung der chinesischen Wirtschaft.
Zwischen 1949 und 1957 betrug die jährliche Wachstumsrate der chinesischen Wirtschaft 11% und in der Zeit von 1957 bis 1970 wuchs die industrielle Produktion um 9% - viel stärker als in der kapitalistischen Welt. In derselben Zeit war die Wachstumsrate Indiens nur halb so groß wie jene Chinas. 1952 produzierte China lediglich 1.000 Traktoren pro Jahr, ein Zeichen dafür, dass die Landwirtschaft noch immer sehr primitiv war. Im Jahre 1976 liefen bereits jährlich 190.000 Traktoren vom Band.
All dies wurde erreicht trotz der zahlreichen Abenteuer wie dem „Großen Sprung nach vorn“ ab 1958 und der „Großen Proletarischen Kulturrevolution“ nach 1966. Der „Große Sprung“ war verantwortlich für einen drastischen Einbruch der landwirtschaftlichen Produktion und führte zu einer Hungersnot, die 15 Millionen ChinesInnen das Leben kostete. Zwischen 1967 und 1968 fiel die industrielle Produktion um 15%. Ein starker Rückgang des allgemeinen Lebensstandards war die Folge. Nach diesen zwei großen Zwischenfällen in der ökonomischen Entwicklung erholte sich allerdings die Wirtschaft dank des staatlichen Plans.
Sogar 1974, als der Rest der Welt von der ersten weltweiten Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg erschüttert wurde und die Weltproduktion um 1% sank, wuchs Chinas Wirtschaft um 10%. Das ist nur vergleichbar mit den Erfolgen der UdSSR der 1930er Jahre und zeigt die Vorteile einer geplanten, verstaatlichten Wirtschaft.
All dies sollte die chinesische Gesellschaft verändern und sie ins 20. Jahrhundert katapultieren. Vor 1949 lag die Analphabetenquote in China bei 80%. 1975 gingen 93% aller Kinder zur Schule. Es gab eine enorme Verbesserung in den Bereichen Krankenversorgung, Wohnen etc. Die schreckliche Armut, die vor der Revolution existierte, wurde ausgelöscht; es kam zu einer generellen Hebung des Lebensstandards und einer Reihe wichtiger sozialer Verbesserungen. Die Lebenserwartung lag 1945 bei 40 Jahren, 1970 hatte sie mit 70 Jahren annähernd das Niveau der meisten entwickelten, kapitalistischen Länder erreicht. Auch die Lage der Frauen hat sich enorm verbessert, wie das Beispiel der Abschaffung des Bandagierens der weiblichen Füße und andere Reformen zeigen.
Trotzki über die Bürokratie
Trotz der großen wirtschaftlichen Erfolge war die Bürokratie allerdings keine historisch notwendige soziale Schicht für die Entwicklung der chinesischen Wirtschaft. Es brauchte keine Bürokratie, damit die Planwirtschaft funktionieren konnte. Im Gegenteil, der Plan funktionierte trotz der Bürokratie. In einer Sammlung von Trotzkis Artikeln und Briefen, die unter dem Namen In Verteidigung des Marxismus veröffentlicht wurden, finden wir einen im Oktober 1939 erschienenen Text, in dem steht:
„Wenn das bonapartistische Gesindel eine Klasse ist, dann bedeutet das, dass es keine Fehlgeburt, sondern ein lebensfähiges Kind der Geschichte ist. Wenn sein plünderndes Schmarotzertum ‚Ausbeutung' im wissenschaftlichen Sinne ist, dann bedeutet das, dass die Bürokratie eine historische Zukunft hat, als die herrschende Klasse, die unentbehrlich ist für das gegebene Wirtschaftssystem.“
Trotzki hingegen sagte voraus, dass der Bürokratie keine historische Zukunft beschieden wäre. Sie wurde aus dem Niedergang der Revolution geboren, unter den Bedingungen extremer Rückständigkeit und Isolation. Das chinesische Regime wurde nach dem Modell des stalinistischen Russland gebildet. Die chinesische Bürokratie spielte dieselbe Rolle wie ihre sowjetische Zwillingsschwester.
Trotz aller Rhetorik gab es große soziale Privilegien und Ungleichheiten in der chinesischen Gesellschaft. So bekam zum Beispiel ein/e ArbeiterIn im Jahre 1976 für 48 Stunden Arbeit pro Woche monatlich 12 Dollar. ExpertInnen verdienten dagegen 120 Dollar und mehr. Das ist eine Spanne von 10:1.
In der UdSSR akzeptierte Lenin eine Spanne von 4:1 - ein „bürgerlicher Kompromiss“ wie er es nannte - um die Wirtschaft anzukurbeln. Dies war jedoch nur als zeitlich befristete Maßnahme gedacht. Die Bolschewiki hatten eine internationalistische Perspektive und sahen den einzigen Ausweg in der Weltrevolution. Sie erwarteten, dass nach einem erfolgreichen Sturz des Kapitalismus in den entwickelten Ländern eine harmonische Entwicklung der Wirtschaft möglich würde, weil dann die moderne Technologie dieser Länder für das rückständige Russland zur Verfügung stehen würde. Unglücklicherweise wurde die Revolution in einem Land nach dem anderen niedergeschlagen und Russland noch mehr isoliert, was den Prozess der bürokratischen Degeneration endgültig besiegelte.
Die chinesische Bürokratie betrachtete die Frage der Lohnunterschiede ganz anders. Diese wurden nicht als temporäres Zugeständnis angesehen, die durch die Isolation der Revolution und die unterentwickelte Wirtschaft verursacht wurde. Der Bürokratie ging es vielmehr von Anfang an um die Konsolidierung ihres Reichtums und ihrer Privilegien. Die BürokratInnen lebten beträchtlich über dem Niveau der durchschnittlichen ArbeiterInnen. Unter solchen Bedingungen blieb die Restaurierung des Kapitalismus weiterhin möglich.
Solange die geplante Wirtschaft ihr Macht, Einkommen, Privilegien und Prestige garantierte, verteidigte die Bürokratie die Eigentumsverhältnisse. Doch wie es Trotzki für die Sowjetunion vorhergesagt hatte, würde sich die Bürokratie nicht lange damit zufrieden geben, von den Privilegien zu profitieren, die ihr die verwaltende Tätigkeit in der Gesellschaft bot. Sie würde ihre Vorrechte auch an ihre Kinder weitervererben wollen. Um dies zu ermöglichen, mussten sich die Eigentumsverhältnisse verändern. Er erklärte im neunten Kapitel der Verratenen Revolution:
„Nehmen wir jedoch an, dass weder die revolutionäre noch die konterrevolutionäre Partei die Macht erobert und die Bürokratie nach wie vor an der Spitze des Staates bliebe. Die sozialen Beziehungen werden auch unter diesen Bedingungen nicht gerinnen. Keinesfalls kann man damit rechnen, dass die Bürokratie friedlich und freiwillig zum Besten der sozialistischen Gleichheit ihrer selbst entsage. Hält sie augenblicklich trotz der sehr deutlichen Nachteile einer solchen Maßnahme es für möglich, Titel und Orden wiedereinzuführen, so wird sie sich auf einer weiteren Stufe unvermeidlich nach Stützen in den Besitzverhältnissen umsehen müssen. Man mag einwenden, es sei dem großen Bürokraten gleichgültig, welche Eigentumsformen vorherrschen, wenn sie ihm nur das nötige Einkommen garantieren. Dieser Einwand übersieht nicht nur, wie unsicher die Rechte der Bürokratie sind, sondern auch, welches das Schicksal der Nachkommenschaft sein soll. Der neuerstandene Familienkult fiel nicht vom Himmel. Die Privilegien sind nur halb soviel wert, wenn man sie nicht den Kindern vermachen kann. Doch das Vererbungsrecht ist vom Eigentumsrecht nicht zu trennen. Es genügt nicht DirektorIn eines Trusts zu sein - man muss TeilhaberIn sein. Ein Sieg der Bürokratie auf diesem entscheidenden Gebiet würde bedeuten, dass sie sich in eine neue besitzende Klasse verwandelt hat.“
Und weiter:
„Das Sowjetregime als Übergangs- oder Zwischenregime zu bezeichnen, heißt, abgeschlossene soziale Kategorien wie Kapitalismus (darunter den „Staatskapitalismus“) oder auch Sozialismus ausschalten. Aber diese an sich schon ganz ungenügende Bezeichnung kann sogar die falsche Vorstellung erwecken, als sei vom heutigen Sowjetregime ein Übergang nur zum Sozialismus möglich. Tatsächlich ist auch ein Zurückgleiten zum Kapitalismus durchaus möglich. Eine vollständigere Definition würde notwendigerweise komplizierter und schwerfälliger sein.“ [Hervorhebung d. Redaktion]
„Die UdSSR ist eine zwischen Kapitalismus und Sozialismus stehende, widerspruchsvolle Gesellschaft, in der a) die Produktivkräfte noch längst nicht ausreichen, um dem staatlichen Eigentum sozialistischen Charakter zu verleihen, b) das aus Not geborene Streben nach ursprünglicher Akkumulation allenthalben durch die Poren der Planwirtschaft dringt, c) die bürgerlich bleibenden Verteilungsnormen einer neuen Differenzierung der Gesellschaft zugrunde liegen, d) der Wirtschaftsaufschwung die Lage der Werktätigen langsam bessert und die rasche Herausschälung einer privilegierten Schicht fördert, e) die Bürokratie unter Ausnutzung der sozialen Gegensätze zu einer unkontrollierten und dem Sozialismus fremden Kaste wurde, f) die von der herrschenden Partei verratene soziale Umwälzung in den Eigentumsverhältnissen und dem Bewusstsein der Werktätigen noch fortlebt, g) die Weiterentwicklung der angehäuften Gegensätze sowohl zum Sozialismus hin als auch zum Kapitalismus zurückführen kann, h) auf dem Wege zum Kapitalismus eine Konterrevolution den Widerstand der Arbeiter brechen müsste, i) auf dem Wege zum Sozialismus die Arbeiter die Bürokratie stürzen müssten. Letzten Endes wird die Frage sowohl auf nationaler wie internationaler Arena durch den Kampf der lebendigen sozialen Kräfte entschieden werden.“ [Hervorhebung d. Redaktion]
„Doktrinäre werden zweifellos mit solchen fakultativen Bestimmungen nicht zufrieden sein. Sie möchten kategorische Formulierungen: „Ja“ oder „Nein“. Die soziologischen Probleme würden ohne Zweifel einfacher aussehen, wenn die sozialen Erscheinungen immer vollendet wären. Nichts ist jedoch gefährlicher, als auf der Suche nach logischer Vollendung aus der Wirklichkeit die Elemente auszumerzen, die bereits heute das Schema verletzen, es morgen aber vollends über den Haufen werfen können. In unserer Analyse hüten wir uns am meisten davor, der Dynamik des gesellschaftlichen Werdens, das keine Vorläufer und keine Analogien kennt, Gewalt anzutun. Die wissenschaftliche wie die politische Aufgabe besteht nicht darin, einen unvollendeten Prozess mit einer vollendeten Definition zu versehen, sondern darin, ihn in all seinen Etappen zu verfolgen, seine fortschrittlichen und reaktionären Tendenzen herauszuschälen, deren Wechselwirkung aufzuzeigen, die möglichen Entwicklungsvarianten vorauszusehen und in dieser Voraussicht eine Stütze fürs Handeln zu finden.“
Wie wir sehen können, war in Trotzkis Perspektiven die Möglichkeit einer Rückkehr zum Kapitalismus klar vorhanden. Er zeigte auf, dass eine staatlich geplante Wirtschaft in den Händen einer solchen Bürokratie nicht sicher war, und dass diese Situation die Gefahr einer kapitalistischen Restauration in sich barg.
Ein deformierter Arbeiterstaat ist per Definition eine Übergangsgesellschaft zwischen Kapitalismus und Sozialismus, die entweder durch eine politische Revolution überwunden wird oder zum Kapitalismus zurückkehrt. Historisch trat sie zum ersten Mal bei der Degeneration der Russischen Revolution in Erscheinung. Es handelt sich um eine unnötige Phase in der Entwicklung der Produktivkräfte. Es war keine unvermeidliche oder notwendige soziale Formation. Hätte sich die Russische Revolution in den 1920er Jahren auf die entwickelten Länder ausgeweitet, hätte es nie einen Stalinismus gegeben.
Trotz seiner Begrenzungen schaffte es dieses Regime allerdings, die Produktionsmittel in einem erstaunlichen Ausmaß zu entwickeln; in diesem Sinne war es fortschrittlich. Diese ökonomischen Erfolge wurden ermöglicht durch das staatliche Eigentum an den Produktionsmitteln und die geplante Wirtschaft. Trotzki analysierte das in der Verratenen Revolution und machte eine Vorhersage: Solange dieses Regime die Wirtschaft eines rückständigen Landes entwickeln könne, würde es einen gewissen Erfolg haben. Aber je ausgeklügelter die Wirtschaft werde, desto mehr würde die Bürokratie zu einer Fessel für ihre Entwicklung.
Als die Wirtschaft wuchs, begann die Bürokratie einen immer größeren Teil des Wohlstands für sich zu beanspruchen. Damit einher gingen Verschwendung und Korruption. Wichtiger noch: Die immer komplexer werdende Wirtschaft erwies sich als nicht mit der bürokratischen Kommandostruktur vereinbar. Die Bürokratie wurde so von einer relativen Fessel der Entwicklung der Produktivkräfte zu einer absoluten Schranke.
Trotzki hatte besonderen Wert auf die Frage der Produktivität gelegt. Wie wir sehen werden, wurde diese Frage zum Schlüssel für das Verständnis warum und wie das stalinistische System in Osteuropa und der Sowjetunion kollabierte. Trotzki schrieb im ersten Kapitel der Verratenen Revolution:
„Die dynamischen Kennziffern der Sowjetindustrie stehen beispiellos da. Aber sie sind weit davon entfernt, endgültig zu sein. Die Sowjetunion steigt von einem äußerst niedrigen Niveau empor, während die kapitalistischen Länder von einem sehr hohen Niveau herabgleiten. Das Kräfteverhältnis ist gegenwärtig nicht durch die Wachstumsdynamik bestimmt, sondern durch die Konstellation der Gesamtstärken beider Lager, wie sie sich in der Anhäufung materieller Vorräte, in der Technik, der Kultur, und vor allem in der Produktivität der menschlichen Arbeit äußern. Sobald wir an die Sache vom statischen Gesichtspunkt herangehen, ändert sich die Lage sofort ungemein zuungunsten der UdSSR.“
Er fügte folgenden ausschlaggebenden Punkt hinzu:
„Aber auf der Weltebene stellt sich der UdSSR die Frage - Wer soll sich durchsetzen? - und zwar nicht nur als militärische, sondern umso mehr als wirtschaftliche Frage. Die Militärintervention ist gefährlich. Die Intervention billiger Waren im Gefolge einer kapitalistischen Armee wäre weitaus gefährlicher.“ (Verratene Revolution, Kapitel 9)
Trotzki schrieb schon im August 1925 eine sehr klare und weitsichtige Analyse über den jungen Sowjetstaat Wohin geht Russland?, die später unter dem Titel Zwischen Kapitalismus und Sozialismus bekannt wurde. In diesem Werk stellt Trotzki ganz offen die Frage: „Was ist unsere Wachstumsrate, wenn man sie vom Standpunkt der Weltwirtschaft aus betrachtet?“ Und er beantwortet seine eigene Frage folgendermaßen:
„Gerade wegen unseres Erfolgs gliederten wir uns in die Weltwirtschaft ein. Das heißt, wir sind in das System der universellen Arbeitsteilung eingetreten. Und gleichzeitig sind wir vom Kapitalismus umzingelt geblieben. Unter diesen Bedingungen wird die Wachstumsrate die Stärke unseres Widerstandes gegen den wirtschaftlichen Druck des Weltkapitalismus und gegen den militärisch-politischen Druck des Weltimperialismus bestimmen.“ (The Challenge of the Left Opposition - 1923-25, Pathfinder, 1975, S.330; eigene Übersetzung)
Trotzki legte 1925 großen Wert auf die Wachstumsraten der Sowjetwirtschaft. Er betonte, dass „die Rate des Fortschritts das entscheidende Element“ sei, und fügte hinzu:
„Es ist ganz klar, dass, wenn wir ein Teil des Weltmarktes werden, nicht nur unsere Perspektiven, sondern auch die Gefahren wachsen werden. Deren Quelle, wie für so vieles, ist auch hier die verstreute Struktur unserer Bauernwirtschaft, unsere technologische Rückständigkeit und die momentane produktive Übermacht des Weltkapitalismus im Vergleich zu uns...“ (ebenda, S.244)
„Die fundamentale wirtschaftliche Überlegenheit der bürgerlichen Staaten besteht in der Tatsache, dass der Kapitalismus jetzt noch immer billigere und bessere Güter produziert als der Sozialismus. Mit anderen Worten, die Produktivität der Arbeit in Ländern, die noch immer mit dem Gesetz der Trägheit der alten kapitalistischen Zivilisation leben, ist derzeit immer noch beträchtlich höher als in dem Land, das beginnt, sozialistische Methoden unter den Bedingungen der vererbten Barbarei anzuwenden.“
„Wir werden mit dem fundamentalen Gesetz der Geschichte bekannt gemacht: Der Sieg fällt letztlich dem System zu, das die menschliche Gesellschaft mit dem höheren wirtschaftlichen Niveau versorgen kann.“
„Der historische Streit wird entschieden werden - und sicherlich nicht auf einmal - von den vergleichbaren Koeffizienten der Arbeitsproduktivität.“ (ebenda, S.345)
Was Trotzki hier sagt, ist wichtig für das Verständnis dessen, was sich Jahrzehnte später in den ehemaligen stalinistischen Ländern ereignen sollte. Obwohl die geplante Wirtschaft der Sowjetunion einen unglaublichen Fortschritt bei der Entwicklung der Produktionsmittel möglich machte, lag ihre Produktivität noch immer weit hinter jener der kapitalistischen Länder. Aber solange die Bürokratie die Produktivkräfte entwickeln konnte, war eine relative Stabilität des stalinistischen Regimes garantiert. In der Tat wurden in den 1930er Jahren die Produktivkräfte nicht nur entwickelt, sondern dies geschah auch viel rascher als in den kapitalistischen Ländern. Das erklärt einerseits die Belastbarkeit des stalinistischen Regimes in dieser Periode und andererseits, warum die pro-kapitalistischen Kräfte in der Bürokratie sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu einer lebendigen Kraft entwickeln konnten.
Trotzki meinte, dass an einem bestimmten Punkt die Bürokratie von einer relativen zu einer absoluten Fessel der Entwicklung der Produktivkräfte werden würde. Die Wachstumsrate würde sich verlangsamen und das würde die Möglichkeit der kapitalistischen Restaurierung wiedereröffnen.
Einmal an diesem Punkt angekommen, gibt es laut Trotzki zwei Möglichkeiten: Entweder stürzen die ArbeiterInnen die Bürokratie und verteidigen die Planwirtschaft mittels demokratischer Arbeiterkontrolle und Arbeitermanagement der Produktion, oder aber es kommt zu einer konterrevolutionären Rückkehr zum Kapitalismus.
Die Geschichte hat uns gezeigt, dass Letzteres das Schicksal dieser Regime sein sollte. In Russland und Osteuropa steckte das System seit den 1970ern in der Krise. Es brach zusammen als klar wurde, dass es die Wirtschaft nicht mehr würde weiterentwickeln können. In Russland kollabierte das System ziemlich schnell und es brauchte mehrere Jahre, bevor sich die Wirtschaft wieder endgültig stabilisieren konnte, um sich von Neuem auf kapitalistischer Grundlage zu entwickeln.
Die chinesische Bürokratie zieht ihre Lehren
In China haben sich die Dinge etwas anders entwickelt. Die chinesische Bürokratie verfolgte die Ereignisse in Russland sehr genau. Jener Flügel der Bürokratie, den Deng repräsentierte, zog seine Schlüsse aus den russischen Erfahrungen einerseits, und seiner eigenen Vergangenheit andererseits. China war trotz seines kontinentalen Ausmaßes und der großen Zahl seiner Bevölkerung unfähig, sich abgeschottet von der Weltwirtschaft zu entwickeln. Der „Sozialismus in einem Lande“ hatte Schiffbruch erlitten. Das autarke Regime, das die Bürokratie unter Mao versucht hatte zu errichten, stieß schließlich an seine eigenen Grenzen.
Der Flügel rund um Deng beobachtete Russland und Osteuropa - wie sie in die Krise gerieten, die tumultartigen Ereignisse von 1989-1991, in denen ein Regime nach dem anderen unterging und der Übergang zum Kapitalismus eingeleitet wurde. Sie sahen wie der allmächtige russische bürokratische Monolith wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel. In allen ehemaligen stalinistischen Ländern Osteuropas und der Sowjetunion - und vor allem dort - wurde die Wirtschaft durch die riesige Zerstörung der Produktivkräfte weit zurückgeworfen. Die Bürokratie verlor dabei die Kontrolle über den ganzen Prozess. Es brauchte einige Zeit, bis sich die Wirtschaft stabilisierte und wieder zu wachsen begann. Anhand dieser Ereignisse konnte die chinesische Bürokratie ihre eigene mögliche Zukunft erahnen. Daher zog sie daraus den Schluss, dass sie eine solche Entwicklung in China nicht zulassen dürfte. Dafür war ein Richtungswechsel notwendig, um einen vergleichbaren Zusammenbruch in ihrem eigenen Land zu vermeiden.
Zur gleichen Zeit bewiesen die Ereignisse rund um den „Platz des Himmlischen Friedens“ (Tienanmen), dass die chinesische Bürokratie ein ähnliches Schicksal ereilen könnte. Diese Erfahrung - gepaart mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion - hinterließ tiefe Spuren im Denken der chinesischen Bürokratie. In der ersten Phase hatte man sich der Marktmechanismen bedient, um die Produktivität zu erhöhen, während man gleichzeitig das Prinzip der Vorherrschaft des staatlichen Sektors verteidigte. Nun beschleunigte man unter dem Druck der Ereignisse diesen Prozess, sodass wir heute an einem Punkt angekommen sind, an dem der Privatsektor die vorherrschende Stellung einnimmt.
Ähnlich wie in der Sowjetunion wuchs im China Maos zusammen mit dem Sozialprodukt auch der Appetit der BürokratInnen, während sich gleichzeitig der Mangel an Koordination zwischen den verschiedenen Sektoren der Wirtschaft verstärkte. Dies erklärt solche Phänomene wie den „Großen Sprung nach vorn“ und die „Kulturrevolution“. Mao versuchte die Wirtschaft mit diesen Methoden vorwärts zu treiben, während er die übermäßigen Ansprüche der Bürokratie zu beschneiden suchte, welche die Stabilität des gesamten Systems bedrohten.
Die Auswüchse der Forderungen einzelner Teile der Bürokratie können die Interessen der bürokratischen Kaste als Ganzes gefährden. In diesem Sinn glich die Situation jener in den 1930ern, als sich Stalin gegen Elemente innerhalb der Bürokratie wandte - immer mit dem Ziel, die Stabilität des Regimes zu bewahren. Stalin ließ sogar BürokratInnen erschießen, um dem korruptesten Flügel einen Schlag zu verpassen und so das bürokratische Ganze zu retten. In der „Kulturrevolution“ finden sich Ansätze einer ähnlichen Herangehensweise, als eine Schicht der chinesischen Bürokratie attackiert wurde. Mao startete einen demagogischen Angriff auf „jene, die den kapitalistischen Weg gehen“, um seine eigene Position zu festigen. Er versuchte die extremsten Auswüchse der Korruption einzudämmen, die das gesamte System unterminierten.
Dem Wesen nach war die „Kulturrevolution“ nicht, wie so manche im Westen behaupteten, eine Bewegung von ArbeiterInnen und Jugendlichen, die den BürokratInnen ihren Willen aufzwingen wollten. Ernest Mandel und Konsorten verglichen die „Kulturrevolution“ mit der Pariser Kommune - und bewiesen so ihre absolute Unfähigkeit zu verstehen, was sich wirklich abspielte. Sie verwechselten eine Bewegung, die von einem Flügel der chinesischen Bürokratie gegen einen anderen entfesselt worden war, mit einer echten Aufstandsbewegung wie jener der Pariser ArbeiterInnen des Jahres 1871. Sie verstanden nicht, dass die „Kulturrevolution“ immer von oben her, von Mao als letztem Schiedsrichter, kontrolliert wurde. Wie wir bereits ausgeführt haben, haben die Methoden Maos, weit davon entfernt die Wirtschaft weiterzuentwickeln, nur riesige Erschütterungen und Chaos hervorgerufen. Drei Jahre lang gab es einen fast vollständigen Zusammenbruch sowohl der landwirtschaftlichen als auch der industriellen Produktion. Alle Schulen und Universitäten waren geschlossen. Der von Deng Xiaoping geführte Flügel war schockiert und begann, seine eigenen Schlüsse aus diesen Erfahrungen zu ziehen.
Eine geplante Wirtschaft kann nur dann effizient arbeiten, wenn sie auf allen Ebenen der Kontrolle der Arbeiterklasse unterworfen ist. Der Plan muss auf allen Ebenen von den ArbeiterInnen diskutiert werden. Die ArbeiterInnen, die gleichzeitig auch die KonsumentInnen sind, haben ein materielles Interesse daran, dass der Plan auf allen Ebenen effizient umgesetzt wird. Der/die BürokratIn ist nur daran interessiert, seine/ihre Mengenvorgaben zu erfüllen, um seine/ihre Zuschlagszahlungen zu kassieren - unabhängig von der Qualität oder davon, ob die Herstellung des Produkts im richtigen Verhältnis zur restlichen Produktion steht. Darüber hinaus kann eine zentralisierte Bürokratie nicht über alle Aspekte der Produktion entscheiden. Große Verzerrungen und Ineffizienzen müssen entstehen, wenn alles von einer bürokratischen Zentralstelle abhängt. Der Gesamtplan muss auf allen Ebenen von den ArbeiterInnen kontrolliert werden. Das ist der Grund dafür, warum der „Große Sprung nach vorn“ und die „Kulturrevolution“ scheitern mussten: Man kann die Bürokratie nicht mit bürokratischen Mitteln bekämpfen. Und so waren diese beiden Episoden letztlich nur ein weiterer Beweis dafür, welch Probleme durch die Herrschaft der Bürokratie hervorgerufen werden.
Was während der „Kulturrevolution“ passierte, ist entscheidend für das Verständnis der weiteren Entwicklung unter Deng. Die maoistische Bürokratie hatte sich auf die Massen gestützt, um Schläge gegen einen Teil der Bürokratie zu führen. Auf bonapartistische Art und Weise setzte sie dabei Kräfte tief aus dem Inneren der Gesellschaft frei - darin bestand aber auch eine Gefahr. Die Massen zu sehr gewähren zu lassen - das bedeutete den möglichen Machtverlust der Bürokratie. Als die Auswüchse des einen Flügels der Bürokratie einmal unter Kontrolle gebracht waren, gingen Mao und seine AnhängerInnen gegen die gleiche Bewegung vor, die sie entfesselt hatten und brachten die Situation 1969 wieder unter Kontrolle. Aus dem Hauptslogan „Die Massen haben Recht; was die Leute sagen, stimmt“ wurde „Richtig ist, was Mao denkt“.
Indem man gegen die Massenbewegung vorging, verlagerte sich das Kräfteverhältnis auf die Seite des pro-kapitalistischen Flügels. Mao hatte allen Grund, sich vor den Massen in Acht zu nehmen. Es hatte verschiedene Streikwellen und Bewegungen von unten gegeben - die letzten davon 1966-67 und 1976, als es einen Aufschwung der Arbeiterorganisationen gab, die Lohnforderungen aufstellten und ihren Unmut über die Arbeitsbedingungen zum Ausdruck brachten. Wir können hier die Tendenz der Arbeiterklasse beobachten, über die von der Bürokratie gesetzten Grenzen hinauszugehen. Die maoistische Bürokratie konnte bei der Verteidigung des Wirtschaftsplans aber niemals so weit gehen, die ArbeiterInnen an die Macht zu lassen. Das hätte den Verlust ihrer Privilegien bedeutet.
Gleichzeitig war man noch immer mit dem Problem konfrontiert, die Wirtschaft weiterzuentwickeln. Von einem wirklich marxistischen Standpunkt aus betrachtet wäre die einzige Lösung die Einführung einer echten Arbeiterdemokratie gewesen - was natürlich das Letzte war, was der Bürokratie in den Sinn gekommen wäre. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Flügel, der die Planwirtschaft verteidigte, dies aus Eigennutz tat, um seine eigenen Privilegien zu erhalten. Trotzki analysiert diese Situation in seinem Buch In Verteidigung des Marxismus: „Die Bürokratie ist zuerst einmal an ihrer Macht, ihrem Prestige, ihren Einkünften interessiert. Sie verteidigt sich selbst viel besser als sie die UdSSR verteidigt. Sie verteidigt sich auf Kosten der UdSSR und auf Kosten des Weltproletariats.“ Dies ist das Wesen der Bürokratie.
Eine breite Schicht der Bürokratie atmete auf, als die „Kulturrevolution“ beendet wurde - sie wollte zur Stabilität zurückkehren und ihre Privilegien innerhalb des Systems genießen. Es ist klar, dass es bereits damals einen Flügel innerhalb der Bürokratie gab, der an die Einführung von marktwirtschaftlichen Anreizen dachte.
Das Ende der Mao-Ära
Nach dem Tod Maos ging der Flügel derjenigen, „die den kapitalistischen Weg gehen“ zur Offensive über. Er warf die Frage nach dem Markt auf, dem Weltmarkt. Tatsächlich hatten Deng Xiaoping und die anderen nicht Unrecht damit, wenn sie es für unmöglich hielten, China von der Weltwirtschaft abschotten zu können. Sie verlangten, dass das Land am Weltmarkt teilnehmen sollte. Das war die ursprüngliche Idee. Gibt es keine Arbeiterdemokratie, kann der Markt als grober Kontrollmechanismus dienen, um schlechtes Management und Ineffizienzen zu bekämpfen.
Unter den Bedingungen, die im China der 1970er Jahre vorherrschten, hätte selbst eine revolutionäre marxistische Partei eine Art NÖP nicht ausgeschlossen, wie es auch die Bolschewiki in den frühen 1920ern getan hatten. Solange die Hauptpfeiler der Wirtschaft unter der Kontrolle des staatlichen Plans stehen, können diese Methoden angewandt werden, um die Wirtschaft in einem isolierten Arbeiterstaat zu entwickeln.
Lenin hatte etwas Ähnliches im Sinn, als er den westlichen KapitalistInnen Konzessionen im rohstoffreichen, aber wirtschaftlich unterentwickelten Sibirien anbot. Der junge, schwache Arbeiterstaat hatte nicht die erforderlichen Mittel, um dieses Gebiet aus eigener Kraft zu entwickeln. Die einzige Möglichkeit die erforderlichen Investitionen zu bekommen, bestand für Lenin gerade darin, Konzessionen ans Auslandskapital zu vergeben. Die Idee war, durch die Zusicherung der Profite an die KapitalistInnen die Region zu entwickeln und neue Produktionsmittel, Know-how usw. zu erhalten. Dies würde der Revolution letztlich dienlich sein.
Im Jahre 1918 führt Lenin in seiner Schrift Über ‚linke' Kindereien und über Kleinbürgerlichkeit aus: „Wir, die Partei des Proletariats, können keinen anderen Weg gehen, als die Fähigkeit, die Großproduktion in Form von Trusts zu organisieren, von den besten kapitalistischen Experten zu übernehmen.“ Im Folgejahr legte er im Rat der Volkskommissare eine Resolution vor, in der es hieß: „Der Rat der Volkskommissare betrachtet eine Konzession an die Vertreter des Auslandskapitals im Interesse der Entwicklung der Produktivkräfte des Landes als generell, in prinzipieller Hinsicht zulässig...“ Der Unterschied bestand natürlich darin, dass es 1918-19 keinen Zweifel über den Charakter der Sowjetunion geben konnte. Es war ein gesunder - oder zumindest ein relativ gesunder - Arbeiterstaat, in dem solche Konzessionen dafür verwendet wurden, um den Arbeiterstaat zu stärken, nicht um ihn zu schwächen.
Wir müssen uns auch in Erinnerung rufen, dass es die Verzögerung der Weltrevolution war, die die Bolschewiki dazu zwang, solche Kompromisse einzugehen. Diese waren solange akzeptabel, als die Staatsmacht in der Hand der Arbeiterklasse lag und dieser Staat die Kontrolle über die Kommandohöhen der Wirtschaft behielt. Das Problem bestand allerdings darin, dass die ausländischen KapitalistInnen - weit davon entfernt, wirtschaftliche Abkommen mit Sowjetrussland im Jahr 1921 zu schließen - den Staat zerstören wollten. Bei der chinesischen Bürokratie lagen die Dinge anders. Mit dieser privilegierten Schicht konnte man Geschäfte machen. Selbst der erzreaktionäre Nixon hatte kein Problem damit, mit der chinesischen Bürokratie Übereinkünfte zu erzielen.
Nach dem Tod Maos gewann die Idee, das Land dem ausländischen Investmentkapital zu öffnen, innerhalb der Bürokratie an Zulauf. Deng Xiaoping war ihre Personifikation. Der Großteil der Bürokratie hatten den Schluss gezogen, dass die Strategie der Autarkie gescheitert sei. China würde sich nicht isoliert entwickeln können.
Deng war Generalsekretär der Partei gewesen, war aber während der „Kulturrevolution“ abgesetzt worden. 1974 war er erneut Mitglied des Politbüros. Bevor er noch einmal alle Positionen verlieren sollte, war Deng nicht nur Premierminister, sondern auch Vizepräsident der Partei und Chef des Obersten Militärstabs, Chinas zweiter Mann nach Mao. Trotz seiner hohen Positionen wurde er als „Monster“ und als Führungsfigur einer konterrevolutionären Verschwörung, die eine „kapitalistische Politik“ verfolgte, denunziert. Bedeutend dabei war, dass er seine Parteimitgliedschaft nicht verlor. Normalerweise wurde jeder, der beim „Großen Führer“ in Ungnade gefallen war, ausgeschlossen - oder es drohte Schlimmeres. Deng aber blieb diesbezüglich unbehelligt, weil er auf große Unterstützung innerhalb der Bürokratie zählen konnte. Rückblickend könnten wir sogar sagen, dass die Mehrheit auf der Seite von Deng stand, sich aber auf Grund der Position Maos bedeckt hielt.
Diese weitverbreitete Unterstützung Dengs innerhalb der Bürokratie wurde nach dem Tode Maos bestätigt. Die „Viererbande“, u.a. Maos Witwe, spielte mit dem Gedanken, die „Kulturrevolution“ fortzusetzen. Doch waren die tatsächlichen Absichten des vorherrschenden Flügels ganz andere. Die „Viererbande“ wurde am 6. Oktober 1976 verhaftet und sollte nie wieder an die Macht gelangen. Deng dagegen ging 1978 als Führer der Partei hervor.
In dieser Zeit liegen die Wurzeln der heutigen Situation. Die Debatte innerhalb der Kommunistischen Partei über die Öffnung der Wirtschaft für ausländische Investitionen begann 1977-78. Der Deng-Flügel wartete mit dem Begriff des „Marktsozialismus“ auf. Das Hauptargument war, dass Mao die Wirtschaft in einem Zustand des Chaos hinterlassen hatte. Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, denn trotz aller Turbolenzen war die Wirtschaft 25 Jahre lang ziemlich schnell gewachsen.
Es stimmt aber, dass das System an seine Grenzen stieß, je umfangreicher die bürokratische Kommandowirtschaft wurde. Genau wie in der Sowjetunion gab es Koordinationsprobleme zwischen den verschiedenen Sektoren, Ungleichgewichte, was die Investitionen in die verschiedenen Wirtschaftsbereiche anbelangte - mit Überproduktion gewisser Güter einerseits und Unterproduktion andererseits. Korruption, Sabotage, Verschwendung und Chaos herrschten im großen Stil. Die Produktivität in der Industrie ging zurück. Es kamen inflationäre Tendenzen auf, es herrschten Knappheit an Konsumgütern und gesellschaftliche Unzufriedenheit machte sich breit.
Dies begann sich in den Forderungen der zunehmend unruhig werdenden ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen niederzuschlagen. Alle Probleme hätten sich durch die Einführung einer echten Arbeiterdemokratie, der Arbeiterkontrolle und dem Arbeitermanagement der Wirtschaft lösen lassen - aber das hätte einer politischen Revolution bedurft; die Bürokratie hätte von der Macht vertrieben werden müssen. Aber die Bürokratie war nicht bereit, diese Macht abzugeben. Dengs Flügel war der Ansicht, dass für die Entwicklung der Produktivkräfte und die Verbesserung der Produktivität marktwirtschaftliche Anreize notwendig wären.
Obwohl sie bereits Staaten wie Großbritannien in absoluten Produktionszahlen gemessen übertrafen, lagen sowohl China als auch Russland in ihrer Produktivität weit hinter dem kapitalistischen Westen zurück. In Russland war die Krise durch die Verlangsamung des Wachstums offensichtlich geworden. In China hingegen drängte der Deng-Flügel auf die Einführung der fortgeschrittensten neuen Technologien. Dies konnte nur durch die Öffnung Chinas für ausländische Investitionen und die Teilnahme am Weltmarkt geschehen.
Wäre die Staatsmacht in Händen der ArbeiterInnen gewesen, hätten die Tendenzen Richtung Kapitalismus zurückgedrängt werden können. Aber die Macht lag bei der Bürokratie. Unter diesen Bedingungen stellte die Einführung von kapitalistischen Anreizsystemen eine echte Gefahr für die Planwirtschaft dar. Im Laufe der Zeit würde sich dies auf die völlige Auflösung der Planwirtschaft hinauslaufen.
Man darf allerdings nicht mechanisch an diese Frage herangehen. Es wäre etwas zu leicht, rückblickend zu sagen, dass seit der Machtübernahme von Deng im Jahre 1978 die Bürokratie klar das Ziel der kapitalistischen Restauration vor Augen hatte. Eine solche Einschätzung wäre falsch. Die Bürokratie handelt empirisch, abhängig von den Bedürfnissen des Augenblicks. Selbst im stalinistischen Russland gab es Zeiten größerer Offenheit gegenüber den Marktkräften und Dezentralisation, gefolgt von Zeiten der Rezentralisierung. Das alles waren Versuche von Seiten der Bürokratie, die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen. Die Bürokratie war sich der Tatsache bewusst, dass sie Gefahr laufen würde, ihre Privilegien zu verlieren, würde sie nicht die Produktivkräfte weiterentwickeln.
1978 - Dengs Rückkehr
Es war gerade diese Überlegung, die die Chinesische Kommunistische Partei in den späten 1970ern dazu brachte, das Land für ausländische Investitionen zu öffnen. Im Dezember 1978 tagte das berühmte Dritte Plenum des XI. ZK der Kommunistischen Partei. Dort wurde der neue Kurs diskutiert. Obwohl es weiterhin die zentralisierte Planwirtschaft als die vorherrschende Form bezeichnete, führte es Elemente der Dezentralisierung ein und spornte die Gründung privater Firmen an. Der zentrale Gedanke war, dass die Marktkräfte eingeführt würden, um die Bedürfnisse der Wirtschaft zu erfüllen.
Das führte im Jahre 1979 schließlich dazu, dass Deng die Schaffung von vier Sonderwirtschaftszonen rund um Hongkong und Macao, in den Provinzen Guangdong und Fujian an der Südküste, vorschlug. Das unterstreicht, was wir oben bereits festgestellt haben: Selbst der Flügel Dengs sah diese Maßnahmen als Mittel, um die Produktivkräfte zu modernisieren, während sie den zentral geplanten und staatlich kontrollierten Charakter der Wirtschaft beibehielten. Anfangs waren sie sehr vorsichtig und machten nur begrenzte Zugeständnisse.
Allerdings waren diese vier Sonderwirtschaftszonen gerade auf Grund dieser Beschränkungen zunächst nicht so erfolgreich, wie man erwartet hatte. Deshalb wurden diese Beschränkungen im Jahre 1983 aufgehoben. Beispielsweise wurden nun Unternehmen zugelassen, die zur Gänze von ausländischem Kapital kontrolliert wurden. Hier sehen wir die empirische Vorgangsweise der Bürokratie. Sie verfolgte keinen vorgefertigten „Plan“. Kaum aber hatte die Bürokratie diesen Weg beschritten, entwickelte der Lauf der Dinge seine eigene Logik. Die Bürokratie fand es immer schwieriger, den Marktkräften Vorschriften zu machen. Wenn sie wollte, dass die KapitalistInnen investieren, musste sie dementsprechend günstige Bedingungen schaffen.
Parallel zur Einführung der Sonderwirtschaftszonen fand eine Richtungsänderung in der Landwirtschaft statt. Das alte System der kollektiven Landwirtschaft wurde aufgelöst und die Logik der privaten Produktion fand Einzug. Das geschah durch die „Verpachtung“ von Land an einzelne Familien. Rechtlich blieb das Land in Staatseigentum (und das gilt bis heute), doch in der Praxis hat es den Charakter von Privateigentum angenommen. Beispielsweise kann das verpachtete Land an die Nachkommen weitergegeben werden. Dies führte zu einer Situation, in der bereits Ende der 1980er Jahre diejenigen, die Land gepachtet hatten, die Pacht verkaufen oder ihrer Nachkommenschaft als Erbe vermachen konnten.
Daraus entwickelte sich in der Folge eine Differenzierung innerhalb der Bauernschaft. Die einen bereicherten sich, andere wiederum verloren ihre Lebensgrundlage und waren gezwungen, in die Städte zu ziehen. Der gesteigerten Produktivität der Agrarwirtschaft stand die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten gegenüber. Das stellte die Zufuhr von billiger Arbeitskraft sicher, die die Grundlage für die kapitalistische Entwicklung in den Städten bilden sollte.
All dies erinnert an die Geschichte Russlands nach 1861, als die alte landwirtschaftliche Gemeinde Mir aufgelöst wurde. Als die Kommunen zusammenbrachen, begannen die Bauern und Bäuerinnen in die Städte zu wandern. Sie stellten die notwendige Arbeitskraft zur Verfügung, die für die Entwicklung des Kapitalismus zwischen 1880 und 1912 notwendig war. Aber was wir in China heute sehen, stellt das Beispiel Russlands weit in den Schatten.
Die Entwicklung in China ist ebenso mit der Frühzeit des britischen Kapitalismus vergleichbar. Die Bauern und Bäuerinnen wurden brutal von ihrem Land vertrieben und mussten in die Städte ziehen. Dort waren sie gezwungen, unter den abscheulichsten Bedingungen zu hausen. Ebenso fühlt man sich an die Zeit des „Wilden Westens“ während der Ausdehnung des Kapitalismus in den USA erinnert. Was wir in China sehen, ist in der Tat eine Kombination all dieser geschichtlichen Präzedenzfälle. Gleichzeitig bleibt die chinesische Entwicklung aber ohne Beispiel was die Breite, die Wucht und die Geschwindigkeit des Prozesses anbelangt.
Einer der ersten Schritte des chinesischen Regimes, um das Auslandskapital anzuziehen, war die Schaffung eines „Arbeitsmarkts“. Eine Reihe von Reformen wurde durchgeführt, um den ManagerInnen von ausgewählten staatlichen Unternehmen zu erlauben, das Ende der lebenslangen Arbeitsverhältnisse einzuläuten. Erstmals wurde die Möglichkeit von Entlassungen diskutiert.
Schon im Jahre 1983 ging die Bürokratie einen Schritt weiter. Die in Staatsbesitz befindlichen Unternehmen konnten nun ArbeiterInnen auf der Basis eines befristeten Arbeitsvertrags anstellen. Das bedeutete, dass die neu angestellten ArbeiterInnen nicht jenes Sozialsystem genießen konnten, das die staatlichen ArbeiterInnen in der Vergangenheit zugesichert bekommen hatten. 1987 waren bereits 7,5 Millionen ArbeiterInnen im Rahmen von Arbeitsverträgen bei staatlichen Firmen angestellt worden und weiteren sechs Millionen hatte man den Status der lebenslangen Anstellung aberkannt - sie bekamen ebenfalls einen Arbeitsvertrag.
Zur selben Zeit wuchs die Arbeiterschaft im Privatsektor unaufhörlich an. Von etwa einer Viertelmillion im Jahre 1979 stieg die Zahl der ArbeiterInnen in privaten Firmen auf 3,4 Millionen im Jahre 1984, hauptsächlich in Kleinstunternehmen. Anfangs gab es Beschränkungen der erlaubten Höchstzahl an ArbeiterInnen, die von Privatfirmen angestellt werden konnten. 1987 aber wurden auch diese abgeschafft. Zusätzlich wurde die Entwicklung einer versteckten Form des Privateigentums in Form von so genannten „städtischen Kollektiven“ oder „Städtischen und Dörflichen Unternehmen“ (SDU) zugelassen. Diese waren von den lokalen Behörden abhängig und wurden von diesen kontrolliert, aber sie waren „profitorientiert“, d.h. sie verhielten sich wie kapitalistische Unternehmen. Wir werden uns mit der Entwicklung der SDU weiter unten beschäftigen.
Trotz dieser Entwicklungen dominierte weiterhin der staatliche Sektor. Er leitete den gesamten Gang der Wirtschaft. Mitte der 1980er Jahre beschäftigte der Staatssektor noch etwa 70 Prozent der städtischen Arbeiterschaft. Allerdings änderte sich der Status dieser ArbeiterInnen; immer mehr von ihnen arbeiteten in befristeten Beschäftigungsverhältnissen.
Die Schließung von staatlichen Betrieben führte zum bis damals ungekannten Phänomen der Arbeitslosigkeit. Bald nach der Einführung der „Marktreformen“ erhob sich das Gespenst der Inflation und rief gesellschaftlichen Protest hervor. Aus Angst vor den politischen Konsequenzen entschied das Regime im Jahre 1981, den Prozess zu verlangsamen. Das war ein Muster, das sich bei den wiederkehrenden Krisen während des gesamten Prozesses mehrmals wiederholte. Aber die Bürokratie entschied sich, wie wir sehen werden, jedes Mal - nach einer anfänglichen Verlangsamung und der Restabilisierung der Situation - weiterzugehen und den Prozess von neuem anzuheizen. Sie machte nie einen Schritt zurück.
1982 sagte die Partei noch immer, dass der Staatssektor vorherrschend sei. Damals handelte es sich noch immer um einen deformierten Arbeiterstaat, der auf kapitalistische Maßnahmen zurückgreift, um die Wirtschaft als Ganzes zu entwickeln. 1984 führte man weitere Maßnahmen ein, die dem Kapitalismus den Weg bereiten sollten. Es wurde mehr und mehr Gewicht auf die private Produktion und den marktwirtschaftliche Mechanismen gelegt. Die Preise der meisten Konsum- und Agrarprodukte wurden liberalisiert. Von nun an sollten die Marktkräfte das Preisniveau bestimmen.
Im selben Jahr wurde am zwölften Kongress der Kommunistischen Partei der Ausdruck „geplante Warenwirtschaft“ in die Debatte eingeführt. In der Terminologie des Regimes offenbart sich uns hier der Widerspruch zwischen Planwirtschaft und Kapitalismus. Das Gebiet, auf das sich die Sonderwirtschaftszonen erstreckten, wurde um 14 Küstenstädte erweitert. Ein Jahr später kamen die Flussdelta-Gebiete der Flüsse Pearl, Min und Yangtze hinzu. Im Grunde wurde die gesamte Küstenlinie für die ausländischen Investitionen geöffnet.
Dieser Prozess beschleunigte sich im Jahre 1986 noch weiter, als neue Maßnahmen zur Erleichterung von Auslandsinvestitionen getätigt wurden: niedrigere Steuern, mehr Freiheit beim Anstellen und Entlassen von Arbeitskräften, einfacherer Zugang zu Devisen. Außerdem schaffte man das egalitäre Lohnsystem ab, begann die lebenslangen Beschäftigungsverhältnisse zu demontieren und ersetzte sie durch befristete Arbeitsverträge, koppelte die Lohnentwicklung an die Produktivität - alles den ArbeiterInnen des Westens nur allzu bekannte Arbeitsbedingungen.
Am 13. Nationalen Kongress der Partei im Jahre 1987 wurden weitere Vorschläge gemacht, um eine „exportorientierte Wirtschaft“ zu entwickeln. Das Wachstum der Industriekapazitäten verlangte den Import von Maschinen und anderen Gütern. Deshalb kam es Mitte der 1980er zu einem rapiden Anstieg des Handelsbilanzdefizits, zusammen mit einer weiteren Explosion der Inflation. In den Jahren 1988 und 1989 lag die jährliche Teuerungsrate bei 18%. Die reale Kaufkraft der Familien der Arbeiterklasse wurde davon hart getroffen.
Die dadurch ausgelöste soziale Instabilität zwang das Regime, das Tempo zu drosseln. Unter Druck geraten, trat es Ende 1988 in Bezug auf den „Reformprozess“ auf die Bremse. Man wollte die Inflation durch eine restriktive Geldmengenpolitik unter Kontrolle bringen. Das führte 1989 zu einem neuen Phänomen in der chinesischen Wirtschaft: Es kam zu einer Rezession. All dies nährte den wachsenden gesellschaftlichen Protest. Eine Streikwelle griff um sich. Das waren die Rahmenbedingungen für die Protestbewegung rund um den „Platz des Himmlischen Friedens“ in Peking.
Was war die Tienanmen-Bewegung? Eindeutig beinhaltete sie Elemente einer politischen Revolution. Das steht außer Zweifel. Eine große Zahl von Studierenden ergoss sich über die Straßen. Die Jugend sang die Internationale - als ob sie der Regierung und der weltweiten öffentlichen Meinung sagen wollte: „Seht her, wir sind nicht auf der Seite des Kapitalismus, wir sind keine Konterrevolutionäre!“
Was als Studenten- und Jugendbewegung begann, erfasste bald die ArbeiterInnen. Das jagte dem Regime einen ordentlichen Schrecken ein und überzeugte den stalinistischen Flügel, die Bewegung in Blut zu ersticken. Durch seine brutale Vorgangsweise gelang es ihm, die Gesellschaft in seinem eisernen Griff zu behalten. Der eine oder die andere mag fragen, wann denn der entscheidende Wendepunkt in der Geschichte der kapitalistischen Restauration überschritten wurde. Da wir es mit einem Gesamtprozess, der sich über fast 30 Jahre erstreckte, zu tun haben, ist es nicht möglich, einen solchen Punkt zu finden. Korrekter wäre es daher, von einer Reihe von Wendepunkten zu sprechen. Und einer dieser Punkte war Tienanmen.
Nach der vernichtenden Niederlage von Tienanmen schwang das Pendel scharf nach rechts. Die Bewegung rund um den „Platz des Himmlischen Friedens“ hatte die Hoffnungen vieler ArbeiterInnen und Jugendlichen genährt - aber die Massen waren geschlagen worden. Nach Tienanmen forschte das Regime alle zentralen Führungspersonen der Bewegung aus; viele davon verschwanden oder verbrachten viele Jahre im Gefängnis. Um die Situation wieder zu stabilisieren, verlangsamte die Bürokratie gleichzeitig die Geschwindigkeit der Marktreformen. Als sie sich wieder sicher genug fühlte, begann die Bewegung Richtung Kapitalismus von neuem.
Wir dürfen nicht vergessen, was zeitgleich in Osteuropa und der Sowjetunion passierte. 1989 kollabierte ein stalinistisches Regime nach dem anderen. Die Bürokratie verlor die Kontrolle und ein chaotischer Übergang zum Kapitalismus begann. Die Sowjetunion konnte sich diesem Trend noch etwas länger widersetzen, aber schließlich wurde sie im Jahre 1991 von dem gleichen Prozess mitgerissen. Wie wir gezeigt haben, waren diese Regime innerlich so verrottet, dass sie fast ohne Widerstand der Bürokratie in sich zusammenfielen. In Russland, wo das Szenario eines Bürgerkriegs im Raum stand, stellten sich die stalinistischen Hardliner als derart korrupt heraus, dass sie keinen echten Widerstand von Seiten der Bürokratie organisieren konnten. Das System, das sie repräsentierten, hatte endgültig seine Grenzen erreicht.
Diese Ereignisse machten zweifellos einen tiefen Eindruck auf die chinesischen StalinistInnen. Bis dahin hatten sie Marktreformen durchgeführt, ganze Gebiete Chinas für kapitalistische Investitionen geöffnet, aber der Staatssektor blieb weiterhin vorherrschend - und die offizielle Position der Partei sah vor, dass dies auch so bleiben sollte. Die wirtschaftlichen Hebel waren noch immer in den Händen der Kommunistischen Partei. Der Prozess hätte noch immer revidiert werden können. Doch die Bürokratie hatte an einer solchen Umkehr keinerlei Interesse mehr. Wie gesagt: Sie machten nie auch nur einen einzigen Schritt zurück. Konfrontiert mit Momenten der Instabilität wurde die Geschwindigkeit gedrosselt, aber der Prozess kehrte sich nie um.
1992: „Sozialistische Marktwirtschaft mit chinesischen Besonderheiten“
Die kombinierte Wirkung der Tienanmen-Proteste und des Zusammenbruchs des Stalinismus in Osteuropa sowie der Sowjetunion machte einen tiefen Eindruck auf die chinesische Bürokratie. Nach diesen Ereignissen entschied die Führung der KP, den Prozess der „Marktreformen“ weiter voranzutreiben. Sie begann, die kapitalistische Restauration als die Lösung ihrer eigenen Probleme zu sehen, aber gleichzeitig wollte sie unter allen Umständen die umfassende Kontrolle der Bürokratie erhalten. Letztlich bedeutete dies, dass die Bürokratie den Grundstein dafür legte, sich in eine neue kapitalistische Klasse zu verwandeln.
Die Tatsache, dass sich die Bürokratie in diese Richtung bewegte, bedeutete nicht, dass es ihr zwangsläufig gelingen würde, diesen Prozess zu vollenden. Unter den Bedingungen eines schweren Wirtschaftseinbruchs im Westen ähnlich jenem nach 1929 hätten sich die Dinge auch anders entwickeln können. Aber so kam es nicht. Der Aufschwung im Westen dauerte länger als erwartet an; wir haben die Gründe dafür in anderen Dokumenten behandelt. Diese Entwicklung hat nur dazu geführt, dass neue Widersprüche angehäuft wurden. Eine noch viel größere Krise wird dadurch vorbereitet. Aber die chinesische Bürokratie versteht das nicht. Sie reagiert lediglich empirisch auf die Ereignisse. Der Kapitalismus war im Aufschwung, während der Stalinismus in die Brüche ging - das war alles, was sie sehen konnte.
Die Schlüsse, die die Bürokratie daraus zog, offenbarten sich 1992. In diesem Jahr trat der 14. Parteikongress zusammen und erteilte erstmals offiziell der Idee eine Absage, dass der Staatssektor die vorherrschende Rolle spielen sollte. Man verkündete einen Plan, eine so genannte „Sozialistische Marktwirtschaft mit chinesischen Besonderheiten“ zu entwickeln. Im selben Jahr startete Deng eine neue Etappe im „Reformprogramm“. Er ging auf Tour in die Sonderwirtschaftszone Shenzen und gab jene berühmte Erklärung ab: „Solange es Geld abwirft, ist es gut für China.“ Das war ein weiterer wichtiger Wendepunkt innerhalb des Regimes.
Die Marktmechanismen waren bereits seit einiger Zeit intakt gewesen. Was 1992 zu einem so wichtigen Jahr macht, ist die Tatsache, dass die Partei offiziell ihre Verpflichtung zum Erhalt der vorherrschenden Stellung des staatlichen Sektors aufgab. Sie entschied sich dafür, das Gewicht des Staatssektors zu verringern. Bis dahin hatte sich der Privatsektor außerhalb des staatlichen Sektors entwickelt. Von nun an entschied man sich für die Privatisierung der Unternehmen in Staatsbesitz. Man wählte 2.500 auf lokaler Ebene geführte Unternehmen in Staatsbesitz und 100 Unternehmen, die sich unter der Kontrolle des Zentralstaats befunden hatten und ging an ihre Umwandlung. 1998 war dieser Prozess abgeschlossen.
1994 erweiterte die KP-Führung dieses Programm und gab bekannt, dass sie nur die Kontrolle über die 1.000 größten staatlichen Unternehmen behalten würde. Alle übrigen Unternehmungen würden verpachtet oder an Privatleute verkauft. Ende der 1990er beschäftigten die staatlichen Unternehmen 83 Millionen Menschen. Das sind nur 12% der Gesamtbevölkerung und selbst in den städtischen Gebieten machen sie nur ein Drittel der Beschäftigten aus. Wir können eine enorme Veränderung seit 1978 feststellen - damals waren 78% der städtischen Beschäftigten im Staatsdienst.
Ende der 1990er Jahre war der Anteil der staatlichen Unternehmen am BIP auf 38% gesunken. Im September 1999 machte das Vierte Plenum des 15. Parteikongresses einen weiteren Schritt nach vorn. Sie nannten es die „Politik des Loslassens“, d.h. der Staat lockert seine Kontrolle und gibt sie schließlich ganz auf. Im Juli 2000 verlautbarte die Pekinger Stadtregierung, die ein großes Gebiet verwaltet, dass die staatliche und genossenschaftliche Besitzstruktur bei allen mittleren und kleinen in Staatsbesitz befindlichen Unternehmen auslaufen werde. 2001 betrug der Anteil der staatlichen Unternehmen an der Gesamtbeschäftigtenzahl des Produktionssektors nur 15%. Der Anteil am Binnenhandel lag bei weniger als 10%.
China hatte den wirtschaftlichen Zusammenbruch der südostasiatischen Börsen überlebt - zum Teil, weil es noch bis zu einem gewissen Grad die staatliche Kontrolle über den Außenhandel nicht aufgegeben hatte und die Währung nicht umtauschbar war. Diese zwei Faktoren schützten China vor den Auswirkungen der Krise. Es ging sogar gestärkt aus ihr hervor und nahm eine vorherrschende Stellung in der Region ein. Daraus ergab sich ungefähr in der Zeit von 1998 bis 2001 eine weitere Intensivierung des ganzen Prozesses. Seine Richtung war nun überdeutlich sichtbar. Die Hierarchie der KP hatte sich nun vollends davon überzeugt, dass Privatfirmen effizienter arbeiten als staatliche Unternehmen. Die einzige Art von staatlichen Firmen, die sie sich vorstellen konnten, waren jene, die es während der Zeit des bürokratischen Wirtschaftsplans gegeben hatte - mit allem Missmanagement, das dazu gehörte. Sie konnten sich keine effizienten staatlichen Produktionsbetriebe unter Arbeiterkontrolle vorstellen. .
Einige interessante Zahlen finden sich in dem Dokument „China's Ownership Transformation“, herausgegeben im Jahre 2005. Es wurde von einem Zweig der Weltbank, der International Finance Corporation, herausgegeben.
Die AutorInnen betonen, dass mit der Privatisierungspolitik erst ab dem Jahre 1992 Ernst gemacht wurde. Im Jahre 1995, so schreiben sie, „entschied der Staat, zwischen 500 und 1.000 große Staatsfirmen zu behalten und die kleineren Firmen zu verpachten oder zu verkaufen.“ Dafür hatte er allen Grund, weil 1997 die 500 größten Firmen - die meisten davon unter der Kontrolle der Zentralregierung - 37% der staatlichen Industrieanlagen besaßen und diese große Einnahmen für den Staat erwirtschafteten.
Das Dokument erklärt in Bezug auf die Zeit, als der Prozess intensiviert wurde, dass der „Trend den Glauben widerspiegelte, dass ein Unternehmen nur dann wirklich transformiert würde, wenn das Management die Mehrheit der Aktien besitzt.“ Und in traditionell chinesischer Art und Weise hieß es nun: „Der Staat zieht sich zurück und der Privatsektor schreitet voran.“
Die AutorInnen bringen viele Zahlen, die die Umrisse der Transformation sichtbar machen und eine sich beschleunigende Gangart ausweisen. So heißt es in dem Dokument beispielsweise: „Wenn die Performance [einer Stichprobe von sechs Städten] repräsentativ ist, dann ist die Privatisierung in China weiter fortgeschritten als in vielen osteuropäischen Staaten oder Staaten der ehemaligen Sowjetunion.“
Allerdings handelt es sich nicht einfach darum, wie viel Prozentpunkte der Staat besitzt, und wie viel in privater Hand ist (obwohl dies letztlich doch ein entscheidender Faktor ist). Es ist nicht einfach die Frage, wie viel in den Händen des Staats konzentriert ist, sondern auch wie der Staatssektor funktioniert, und in wessen Interesse. Es ist auch notwendig, sich den Gesamtprozess, seine Richtung, anzusehen - und hier geht alles Richtung Kapitalismus.
Allerdings hat sich im Zuge dieses Prozesses der kapitalistischen Transformation noch keine Bourgeoisie herausentwickelt, die ohne die Hilfe des Staats fähig wäre, die großen Unternehmen im Stile der US-amerikanischen und japanischen Unternehmen zu führen.
Die Bürokratie hat die meisten kleinen und mittleren Unternehmen verkauft. Gleichzeitig wurde die Entwicklung von privaten Firmen, die nie in Staatshand waren, unterstützt. Heute sind 450 der 500 größten multinationalen Konzerne in China tätig. Daher ist ein wichtiges Element in der Gleichung die Tatsache, dass sich der Privatsektor schneller entwickelt als der Staatssektor. Große staatliche Konglomerate werden in verschiedene Unternehmen zerschlagen, die ineffizienten Bereiche davon werden geschlossen und die profitträchtigeren verkauft.
Die ManagerInnen der Staatsbetriebe sind mit der Ausschlachtung der staatlichen Anlagen beschäftigt. Sie haben FreundInnen im Privatsektor, denen sie die besten Maschinen überlassen, die besten Teile usw., während die Fabriken nicht gewartet und somit dem Niedergang überlassen werden. Die ManagerInnen denken: „Diese Fabrik wird früher oder später privatisiert werden und ich werde sie angeboten bekommen.“ Daher versuchen sie, die Unternehmen so herunterzuwirtschaften, dass sie diese möglichst billig aufkaufen können. In vielen Städten haben die lokalen Verwaltungskörperschaften erkannt, dass die beste Art, ein Unternehmen wieder flott zu machen und Asset-Stripping (das „Ausschlachten“ von Betrieben durch das Management) zu unterbinden, in dessen Privatisierung besteht. Die Idee dahinter: Wenn die ManagerInnen erst einmal die BesitzerInnen der Unternehmen sind, werden sie das Anlagevermögen dafür verwenden, die Unternehmen zu entwickeln, um Profite zu erwirtschaften.
Dieser Prozess musste von den ArbeiterInnen teuer bezahlt werden: Es kam zum Verlust von Millionen von Jobs. In der Zeit von 1990 bis 2000 wurden 30 Millionen Jobs im staatlichen Sektor abgebaut. In den traditionellen Industriegegenden wie im Nordosten, dem Herzstück der alten chinesischen Planwirtschaft, entstand der so genannte „Rostgürtel“. Jene ArbeiterInnen, die ihren Job behalten konnten, mussten mitansehen, wie ihnen die Sozialleistungen weggenommen wurden. In einer Zeitspanne von mehreren Jahren wurden alle Errungenschaften der Revolution von 1949 nach und nach abgebaut. Das provozierte den Widerstand der Arbeiterklasse, aber die Bürokratie setzte ihren Willen unbarmherzig durch. Sie liberalisierte das Gesundheitswesen, den Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Sogar für die Schulbildung muss nun bezahlt werden.
Zu Beginn der 1990er waren bereits starke Elemente einer kapitalistischen Wirtschaft vorhanden. Im Jahre 1992 wurden bereits 40% der Umsätze im privaten Sektor erwirtschaftet. Im Jahre 1991 gab es bereits 13 Millionen private Unternehmen mit 21 Millionen Beschäftigten. Diese Unternehmen waren vor allem Kleinbetriebe, aber das war nur der Anfang. In den Dörfern wurden den reicheren Bauern und Bäuerinnen Zugeständnisse gemacht: Die Erlaubnis, Land zu verpachten und landwirtschaftliche Produkte auf dem Markt verkaufen zu dürfen, zerstörte die Kollektive und ermöglichte eine weitere Differenzierung zwischen den reicheren und ärmeren Bauern und Bäuerinnen. Im Jahre 1998 gab es immer noch 238.000 Betriebe, die vom Staat verwaltet wurden. Bis zum Jahre 2003 war diese Zahl auf 150.000 gesunken.
Die „Städtischen und Dörflichen Unternehmen“
Das Wachstum der sog. „Städtischen und Dörflichen Unternehmen“ bildete einen wichtigen Eckpfeiler für die Entwicklung des Kapitalismus. Die SDU erwirtschaften zurzeit 30% des BIP. Ihr Charakter ist nicht immer eindeutig. Für die BürokratInnen wäre es unmöglich gewesen, diese Unternehmen ohne ökonomisches und politisches Chaos zu privatisieren. Wäre alles auf einen Schlag privatisiert worden, so hätte das die Schließung oder den Zusammenbruch vieler Unternehmen und sogar ganzer Sektoren bedeutet. Dies hätte das Ende der Herrschaft der KPCh zur Folge gehabt.
Die Einführung der SDU stellte allerdings nur eine Übergangsetappe hin zur totalen Privatisierung dar. Sie gab den ManagerInnen und anderen parasitären Schichten der Gesellschaft Zeit, das nötige Kapital für die Übernahme dieser Unternehmen zu akkumulieren. Die SDU sind ein perfektes Beispiel dafür, wie die alten staatseigenen Betriebe und der staatliche Sektor einen Nährboden für die aufkeimenden bürgerlichen Elemente in der Gesellschaft bilden, bis diese direkt zu EigentümerInnen dieser Betriebe werden können. In einigen Fällen werden diese SDU von den Gemeinden betrieben, in anderen Fällen handelt es sich um Kooperationen mit privaten KapitalistInnen. Ihnen allen ist gemein, dass sie wie kapitalistische Unternehmen funktionieren und allmählich in die Hände von Privatpersonen gefallen sind.
Die SDU werden in manchen Statistiken als Betriebe der öffentlichen Hand angeführt, um zu zeigen, dass sich der überwiegende Anteil der ökonomischen Macht in den Händen des Staates befindet. Manche behaupten sogar, es handle sich bei diesen Betrieben um eine besondere Form des „Sozialismus“. Bei genauerer Betrachtung offenbart sich uns jedoch ein anderes Bild. Die Anzahl der SDU ist in den Jahren von 1987 bis 1993 von 1,5 Millionen auf 25 Millionen gewachsen, mit einer Anzahl von 123 Millionen Beschäftigten. Seit 1996 ist ihre Zahl zurückgegangen, weil viele dieser Betriebe vollständig privatisiert worden sind. Auch wenn diese Unternehmen staats- oder gemeindeeigen bleiben, so funktionieren sie doch wie private Betriebe, in denen die ManagerInnen das Recht haben, ArbeiterInnen nach Belieben einzustellen und zu entlassen.
Laut Hart-Landsberg und Burkett zeigen Studien, dass „...der durchschnittliche SDU-Arbeiter Gefahr läuft, weniger Basislohn als den Mindestlohn zu verdienen. Den Rest muss er sich durch Überstunden oder Akkordprämien erarbeiten. Nicht einmal der Grundlohn ist garantiert, da der Mindestlohn von den lokalen Verwaltungen festgesetzt wird und deren materielle Interessen - sowohl institutionell als auch privat - auf die Maximierung des Profits ausgerichtet sind. Die Wettbewerbsfähigkeit und die Gewinnspannen der SDU werden durch den reichlichen Zustrom an extrem billiger Arbeitskraft vom Lande garantiert, der durch den Verfall des Kommunensystems und der Verarmung der Bauernfamilien genährt wird.“ (China and Socialism - Market Reforms and Class Struggle, S.45, eigene Übersetzung)
Das Schicksal der SDU war eng mit den generellen Prozessen der Wirtschaft verbunden. Als der private Sektor eine dominierende Stellung einzunehmen begann, mussten sich auch die SDU dieser Entwicklung anpassen. Die AutorInnen der oben genannten Studie beschreiben diesen Prozess folgendermaßen: „Ebenso verheerend auf die SDU wirkte sich der Umstand aus, dass durch die private Produktion neue Möglichkeiten Profite zu lukrieren entstanden sind. Viele ManagerInnen begannen nun, auf illegalem Wege das Vermögen oder die Produkte der SDU an private Firmen zu verkaufen, um so größere Gewinne zu erzielen. Dieses Asset-Stripping beschleunigte sich Mitte der 1990er, nachdem sich die Partei der Privatisierung der kleineren Staatsbetriebe verschrieben hatte. [...] Angesichts sinkender Profitraten und wachsender Deindustrialisierung reagierten die lokalen Bürokratien in den Städten und Dörfern sofort auf den Wink der Regierung und begannen im Jahre 1996 damit, die SDU rasch zu verkaufen.“ (ebenda, eigene Übersetzung)
Die Rolle des Staats beim Aufbau eines starken chinesischen Kapitalismus
Die chinesische Bürokratie hat kein Interesse daran, ein Opfer des Imperialismus zu werden. Die BürokratInnen wissen, dass sie einen starken chinesischen kapitalistischen Sektor aufrechterhalten müssen. Darum unterstützen und stärken sie einige ausgewählte Staatsbetriebe. Ihnen stehen große Kapitalbeträge zur Verfügung. Die staatlichen Banken werden dazu benutzt, Finanzmittel in diese Konzerne zu pumpen.
Laut den Autoren von China's Ownership Transformation hat „China über 20 riesigen Konzernen und Konglomeraten ... unter die Arme gegriffen. Einige dieser Konzerne entlassen Zehn- oder Hunderttausende von ArbeiterInnen; nicht etwa, weil diese Betriebe in finanziellen Schwierigkeiten wären - einige dieser Betriebe sind hochprofitabel -, sondern weil sie sich als mächtige Global Players positionieren wollen. Im Jahre 2002 verfügten die zwölf wichtigsten chinesischen transnationalen Konzerne, welche sich zum Großteil in Staatsbesitz befinden, außerhalb des Landes über mehr als 30 Milliarden US-Dollar an Vermögen und beschäftigten dort etwa 20.000 ArbeiterInnen. Die Umsätze im Ausland betrugen allein 33 Milliarden US-Dollar.“
Obwohl sich diese Unternehmen in Staatshand befinden, werden sie als wichtige chinesische Staatsbetriebe für den Wettbewerb mit den US-amerikanischen, japanischen etc. Konzernen vorbereitet, und zwar auf kapitalistischer Basis. Das oben zitierte Dokument beinhaltet eine Tabelle unter dem Titel Die Zusammensetzung des chinesischen BIP nach Eigentumsformen. Ihr kann man entnehmen, dass bereits 1988 der staatliche Sektor nur mehr 41% des BIP erwirtschaftete. Bis 2003 sank diese Zahl auf 34%. Gleichzeitig stiegen von 1988 bis 2003 die entsprechenden Zahlen für den „wirklich privaten Sektor“, wie der offizielle Ausdruck lautet, von 31% auf 44%. Der gesamte nicht-staatliche Sektor erwirtschaftet 66% des BIP. Die Autoren der Studie folgern, dass „der private Sektor heute der vorherrschende Sektor der chinesischen Wirtschaft ist“. Und weiter: „Der Anteil des privaten Sektors ist noch viel größer, wenn man beachtet, dass ein bedeutender Teil der kollektiven Landwirtschaft in Wirklichkeit von Privaten kontrolliert ist, und dass der Privatsektor im Allgemeinen produktiver ist als die anderen Bereiche der Wirtschaft.“
Wir haben dies bereits andernorts auf viel kleinerer Stufenleiter gesehen. In Südkorea entwickelte der Staat große Unternehmen, aber das hat ihn noch keineswegs zum deformierten Arbeiterstaat gemacht, oder auch nur zu einem Übergangsregime. Es handelte sich um einen schwachen Kapitalismus, der nur auf Basis einer staatlichen Investitionspolitik aufgebaut werden konnte - die Bourgeoisie war zu klein und zu schwach dafür. In diesem Zusammenhang sehen wir in China Ähnliches in viel größerem Maßstab. Obwohl dort eine viel stärkere Bourgeoisie erzeugt wird, hat sie noch immer nicht die Ressourcen, die großen Unternehmen zu führen und eigentständig weiterzuentwickeln. Viele davon sind immer noch in Staatshand. Deshalb ist es der Staatsapparat, der China beherrscht - und eben dieser Staatsapparat arbeitet aktiv am Aufbau eines chinesischen Kapitalismus und einer chinesischen Bourgeoisie.
In den vergangenen drei oder vier Jahren kam es zu wichtigen Veränderungen auch auf rechtlicher und verfassungsmäßiger Ebene, um das Recht mit den neuen Eigentumsverhältnissen in Einklang zu bringen. So wurden etwa im Jahre 2004 wichtige Änderungen an der Verfassung vorgenommen, die Rolle des nicht-staatlichen Sektors bei der Unterstützung der wirtschaftlichen Aktivität des Landes wurde betont und Privateigentum wurde rechtlich gegen willkürliche Beschlagnahmung geschützt.
Bis vor kurzem gab es in China Gesetze, die Privatfirmen reglementierten oder sie davon abhielten, in Wirtschaftsbereiche wie den öffentlichen Versorgungssektor und Finanzdienstleistungen vorzustoßen. Im Jahre 2005 wurden diese Gesetze abgeschafft und diese Sektoren für private AnbieterInnen geöffnet. Dasselbe passiert nun auch im Bankenbereich. In der Tat beschäftigen sich bürgerliche AnalytikerInnen, wenn sie über das heutige China schreiben, sehr genau mit den Gesetzen und der Rechtsstruktur des Landes, welche mit den neuen Eigentumsverhältnissen in Einklang gebracht werden müssten. Sie sehen diese als Überbleibsel der Vergangenheit, die beiseite geschafft werden müssen, um den normalen Geschäftsbetrieb der privaten Unternehmen nicht zu behindern.
In China haben sich die Eigentumsverhältnisse verändert, aber obwohl schon viel getan wurde, um die Gesetzeslage in Übereinstimmung mit den neuen Realitäten zu bringen, gibt es noch immer Überreste des alten Rechtssystems. Die Entwicklung der neuen Eigentumsverhältnisse kann tatsächlich mit den alten Rechtsformen in Konflikt kommen; letztere müssen sich nicht notwendigerweise unmittelbar mit der ökonomischen Basis in Übereinstimmung bringen. Früher oder später muss dieser „Überbau“ jedoch mit der wirtschaftlichen Basis in Einklang gebracht werden. Wie es Karl Marx 1859 in seiner Einleitung zu seiner Schrift Zur Kritik der Politischen Ökonomie ausdrückte:
„Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um.“ [unsere Hervorhebung]
In China haben wir es sich nicht mit einer Revolution, sondern mit einer Konterrevolution zu tun. Nichtsdestotrotz behält das oben angeführte Zitat von Marx seine Gültigkeit. Verändern sich die Eigentumsverhältnisse, so muss sich der ganze juristische Überbau diesem Umstand anpassen. Obwohl es Widerstand von bestimmten Schichten der Bürokratie gibt, muss sich dieser Widerspruch doch früher oder später lösen. Es wurde bereits viel in dieser Richtung unternommen, wie die Verfassungsänderungen widerspiegeln.
Eintritt in die WTO
Der Beitritt Chinas in die Welthandelsorganisation WTO im November 2001 markiert einen weiteren Wendepunkt in der chinesischen Restaurationspolitik. China verpflichtete sich damit, die Kontrolle über den Außenhandel innerhalb von fünf Jahren abzuschaffen. Seit damals werden diese Einschränkungen Schritt für Schritt abgebaut. Die Gründe für den WTO-Beitritt sind offensichtlich. Die heutige chinesische Wirtschaft kann nur in enger Verbindung mit dem Weltmarkt existieren. Sie ist stark von Exporten abhängig und braucht internationale Handelsabkommen. China muss mit voller Energie am Weltmarkt teilnehmen. Das beschleunigt wiederum den kapitalistischen Transformationsprozess in China selbst.
Die Abschaffung der staatlichen Kontrolle über den Außenhandel ist ein wichtiger Schritt hin zur Öffnung Chinas für den Weltmarkt. Einer der wichtigsten Punkte im Programm der Bolschewiki - ein Punkt, den Trotzki energisch gegen Stalin und Bucharin verteidigte - war das staatliche Außenhandelsmonopol. Das gilt vor allem für wirtschaftlich unterentwickelte Länder. Auch Bucharin war der Meinung, dass es für die ökonomische Entwicklung wichtig sei, einem Teil der Bauernschaft das Recht einzuräumen, sich bereichern zu können. Er glaubte, dass materielle Anreize zu höherer Effizienz und einer Steigerung der Produktion führen würden. Bucharin hatte jedoch nicht die leiseste Ahnung, wohin seine Ideen führen könnten. Er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Position der Restauration des Kapitalismus den Weg ebnen würde. Hätte sich seine Position durchgesetzt, so wäre die Sowjetunion schon im Jahre 1928 kapitalistisch geworden. Es existieren einige Parallelen zwischen Deng und Bucharin. Sogar die Sprache, die sie verwendeten, war ähnlich. Deng propagierte den Slogan „Reich zu werden ist ehrenvoll!“, während Bucharin den Slogan ausgab: „Bereichert euch!“.
Das Außenhandelsmonopol war im Wesentlichen eine Schutzmaßnahme gegen das Eindringen kapitalistischer Einflüsse von außen. Betrachtet man die Geschichte des Kapitalismus der fortgeschrittenen Nationen, so erkennt man, dass in früheren Perioden protektionistische Maßnahmen dazu dienten, den heimischen Markt zu schützen, während der Freihandel erst später zur bevorzugten Politik der Bürgerlichen wurde. Sogar die britische Bourgeoisie schützte ihren Binnenmarkt, während sie ihre eigene Industrie aufbaute. Sobald sie eine moderne, wettbewerbsfähige Industrie aufgebaut hatte, brauchte sie die protektionistischen Maßnahmen nicht mehr. Ihre Industrie hatte bereits ein Niveau erreicht, auf dem es möglich war, den Weltmarkt zu dominieren. Wie Marx und Engels im Kommunistischen Manifest in Bezug auf die Bourgeoisie schrieben: „Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt...“
Bis vor wenigen Jahren betrieben auch jene Länder, die man heute zu den unterentwickelten zählt, eine protektionistische Politik. Pakistan zum Beispiel setzte bis vor zwanzig Jahren auf hohe Zölle und andere protektionistische Maßnahmen. Aber sie wurden dazu gezwungen, ihre Märkte zu öffnen. Die ImperialistInnen schreiben diesen Ländern vor, welche Politik sie zu betreiben haben. Sie können keine protektionistischen Maßnahmen tolerieren, obwohl sie z.B. im Agrarsektor selbst Handelsbarrieren errichten.
Der Unterschied zwischen China und Pakistan besteht darin, dass die Einführung des sogenannten „freien Marktes“ in Pakistan die Zerstörung von Tausenden Fabriken zur Folge hatte. Der Entwicklungsstand der pakistanischen Industrie war zu niedrig, um dem äußeren Wettbewerb standhalten zu können. Doch China ist nicht Pakistan. Die chinesische Regierung scheint zu denken: „Wir sind jetzt stark genug, unsere Industrie kann sich mit ihrem Produktivitätsniveau im weltweiten Wettbewerb behaupten.“ Das hat natürlich Vergeltungsmaßnahmen vor allem von Seiten der USA zur Folge, wo man im Protektionismus eine Maßnahme sieht, um den US-Markt gegen billige chinesische Produkte zu schützen.
„Kalter Übergang“?
Es ist klar, dass es in China einen Übergang zum Kapitalismus gegeben hat. Wie aber kam er zustande? Niemals ist die Konterrevolution mit Waffengewalt vorgegangen, niemals hat es eine tiefgreifende Konfrontation zwischen den verschiedenen Flügeln der Bürokratie gegeben. Trotzki verwendete einmal den Ausdruck, dass der Film des Reformismus rückwärts abgespielt wird. Er erklärte, dass die Konterrevolution nicht ohne irgendeine Form der bewaffneten Auseinandersetzung an die Macht kommen könne. Nur auf diesem Wege war für ihn eine Rückkehr zum Kapitalismus denkbar. Er meinte, das planwirtschaftliche System könne nicht zum Kapitalismus „reformiert“ werden.
Um zu verstehen, wie Trotzki zu dieser These gelangte, dürfen wir nicht nur einzelne Sätze von ihm herauspicken, sondern müssen die Methode untersuchen, mit der er zu diesen Schlüssen kam. Trotzki beschäftigte sich mit dem Russland der 1930er Jahre, als die Traditionen der Revolution noch lebendig waren. Die russische Arbeiterklasse hatte die Schlüsselrolle in der Revolution gespielt und war sich bewusst, was eine Rückkehr zum Kapitalismus bedeutet hätte. Sie hätte sich einer kapitalistischen Restauration widersetzt. Gleichzeitig ließ auch die damalige internationale Situation einen solchen Weg nicht zu. Eine bedeutende Schicht der Bürokratie hatte daher ein Interesse daran, am staatlichen Wirtschaftsplan und den sozialistischen Eigentumsverhältnissen festzuhalten.
Der Stalinismus konnte in der Sowjetunion mehrere Jahrzehnte, über siebzig Jahre lang, bestehen - viel länger, als es Trotzki vermutet hatte. Quantitative Veränderungen verursachen qualitative Veränderungen. In der Periode des Stalinismus wurden die revolutionären Traditionen aus dem Bewusstsein der ArbeiterInnen vertrieben. Jene Generation, die noch aktiv an der Revolution teilgenommen hatte, war verschwunden. Die neuen Generationen erlebten eine gefräßige Bürokratie, die sich mehr und mehr von den Massen abhob. Sie sahen nichts anderes als totales Missmanagement, Verschwendung und Korruption auf allen Ebenen. Am Ende sahen sie sich einem System gegenüber, das langsam aber sicher zum Stillstand kam. Manchmal kann ein Regime so verrottet sein, dass die herrschende Klasse - oder die herrschende Schicht - völlig unfähig ist, auch nur dem kleinsten Druck zu widerstehen, den Volksmassen ausüben, wenn sie in Bewegung kommen.
Die Idee, dass für die Entwicklung des Kapitalismus eine bürgerliche Revolution notwendig ist, entspringt den Erfahrungen der klassischen bürgerlichen Revolutionen in Frankreich 1789 und in England 1640. Die Bourgeoisie hatte sich innerhalb der Grenzen des Feudalismus entwickelt und ihren Reichtum vergrößert, letzten Endes musste sie jedoch diese Grenzen sprengen. Die junge bürgerliche Klasse führte die Nation gegen den Landadel und stürzte den Feudalismus. Sie schuf damit die Bedingungen für die kapitalistische Entwicklung. Die frühzeitige kapitalistische Entwicklung in einigen wenigen Schlüsselländern (England, Frankreich, USA) machte es jedoch beinahe unmöglich, dass sich der Kapitalismus in den weniger entwickelten Ländern auf die selbe Art und Weise entfalten konnte, wie es in den Ländern mit einer frühen kapitalistischen Entwicklung vonstatten gegangen war. Marx konnte dies in Deutschland beobachten. Noch nicht einmal an die Macht gelangt, sei die deutsche Bourgeoisie schon reaktionär geworden.
Auch unter der Herrschaft des Zarismus war es innerhalb der russischen Sozialdemokratie in dieser Frage zu heftigen Diskussionen gekommen. Die Menschewiki erwarteten, dass alle Länder dieselben Etappen durchlaufen würden. Russland wäre eben ein unterentwickeltes Land mit einer riesigen Bauernschaft und GroßgrundbesitzerInnen. Auf mechanische Art und Weise versuchten sie, den Entwicklungsgang von Frankreich oder England auf Russland anzuwenden. Daraus schlossen sie, dass es die Aufgabe der russischen KommunistInnen sei, die „fortschrittliche Bourgeoisie“ zu unterstützen. Sie verstanden nicht, was Trotzki mit seiner Theorie der „Permanenten Revolution“ sagen wollte. In der imperialistischen Epoche kann die Bourgeoisie in den unterentwickelten Ländern nicht jene fortschrittliche Rolle spielen, welche die Bourgeoisie in Frankreich oder England gespielt hat.
Das erklärt auch, warum die Entwicklung des Kapitalismus in anderen Ländern nicht immer durch den klassischen Mechanismus der bürgerlichen Revolution, in der die Bourgeoisie die Massen führte, vonstatten ging. So kam der Kapitalismus beispielsweise in Deutschland oder Japan auf einem anderen Wege zustande. Heute sind diese Länder zwei der stärksten Weltmächte. In Japan war es die Bürokratie eines feudalen Staates, die unter dem Druck des US-Imperialismus aktiv den Übergang zum Kapitalismus organisierte - und eben nicht die schwache und kraftlose japanische Bourgeoisie jener Zeit. Und warum? Weil die globale Entwicklung alle Prozesse dominiert. Die Zukunft Japans als mächtige Nation konnte nur durch die Entwicklung des Kapitalismus gesichert werden. Da die japanische Bourgeoisie nicht imstande war, diese historische Rolle zu übernehmen, musste diese Aufgabe eine andere Klasse erfüllen. In Deutschland waren es die Junker des alten feudalen Staatsapparates, die einer ähnlichen Entwicklung vorstanden.
Da es zu keiner echten Revolution gekommen war, blieben allerdings große Überbleibsel des alten Feudalsystems weiter bestehen. In Deutschland wurden diese Widersprüche erst durch die fehlgeschlagene proletarische Revolution von 1918 gelöst, die zumindest die unvollendeten Aufgaben der bürgerlichen Revolution erledigen konnte. In Japan wurden dieselben Aufgaben durch die US-amerikanische Besatzungsmacht nach 1945 erfüllt. McArthur setzte die Agrarrevolution in Japan durch - aus Angst vor den Auswirkungen der chinesischen Revolution auf die japanischen Massen.
In diesen Fällen handelte es sich um keine „bürgerliche Revolution“, sondern um eine Art „Kalten Übergang“ von einem System zum anderen. Der reale Prozess stimmt nicht immer in allen Einzelheiten mit den Beispielen aus den Schulbüchern überein! Es gibt keine ewigen Gesetze, nach denen sich soziale Umwälzungen vollziehen. Das müssen wir das im Hinterkopf behalten, sonst werden wir von den Ereignissen, die ganz und gar nicht mit vorgefassten und mechanischen Ansichten zusammenpassen, überrollt.
Man muss daher Trotzkis Ansichten über den „Kalten Übergang“ im historischen Kontext sehen. Er meinte, dass im Falle einer bürgerlichen Konterrevolution in der Sowjetunion die neue herrschende Klasse viel weniger Menschen im Staat auswechseln müsste, als im Falle einer politischen Restauration. Genau das war in Russland der Fall als Jelzin an die Macht kam. In seinem Werk Verratene Revolution schrieb Trotzki:
„Würde dagegen die herrschende Sowjetkaste von einer bürgerlichen Partei gestürzt, so fände letztere unter den heutigen Bürokraten, Administratoren. Technikern, Direktoren, Parteisekretären, überhaupt privilegierten Spitzen, nicht wenig willige Diener. Eine Säuberung des Staatsapparates wäre natürlich auch in diesem Falle erforderlich, doch brauchte die bürgerliche Restauration wahrscheinlich weniger Leute zu entfernen als eine revolutionäre Partei. Die Hauptaufgabe der neuen Staatsmacht wäre jedoch, das Privateigentum an der Produktionsmitteln wiederherzustellen, Vor allen Dingen gälte es, die Vorbedingungen zur Absonderung von Großbauern aus den schwachen Kolchosen und zur Umwandlung der starken Kolchosen in Produktionsgenossenschaften bürgerlichen Typs, in landwirtschaftliche Aktiengesellschaften. zu schaffen. Auf dem Gebiete der Industrie würde die Entnationalisierung bei den Betrieben der Leicht- und Nahrungsmittelindustrie beginnen. Das Planprinzip würde während der Übergangszeit hinauslaufen auf eine Reihe von Kompromissen zwischen der Staatsmacht und den einzelnen „Genossenschaften“, d.h. den potentiellen Besitzern, zusammengesetzt aus Sowjetindustriekapitänen, ehemaligen emigrierten Besitzern und den ausländischen Kapitalisten. Obwohl die Sowjetbürokratie einer bürgerlichen Restauration gut vorgearbeitet hat, müsste das neue Regime auf dem Gebiete der Eigentumsformen und Wirtschaftsmethoden nicht Reformen, sondern eine soziale Umwälzung durchführen.“
Auch wenn die soziale Basis der Sowjetunion die eines Arbeiterstaates mit staatlichem Eigentum an den Produktionsmitteln und einer zentralen Planwirtschaft war: Bei einem Rückfall in ein bürgerlich-kapitalistisches Regime würden nach Trotzkis Meinung nicht allzu viele Menschen ausgetauscht werden müssen. Dies lag vor allem daran, dass es bereits privilegierte Gesellschaftsschichten gab, die stets ihre materielle Position auf Kosten anderer verbessern wollten. Diese Schichten mussten sich lediglich von privilegierten BürokratInnen eines Arbeiterstaates in privilegierte DienerInnen des Kapitalismus verwandeln.
Im Falle einer politische Revolution wären andererseits die Privilegien der Bürokratie beseitigt worden, was nicht ohne einen tiefen Konflikt zwischen Arbeiterklasse und BürokratInnen vonstatten gegangen wäre. Trotzkis erstere Perspektive erwies sich schließlich im Falle Russlands als zutreffend.
Die Analyse der Sowjetunion beinhaltet wichtige Elemente, die uns dabei helfen können, den gegenwärtigen Prozess in China zu verstehen. Auch hier haben wir es mit einer privilegierten Kaste zu tun, die sich ab einem gewissen Punkt in PrivateigentümerInnen an den Produktionsmitteln - zur Absicherung ihrer Privilegien - verwandeln will.
Es gab mehrere Faktoren, welche die chinesische Bürokratie in diese Richtung trieben. Zuerst der massive Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg im kapitalistischen Westen mit einer noch nie gesehenen Entwicklung der Produktivkräfte. Dem folgte die Krise der stalinistischen Regime in Osteuropa und der Sowjetunion. Die MarxistInnen analysierten diese Krise bereits ab den frühen 1970ern. Die chinesischen BürokratInnen erkannten diese Entwicklung ebenfalls. Die Wachstumsrate der Sowjetunion ging auf 3%, auf 2% und dann auf Null zurück. Das System stagnierte. Schlussendlich brach der Stalinismus in Osteuropa zusammen, zwei Jahre später folgte die Sowjetunion, die dabei große Teile ihres Territoriums verlor.
Das waren sehr mächtige Faktoren, die das Denken der chinesischen Bürokratie prägen sollten. Am Anfang stand im Grunde genommen eine Art chinesische Spielart der NÖP mit dem Ziel, die Wirtschaft effizienter und produktiver zu machen. Sie beobachtete die internationalen Entwicklungen und die Weltlage trieb sie in eine gewisse Richtung. Jenseits der Grenze, in der Sowjetunion, sah sie nur absolutes Chaos. Ihr vorrangiger Gedanke muss gewesen sein: „Das dürfen wir hier nicht zulassen. Wir müssen marktwirtschaftliche Mechanismen einführen, aber wir dürfen nicht die Kontrolle über den Prozess verlieren.“ Deshalb tastete sie sich Schritt für Schritt vorwärts - bis irgendwann die kapitalistischen Geister ein Eigenleben entwickelten.
In China gibt es heute mächtige bürgerliche Interessen. Die neue Bourgeoisie benutzt die KP zur Verteidigung dieser Klasseninteressen. Könnte die Bürokratie unter diesen Bedingungen den Prozess noch erfolgreich umkehren? Nein: Der Prozess hat einen Punkt erreicht, an dem dies ohne einen scharfen Konflikt nicht mehr möglich ist. Falls ein Flügel der chinesischen Bürokratie diesen Weg zurück beschreiten möchte, dann würde es zu einer größeren Konfrontation mit dem pro-kapitalistischen Flügel kommen. Somit wäre ein „Kalter Übergang“ zurück zu einer bürokratisch geplanten Wirtschaft nicht mehr möglich. Doch das ist eine sehr hypothetische Perspektive - es gibt keine Anzeichen für die Existenz eines solchen Flügels.
Wichtige Elemente in der „chinesischen Gleichung“ sind heute die Größe und die Erfahrungen der Arbeiterklasse. Jede Opposition gegen den Kapitalismus müsste sich auf die Arbeiterklasse stützen. Und die chinesischen ArbeiterInnen würden eine Rückkehr zum Stalinismus nicht mehr akzeptieren. Instinktiv würden sie in Richtung einer echten Arbeiterdemokratie gehen.
Dies würde sich ohne Zweifel auch in Teilen der Partei widerspiegeln. Anhand von Briefen und Artikeln, die in der chinesischen Presse erschienen sind, kann man ablesen, dass es in der KP Chinas noch immer Leute gibt, die an den Idealen der Revolution von 1949 festhalten. Diese Teile der Partei würden unter dem Eindruck einer revolutionären Bewegung der Arbeiterklasse auch in einen Konflikt mit dem dominierenden pro-kapitalistischen Flügel geraten. Das würde zu einer Spaltung führen, wobei die Spitzen der Partei die neuen kapitalistischen Verhältnisse verteidigen und Teile der unteren Funktionärsschichten in den Sog der Bewegung der Arbeiterklasse geraten würden.
Trotzki wies in Bezug auf die UdSSR der 1930er Jahre auf die Existenz des sog. „Reiss-Flügels“ in der Bürokratie hin. Er meinte damit einen Flügel, der zu den Idealen der Oktoberrevolution, zum echten Bolschewismus zurückkehren wollte. Damals existierte tatsächlich solch ein Flügel. Die Revolution lag noch nicht weit zurück. Viele Parteimitglieder aus der Zeit vor der Revolution waren sich des Unterschieds zwischen Stalinismus und Bolschewismus bewusst.
Das stalinistische Regime in der Sowjetunion konnte jahrzehntelang überleben. Stalin zerstörte schrittweise jede Verbindung zu den Idealen der Oktoberrevolution. Und doch gab es selbst zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs der Sowjetunion im Jahre 1991 einen, wenn auch kleinen, Flügel, der sich auf die Ideen des genuinen Leninismus stützte.
In China ist die Situation heute eine andere. Es ist ausgeschlossen, dass sich heute ein „Reiss-Flügel“, wie ihn Trotzki beschrieben hat, in China herausbildet. Die Revolution von 1949 basierte nicht auf den Ideen von Lenin. Die chinesische KP transformierte sich schon lange vor der Machtübernahme in eine stalinistische Partei. D.h. selbst jene Teile der Partei, deren Ursprung vor 1949 liegt, sehen den chinesischen Stalinismus als ihren Referenzpunkt.
Es ist wichtig, den Unterschied zwischen einem „degenerierten“ und einem „deformierten“ Arbeiterstaat zu verstehen. Ein degenerierter Arbeiterstaat ist ein ehemals gesunder Arbeiterstaat, der sich zu einem deformierten Arbeiterstaat entwickelte. Der einzige degenerierte Arbeiterstaat, den die Geschichte kennt, war die Sowjetunion. Die UdSSR begann als relativ gesunder Arbeiterstaat und degenerierte in der Folge, nachdem die Russische Revolution international isoliert blieb. Dies führte zur Machtübernahme durch die Bürokratie. Um diesen Prozess zu vollenden, musste die stalinistische Bürokratie abertausende KommunistInnen eliminieren, die den Unterschied verstanden zwischen dem, wofür die Bolschewiki gekämpft hatten, und der monströsen Karikatur, die aus der Isolation der Revolution in einem unterentwickelten Land entstanden war.
China war zu keiner Zeit ein gesunder Arbeiterstaat. Es gab nie eine Phase einer echten Arbeiterdemokratie, einer Arbeitermacht. Der chinesische Staat war von der Machtübernahme der KP weg ein deformierter Arbeiterstaat. In Wirklichkeit erbte die KP den alten Staatsapparat der Mandarine. Selbst in den frühen Tagen Sowjetrusslands wies Lenin daraufhin, dass man nur an der Oberfläche des Arbeiterstaates kratzen müsse, um darunter den alten zaristischen Staatsapparat zum Vorschein zu bringen. Vor allem in den rückständigen Landgebieten war dies der Fall. Hier musste der neue Staat auf die alten Beamten zurückgreifen. Zu den Zeiten von Lenin konnten die ArbeiterInnen zumindest durch ihre Machtorgane, die Sowjets, die konservativen Tendenzen dieser Schicht im Zaum halten. In China war dies aber nie der Fall.
Trotzdem muss es in der Partei Elemente geben, die - wenn auch in sehr verzerrter Form - den Übergang zum Kapitalismus mit großer Sorge beobachten. Sie sehen, wie die ArbeiterInnen all ihre Rechte verloren haben und auf den Idealen der Revolution herumgetrampelt wird. Sie verklären dabei die Vergangenheit und erinnern sich nur an die viel stärker ausgeprägte soziale Gerechtigkeit der Zeit Maos. Doch seit der Herausbildung eines riesigen Proletariats sind die alten maoistischen Lehren, die sich voll und ganz auf die Bauernschaft stützten, für die heutigen ArbeiterInnen bedeutungslos geworden. Die Arbeiterklasse ist heute zur dominanten gesellschaftlichen Kraft aufgestiegen. Die ArbeiterInnen in den Städten, die in einer „Rückkehr zu Mao“ einen Ausweg suchen, werden sehr rasch die Losung nach Arbeiterdemokratie aufstellen. Solch eine Entwicklung hätte gewaltige Auswirkungen auf die Partei, die sich zwangsläufig entlang von Klassenlinien spalten würde.
In den Reihen der Topbürokratie gibt es aber keine Anzeichen für einen Flügel, der zur alten verstaatlichten zentralen Planwirtschaft zurückkehren will. Aus Sicht der Bürokratie „funktioniert“ das System. Und aus ihrer Sicht stimmt das wohl auch! Wir haben bereits gezeigt, was Trotzki über die Bürokratie geschrieben hat, die versucht ihre Privilegien an ihre Nachkommen weiterzugeben. Heute haben sich viele Söhne und Töchter von BürokratInnen zu PrivateigentümerInnen an Produktionsmitteln gemausert. Diese haben natürlich kein Interesse an einer Rückkehr zur Planwirtschaft. Es gibt aus ihrer Sicht keine materielle Basis für einen solchen Schritt. Die Bürokratie würde jedem Versuch, die Uhren zurückzudrehen, mit erbittertem Widerstand begegnen. Und sie hätte dabei die Unterstützung des Staatsapparates. Es ist außerdem sehr bemerkenswert, dass auch die Armeespitzen zu Privateigentümern wurden. Das heißt, dass auch die Offizierskaste ein materielles Interesse an den neuen Eigentumsverhältnissen hat.
China ist heute die viertgrößte Wirtschaftsmacht
Die jüngsten Zahlen zeigen, dass China nun hinter den USA, Japan und Deutschland zur viertgrößten Wirtschaftsmacht der Erde aufgestiegen ist. Hinter den USA und Japan ist es sogar der drittgrößte Produzent von Industrieprodukten. Im Jahr 2004 entfiel auf China die Hälfte des weltweiten Verbrauchs an Beton. China wird immer mehr zu einer Supermacht - nicht nur militärisch, sondern auch ökonomisch.
Anfänglich glaubten die ausländischen KapitalistInnen, sie könnten China zur Öffnung zwingen und dann diesen neuen Markt mit ihren Waren überschwemmen. Die Dinge kamen aber anders als es sich die VertreterInnen des Imperialismus vorgestellt hatten. China ist nun eine wichtige Exportwirtschaft. Das Handelsbilanzdefizit der USA mit China hat mit 205 Mrd. US-Dollar einen neuen Rekordwert erreicht. Die ImperialistInnen beschweren sich, dass China zu viel nach Europa, in die USA und in die anderen Weltregionen exportiert. Regelmäßig wird über die Einführung von Zöllen und anderen Handelsbeschränkungen für chinesische Produkte diskutiert. Um jedoch die Einfuhr chinesischer Waren tatsächlich zu stoppen, müsste man extrem hohe Zölle einführen, um das hohe Produktivitätsniveau und die billigen Produktionskosten Chinas auszugleichen.
Angesichts der gewaltigen Entwicklung der Produktivkräfte, dem riesigen wirtschaftlichen Wandel und der Konsolidierung der kapitalistischen Wirtschaftsbeziehungen ist es nur logisch, dass sich China nun wie eine imperialistische Macht verhält. Es importiert Rohstoffe und exportiert Industrieprodukte und Kapital. Einer der Faktoren, der den Anstieg des Erdölpreises bestimmt, ist die extrem hohe Nachfrage in China. China ist heute der weltweit zweitgrößte Verbraucher von Erdöl und ein Nettoimporteur. Es importiert außerdem unvorstellbare Mengen an Eisen, Kupfer, Bauxit, Bauholz, Zinn, Zink, Mangan und Sojabohnen.
Seine Beziehungen zu Lateinamerika und zur Karibik zeugen vom imperialistischen Charakter Chinas. Im Jahr 1999 zum Beispiel exportierte China Waren im Wert von 5 Mrd. US-Dollar nach Lateinamerika und in die Karibik und importierte 3 Mrd. Dollar. 2004 beliefen sich die Exporte bereits auf 18 Mrd. Dollar, die Importe auf 22 Mrd. Dollar. Lateinamerika exportiert hauptsächlich Nahrungsmittel und Rohstoffe nach China, während China nach Lateinamerika Textilien, Kleidung, Schuhe, Maschinen, TV-Geräte und Plastik exportiert. Im Jahr 2004 investierte China 6,32 Mrd. Dollar in Lateinamerika. Nahezu die Hälfte der chinesischen Investitionen im Ausland gehen nach Lateinamerika und in die Karibik. Allein in die Erdölproduktion in Venezuela sind Investitionen in der Höhe von weiteren 350 Mio. Dollar geplant. China hat außerdem eine „strategische Allianz“ mit Brasilien geschlossen, wo es bereits jetzt eine Reihe von Fabriken in chinesischem Eigentum gibt. 15% der brasilianischen Exporte gehen nach China, Tendenz steigend. China steht außerdem im Wettbewerb mit Indien um die Erdölressourcen in Asien. China ist heute einer der wichtigsten Global Players. Im Jahr 2004 nahm der Welthandel um 5% zu. China zeichnete für 60% dieses Anstiegs verantwortlich. Nahezu zwei Drittel des Anstiegs des Welthandels geht auf China.
In diesem Zusammenhang ist auch die Entscheidung zu verstehen, dass China sich mit Soldaten an den UNO-Truppen in Haiti beteiligt. Außerdem baut China eine mächtige Flotte auf. Der Grund dafür ist, dass China in der Zukunft die Seewege im Pazifik und in andere Regionen kontrollieren will. Dadurch werden sie in offenen Konflikt mit den USA geraten. Schon jetzt sind viele US-Kongressabgeordnete sehr über die zunehmenden Aktivitäten Chinas in Lateinamerika besorgt. Es wird die Monroe-Doktrin zitiert, die das Prinzip zum Ausdruck bringt, dass keine andere Macht einen größeren Einfluss auf Lateinamerika haben soll als die USA.
Stärkung der Arbeiterklasse
Diese enorme Entwicklung der chinesischen Ökonomie hat aber auch noch eine andere Seite. Hand in Hand mit der massiven Entwicklung der Produktivkräfte geht eine enorme Stärkung der Arbeiterklasse. Jährlich strömen rund 20 Millionen Menschen in die Städte. China ist von einem schnellen Transformationsprozess mit einer gewaltigen Entwicklung in den urbanen Zentren gekennzeichnet. Viele Bäuerinnen und Bauern versuchen der Armut auf dem Land zu entfliehen. Bis zu 40% der Bevölkerung leben inzwischen in den Städten. In China gibt es mittlerweile 166 Städte mit mehr als einer Million EinwohnerInnen. Über die nächsten 15 Jahre sollen weitere 300 Millionen ChinesInnen in Städte ziehen. Vor diesem Hintergrund boomt die Bauindustrie in China. Es gibt allein 38 Millionen BauarbeiterInnen. In mehr als 80 Städten werden derzeit U-Bahnen gebaut. All das wirkt sich mit einer wachsenden Nachfrage nach Stahl, Beton usw. positiv auf die Wirtschaft aus. Somit kommt es zu einer noch nie gesehenen Proletarisierung der chinesischen Gesellschaft.
Innerhalb der nächsten 15 Jahre soll es Schätzungen zufolge 800 Millionen städtische SlumbewohnerInnen geben. Das ist die größte Konzentration von Arbeitermassen in der Geschichte. Dieses Phänomen ist von beispiellosem Ausmaß. Es wäre die größte Migrationsbewegung der Geschichte. Noch nie zuvor hat es in einem Land eine so große Arbeiterklasse gegeben. Es wird die mächtigste Arbeiterklasse der Welt sein.
Diese Bauern und Bäuerinnen, die nun in die Städte ziehen, haben auf dem Land unter schrecklichen Bedingungen gelebt. Die Kollektive sind längst zerstört. Zwei Drittel der Landbevölkerung verfügen über keine Absicherung im Alter. Deshalb halten sie Ausschau nach Jobs in den Städten.
Wir haben solche Phänomene bereits mehrfach in der Geschichte gesehen: In den USA und in Europa mit den ImmigrantInnen aus Lateinamerika, Afrika und Asien. Sie sind bereit, die schlimmsten Jobs anzunehmen und unter schrecklichen Bedingungen zu leben, um von ihrem ohnehin geringen Einkommen etwas Geld an ihre Familien schicken können. Für diese Menschen stellt dies einen Weg dar, der Armut zu entfliehen, auch wenn sie selbst gerade einmal überleben können. Von all dem Reichtum, den sie produzieren, sehen sie recht wenig. In dieser Situation ist das Potential für zukünftige revolutionäre Bewegungen angelegt.
Die fortschrittliche Seite all dessen ist die Schaffung von Millionen von „TotengräberInnen“ des Kapitalismus - von Millionen von ProletarierInnen. Von diesem Standpunkt aus heißen wir die Entwicklung der Industrie auch willkommen. Wenn auch zu einem schrecklichen Preis, so wird damit doch die Klasse geschaffen, welche die Veränderung der Gesellschaft durchführen wird. In den Städten entstehen riesige Arbeiterviertel, in denen wir eine gewaltige Akkumulation von Widersprüchen beobachten können.
Auch wenn sich der chinesische Kapitalismus in atemberaubender Geschwindigkeit entwickelt, so war die Auflösung der Planwirtschaft ein reaktionärer Schritt rückwärts. Die gegenwärtige ökonomische Entwicklung könnte leicht übertroffen werden, die Ungleichgewichte, die chaotische Art und Weise des Wachstums, die wachsende soziale Polarisierung könnten verhindert werden, wenn es eine echte Arbeiterdemokratie geben würde.
Die Polarisierung zwischen den Klassen, zwischen Stadt und Land und zwischen den kapitalistischen Zonen und den Industriegebieten der alten Verstaatlichten hat enorme Ausmaße angenommen. Die soziale Ungleichheit ist unvorstellbar. Die reichsten 10% in den Städten besitzen 45% des Vermögens. Die ärmsten 10% haben nur 1,4%. Neben einer neuen wohlhabenden bürgerlichen Klasse existieren 200 Millionen Arbeitslose.
Die ungleichmäßige Entwicklung sieht man auch daran, dass verschiedene Regionen vom Wachstum im Osten und in den Küstenregionen überhaupt nicht profitieren. Damit droht aber auch ein Aufflammen der nationalen Frage in China. 100 Millionen Menschen gehören nationalen Minderheiten (TibetanerInnen, TurkmenInnen, MongolInnen, UigurInnen) an. Es gibt bereits jetzt immer wieder Zusammenstöße mit der Polizei. In dieser polarisierten Situation kann sich sehr schnell wieder die nationale Frage stellen.
Es stimmt, dass die wirtschaftliche Entwicklung den Lebensstandard gewisser Schichten verbessert hat. Doch garantiert das Wirtschaftswachstum noch nicht automatisch Stabilität. Es führt auch zu einer größeren Militanz der ArbeiterInnen und verursacht einen gesellschaftlichen Gärungsprozess. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen und die Art und Weise, wie der Reichtum verteilt wird, sind die Hauptursachen dafür. Die Massen hassen die Bürokratie dafür, dass sie die Errungenschaften der Vergangenheit zerstört.
Die Bedingungen der Arbeiterklasse im heutigen China gleichen sehr jenen in England, wie sie Friedrich Engels im 19. Jahrhundert beschrieben hat. 80% der Todesopfer bei Bergwerksunglücken weltweit stammen heute aus China., obwohl das Land nur 30% der weltweiten Kohleproduktion verzeichnet. 1991 starben 80.000 ArbeiterInnen bei Arbeitsunfällen. 2003 waren es 440.000. Der Druck auf die Arbeiterklasse ist unvorstellbar. China ist heute keine glückliche, stabile Gesellschaft, die mit Zuversicht in die Zukunft blickt. Unter den 20- bis 35-Jährigen ist Selbstmord die Todesursache Nr. 1. Jedes Jahr begehen 250.000 Menschen Selbstmord. Weitere 2,5 bis 3,5 Millionen begehen Selbstmordversuche. Millionen verlieren ihren Arbeitsplatz. Es gibt gewaltige Proteste, doch der Prozess Richtung Kapitalismus geht weiter.
Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass der Prozess in China große Ähnlichkeit mit der frühen Entwicklung des Kapitalismus in Russland vor mehr als hundert Jahren hat. Der Auflösung der alten landwirtschaftlichen Gemeinden folgte im späten 19. Jahrhundert die Entwicklung der Industrie, was zur Herausbildung eines jungen Proletariats führte, das sich vorrangig aus Bauern und Bäuerinnen rekrutierte. Die Schaffung eines solchen Proletariats und die schrecklichen Arbeitsbedingungen führten zur Revolution von 1905 und später zur Oktoberrevolution. Die Bedingungen für eine Verschärfung des Klassenkampfes in China werden nun gelegt - der wahrscheinliche Ausgang ist eine revolutionäre Erhebung.
Schon jetzt erleben wir bittere Streiks. Die Zahl der Arbeitskämpfe aller Art nahm im Jahr 2000 um 12,5% zu, und um 14,4% im Jahr 2001, in absoluten Zahlen waren das 155.000. 1999 gab es an die 7.000 „kollektive Aktionen“, wie man in China sagt. Dabei handelt es sich großteils um Streiks und Arbeitsniederlegungen, an denen mindestens drei Personen teilnahmen. 250.000 Menschen waren insgesamt daran beteiligt. Das macht eine Zunahme von 900% seit 1992 aus. Seit 1999 nahmen die Arbeitskämpfe jährlich um 20% zu. Das sind absolut gesehen noch immer relativ niedrige Zahlen, doch diese Bewegungen sind als Vorboten für zukünftige Entwicklungen zu sehen. Sie sind ein Anzeichen dafür, dass das Wirtschaftswachstum sich nicht mechanisch in soziale Stabilität übersetzt. Tatsächlich aber ist das genaue Gegenteil der Fall.
Die chinesische Ökonomie wird nun von den Gesetzen des Kapitalismus reguliert. Es gab enorme Investitionen auf der Grundlage der Perspektive eines schier unendlichen Wachstums des Weltmarktes. Doch dies kann nicht ewig so weitergehen. Ab einem gewissen Punkt wird auch China in die Krise schlittern. Die Auswirkungen werden weltweit zu spüren sein.
Die chinesische Arbeiterklasse ist jung. Es gibt noch immer eine zahlenmäßig recht große Arbeiterklasse in der verstaatlichten Industrie. Diese Schicht hatte trotz der bürokratischen Misswirtschaft einige wichtige soziale Errungenschaften durchsetzen können. Nun gehen diese Errungenschaft allesamt verloren. Die Beziehung zwischen den ArbeiterInnen und den Unternehmen, für die sie arbeiten, sind immer mehr wie im Westen. Das wird in der Zukunft ab einem gewissen Punkt zu einer Explosion des Klassenkampfes führen.
Die Position der Kommunistischen Partei
Gegenwärtig dominiert und kontrolliert die Kommunistische Partei die Situation. Doch welche Auswirkungen hat dieser Prozess auf die KP selbst? Die KP hat zwischen 60 und 70 Millionen Mitglieder. Das sind knapp 5% der Bevölkerung. In der Vergangenheit war die Partei ein Instrument der Staatsbürokratie, doch in der jüngsten Vergangenheit wurde es chinesischen KapitalistInnen erlaubt, der Partei beizutreten. Nun sind 30% der chinesischen KapitalistInnen Mitglieder der KP, was zeigt, dass sie der Meinung sind, ihre Interessen durch eine Parteimitgliedschaft besser vertreten zu können. Die KapitalistInnen sind im Gesamtmaßstab eine kleine Minderheit, doch es ist bezeichnend, dass eine solch große Zahl an KapitalistInnen in die Partei aufgenommen wurde.
Vor einigen Jahren wurde das halbe Zentralkomitee ausgetauscht. Offensichtlich wurden ältere BürokratInnen, die man als Hindernis für den kapitalistischen Restaurationsprozess sah, hinausgedrängt. Die KP wird also in zunehmendem Maße von den KapitalistInnen als ein Instrument zur Verteidigung ihrer Klasseninteressen eingesetzt. In den unteren und mittleren Ebenen der Partei gibt es mit Sicherheit viele FunktionärInnen, die an den „Kommunismus“ glauben, oder zumindest an das, was sie als Kommunismus erachten; einige werden auch mit den Ideen von Marx vertraut sein. Doch die Führung, welche an den Schalthebeln der Macht sitzt, führt den Prozess Richtung Kapitalismus.
Wie sieht die Zukunft der KP Chinas aus? Solange die Wirtschaft weiterhin so stark wächst, wird die Führung der KP wohl imstande sein, die Lage unter Kontrolle zu behalten. Sollte die Partei aber mit einer schweren Wirtschaftskrise, größeren Klassenkonflikten, nationalen Unruhen, sozialen Konflikten aller Art konfrontiert sein, dann könnte sich die Partei spalten. Denn die KP China ist keine „Partei“ im klassischen Sinn und daher auch nicht mit den kommunistischen Parteien Westeuropas unmittelbar vergleichbar. Vielmehr ist sie seit der Machtübernahme im Jahr 1949 Teil des Staatsapparates.
Unter dem Druck der Ereignisse könnte sie die Kontrolle über den Staat verlieren. Im Fall der russischen Bürokratie erfolgte dies in Form großer Erschütterungen. Die alte monolithische stalinistische Partei zerfiel in eine Vielzahl von Parteien, die allesamt unterschiedliche Interessensgruppen vertraten. In der Folge entstanden auch mehrere Kommunistische Parteien, welche zu echten Arbeiterparteien wurden. Doch solche Prozesse sind in China derzeit noch Zukunftsmusik. Gegenwärtig hat die chinesische Bürokratie alles fest im Griff. Und die Partei wird dazu eingesetzt den Kapitalismus weiterzuentwickeln.
Eines ist sicher: Das wird kein einfacher Prozess. Die neue kapitalistische Wirtschaft produziert neue Widersprüche, und das wird zu Spaltungen in der Parteihierarchie führen. In der Tat sehen wir solche Spaltungen schon jetzt, wie der gegenwärtige Konflikt in der Frage weiterer Gesetzesänderungen zur Regelung der Eigentumsrechte zeigt. Wie interpretieren wir diese Spaltungstendenzen in der KP? Unser Ausgangspunkt muss der Gesamtprozess sein, und wir müssen analysieren, wohin er sich entwickelt. Es wurde bereits der Punkt erreicht, wo kapitalistische Verhältnisse etabliert wurden. Es gibt einen Differenzierungsprozess zwischen Lohnarbeit und Kapital, Konkurrenz auf dem Markt, der Profit ist die Triebkraft der Ökonomie usw. Zwar gibt es noch wichtige Überbleibsel des alten Systems, doch diese werden entweder auf die Privatisierung vorbereitet oder sie funktionieren als staatskapitalistische Unternehmen. Wir müssen diesen Staatssektor in Betracht ziehen, doch wir müssen verstehen, dass nun der Privatsektor den dynamischsten Teil der Ökonomie darstellt und die Bewegung Richtung Kapitalismus konsolidiert werden konnte.
Innerhalb der Bürokratie eines so großen Landes gibt es zwangsläufig immer gegenläufige Tendenzen, verschiedene Fraktionen mit unterschiedlichen Interessen und Sichtweisen. Es gibt einen Flügel, der den Gesamtprozess beobachtet und über die drohende Instabilität besorgt ist. Premierminister Wen Jiabao und Staatspräsident und KP-Generalsekretär Hu Jintao teilen diese Sorgen, weil sie die Gefahr einer Polarisierung sehen. Dieser Flügel will soziale Reformen einführen, um den Druck auf die Massen abzufedern. Sie fürchten eine Revolution von unten und fordern daher verstärkte Investitionen in weniger entwickelte Gebiete und erhöhte Sozialausgaben.
Sie stellen aber den Kapitalismus nicht grundsätzlich in Frage und werden auch nicht aktiv eingreifen, um die Entwicklung und Konsolidierung des Kapitalismus zu aufzuhalten. Sie befürchten allerdings, dass es angesichts wachsender Ungleichgewichte und zunehmender sozialer Spannungen zu einer revolutionären Bewegung des Proletariats kommen könnte. Und sie haben allen Grund dazu. Ihr Dilemma besteht darin, dass die Beibehaltung der alten stalinistischen Strukturen ebenfalls Massenbewegungen ausgelöst hätte, was ab einem bestimmten Punkt wahrscheinlich zum Zusammenbruch dieses Systems geführt hätte. Deshalb wird dieser Flügel der Bürokratie auch nicht versuchen, den Prozess wieder rückgängig zu machen, sondern muss sich darauf beschränken, mit einigen sozialen Reformen den Druck auf die Massen abzufedern.
Die Bürokratie im Osten Chinas, die mit der neuen kapitalistischen Klasse stärker verbunden ist, sieht darin die Gefahr, dass bedeutende Ressourcen nicht mehr für die weitere Entwicklung der Industrie zur Verfügung stehen würden. Dieser Flügel steht vielmehr für eine weitere Beschleunigung des Prozesses und will den Überresten des alten Systems ein Ende setzen. Der gegenwärtige Konflikt ist daher auch keine Auseinandersetzung zwischen denen, die alles rückgängig machen wollen und dem pro-kapitalistischen Flügel. Es geht vielmehr um die Frage der Stabilität des Systems als Gesamtes. Die Ironie dabei ist, dass dieser Prozess längerfristig in der Spaltung der KP resultieren könnte, was zu noch größerer Instabilität führen würde.
Die Widersprüche in der Bürokratie spiegeln daher einen Konflikt über die nächsten Schritte bei der Gesetzesreform zur Regelung der Eigentumsverhältnisse wider. Unter dem Druck gewisser Kräfte wurde dieser Prozess bereits abgeschwächt. Das unterstreicht auch die Tatsache, dass wir es nicht mit einem geradlinigen Prozess zu tun haben. In mehr als einem Fall gab es - wie wir bereits gesehen haben - Phasen, in denen die Bürokratie den Prozess verlangsamen musste, ohne aber die Marktreformen je wieder aufzuheben.
Dieses temporäre und instabile Gleichgewicht kann solange aufrechterhalten werden wie das BIP mit rund 9% jährlich weiter wächst. Millionen Jobs gehen jedes Jahr in der verstaatlichten Industrie verloren. Gleichzeitig werden Millionen Arbeitsplätze in den kapitalistischen Sektoren geschaffen. Außerdem gelingt es, den Zustrom von LandarbeiterInnen in die Städte weitgehend zu absorbieren. Auch wenn es sich um Jobs zu niedrigen Löhnen handelt, so stellen sie im Vergleich zur Einkommenssituation in den ländlichen Gebieten doch eine Besserstellung dar. Die ArbeitsmigrantInnen arbeiten zwar unter schrecklichen Bedingungen, doch ihre Löhne reichen aus, um Geld an ihre Familien zurückschicken zu können usw.
Wie wir gesehen haben, funktioniert der Großteil der chinesischen Ökonomie auf einer kapitalistischen Grundlage. Nur ein Drittel des BIP wird noch vom staatlichen Sektor produziert. Es gibt noch immer genügend zu privatisieren, doch der staatliche Sektor dominiert schon längst nicht mehr. Mit dem Fortschreiten der Restrukturierungen und Privatisierungen gehen Millionen Jobs verloren. Unter diesen Bedingungen braucht es unbedingt ein nachhaltiges Wachstum.
Falls China über weitere zehn bis zwanzig Jahre ein jährliches Wirtschaftswachstum von 7-10% erreicht, könnte der Prozess der Urbanisierung und Industrialisierung relativ glatt über die Bühne gehen. Das hängt aber von der Entwicklung des Weltmarktes ab. China exportiert mehr als 50% seines BIP. Seine Lohnkosten sind extrem niedrig und es verfügt über sehr moderne Produktionsmittel - d. h. China verfügt über ein sehr hohes Produktivitätsniveau. Doch es gerät zusehends unter Druck. In einigen Sektoren der Weltwirtschaft verzeichnet man eine Verlangsamung des Wirtschaftswachstums. Die Ökonomien der Euro-Zone stagnieren oder wachsen nur sehr langsam. Weltweit gibt es Anzeichen für eine Überproduktionskrise - zum Teil auf Grund des Wachstums in China. Jeder signifikante Rückgang auf den Weltmärkten würde daher auch das chinesische Wirtschaftswachstum drastisch beeinflussen, wie dies bereits in der Vergangenheit Südkorea betroffen hat. China steht bereits jetzt vor einer Überproduktion in der Stahl-, Eisen- und Kohleindustrie aber auch in bestimmten Konsumgüterindustrien. Die Anzeichen für eine zukünftige Überproduktionskrise sind jedenfalls gegeben.
Der Internationale Währungsfonds (IWF) ist sich dieser Gefahren sehr genau bewusst. Trotz aller Rhetorik über die Effizienz von Märkten usw. besteht für ihn zurzeit in der Überproduktion das Hauptproblem der Weltwirtschaft. Laut IWF-ÖkonomInnen leiden drei Viertel aller chinesischen Industrien an überproportionalen Produktionskapazitäten - was im Gegenzug die Profitraten unter Druck bringt. Das sollte uns angesichts der unglaublichen Investitionsraten von 45% des BIP nicht verwundern. Solche Wachstumszahlen hat es noch nie in der Geschichte gegeben. Solange die Exporte weiter wachsen und der Westen bereit ist, sich dafür immer weiter zu verschulden, mag man über diese Probleme hinwegsehen können. Allerdings verdoppelt sich bei diesen Investitionsraten die Produktionskapazität Chinas alle vier bis fünf Jahre - das muss in einer Krise enden. Im „Staff Report for 2005“ beschäftigte sich der IWF mit dem Problem des chinesischen Investmentbooms. Die Investitionen führen zu einem drastischen Anstieg des Verhältnisses von eingesetztem Kapital zu eingesetzter Arbeit (in Marxscher Terminologie: der „organischen Zusammensetzung des Kapitals“). Seit 1984 stieg diese Kennzahl um 450%, was einen Rückgang der Investitionsrendite von 16% auf 12% bewirkte.
Der Bankensektor wird als erster von der Krise betroffen sein. Er wird sich auf einem Haufen fauler Kredite wiederfinden. Von dort ausgehend wird die Krise auf die Nachfrage nach Arbeitskräften durchschlagen - und letztlich zu gesellschaftlichen Auseinandersetzungen führen.
Gleichzeitig steht China auch unter dem Druck der USA, die Währung aufzuwerten. Ansonsten drohen hohe Zölle auf chinesische Exporte. Gegenwärtig wird im Kongress eine Gesetzesvorlage zur Einführung eines Zolls in der Höhe von 27,5% auf chinesische Importe diskutiert. Für 2008 plant China die Freigabe seiner Währung. Doch China ist nicht Haiti oder Nigeria, wo der IWF einfach kommen kann und alles bestimmt. China ist eine Supermacht und deshalb wird es in diesen Fragen zu heftigen Konflikten kommen.
Im Jahr 2005 gab es einen massiven Anstieg der chinesischen Exporte in die USA. Mit dem Multi-Fibre Agreement (Multifaserabkommen) wurde im Jänner letzten Jahres der Handel mit Textilien liberalisiert. Infolgedessen nahmen die chinesischen Textilexporte um 70% zu. China produziert mehr Textilien zu einem günstigeren Preis, und das bedeutet das Ende dieser Industrie in Europa. Heute ist China der Hauptanziehungspunkt für ausländische Direktinvestitionen. 2004 zog China 54 Milliarden US-Dollar an FDI, ein klares Zeichen für das Vertrauen der internationalen KapitalistInnen in die neuen kapitalistischen Verhältnisse, die in China heute vorherrschen.
China und die USA
Wie sieht die Perspektive für die nächsten Jahre aus? Einige KommentatorInnen meinen, dass ein Crash wie 1997 wahrscheinlich ist. Eine Überproduktionskrise entwickelt sich, was einen grundlegenden Systemwandel ausdrückt. Überproduktion ist ein typisches Charakteristikum einer kapitalistischen, nicht einer geplanten Wirtschaft. Wenn die chinesische Wirtschaft langsamer wachsen sollte, dann wird dies große Auswirkungen auf die USA und Asien haben. Malaysia z.B. steigerte seine Exporte nach China in den letzten fünf Jahren von 1 auf 7 Mrd. US-Dollar. Japan verfolgt in China ebenfalls wichtige Interessen - 16.000 japanische Unternehmen operieren mittlerweile in China.
Auf Grund ihrer enormen Wettbewerbsfähigkeit gerät die chinesische Industrie immer mehr in Konflikt mit dem US-Imperialismus. Die Beziehungen zwischen diesen beiden Supermächten sind sehr widersprüchlich. Zu den wichtigsten ZeichnerInnen von US-Staatsanleihen zählen China und Japan. Aus diesem Grund hat China auch ein Interesse daran, dass die US-Ökonomie nicht in die Krise schlittert, weil dies einer ihrer wichtigsten Exportmärkte darstellt. Sie wollen eine Krise in den USA verhindern. Sie würden ein gutes Verhältnis mit den USA bevorzugen, doch dies steht nicht zur Diskussion. Beide Staaten stehen in einem heftigen Wettbewerb um den Weltmarkt; die USA haben heute ein gewaltiges Handelsbilanzdefizit - ein Großteil davon resultiert aus den wirtschaftlichen Beziehungen zu China. Das wiederum provoziert Reaktionen in den USA selbst. Jene US-Konzerne, die in China investiert haben, machen dort enorme Profite. Sie können in China billig produzieren und verkaufen in den USA ihre Waren zu Weltmarktpreisen. Praktisch jeder größere multinationale Konzern ist mittlerweile in China aktiv. Wie aber können dann die USA die Macht Chinas zügeln, wenn ihre Ökonomie und ihre großen Konzerne so sehr von der chinesischen Wirtschaftsentwicklung abhängen? Hier sind somit äußerst widersprüchliche Kräfte am Werk, und dieser Konflikt wird in Zukunft weiter zunehmen.
Eine neue Revolution kündigt sich an
Hand in Hand mit der Entwicklung des Kapitalismus geht auch ein wachsender Prozess der Differenzierung zwischen den Klassen. Das legt die Grundlage für Klassenkämpfe in China. China stellt heute in der Tat weltweit eine der Gesellschaften mit der größten sozialen Ungleichheit dar. Wir sind bereits weiter oben auf die Ungleichheit in den Städten eingegangen. Das Gesamtbild sieht so aus, dass die reichsten 20% der Bevölkerung 50% des gesamten nationalen Vermögens ihr eigen nennen, während die unteren 20% lediglich über 4,7% verfügen.
Diese Zahlen stammen aus einem UNO-Bericht und wurden von der Xinhua Nachrichtenagentur veröffentlicht. Im gleichen Artikel heißt es weiters: „Ein Bericht des Instituts für Arbeits- und Lohnstudien des Ministeriums für Arbeit und soziale Sicherheit zeigt auf, dass sich seit 2003 Chinas Einkommensunterschiede rapide verschlechtert und nun den ‚orangen Bereich' erreicht haben... Falls keine effektiven Maßnahmen gesetzt werden, könnte sich die Lage weiter verschlechtern und den ‚roten Bereich' erreichen.“
Dieser UNO-Bericht stützt sich auf den Gini-Koeffizienten, mit dem gemessen wird, wie sehr die Einkommensverteilung in einer Gesellschaft von einer Gleichverteilung abweicht. Ein Wert von null bedeutet ein absolut einheitliches Einkommensniveau, ein Wert von eins zeugt von völliger Ungleichheit. In China hat dieser Koeffizient den Wert 0,45 erreicht. International anerkannten Standards zufolge droht die Situation in Ländern mit einem Gini-Koeffizient von über 0,40 instabil zu werden. In China hat man diesen Wert also übersprungen - und er wächst weiter.
Wie die Nachrichtenagentur Xinhua schreibt: „Falls sich dieser Trend so fortsetzt, dann wird die Zielvorgabe des Landes nach allgemeinem Wohlstand für all seine EinwohnerInnen nicht zu erreichen sein, und die wachsende soziale Kluft könnte zu sozialen Unruhen führen.“ Wir sehen neue gewaltige Wolkenkratzer, die in Chinas modernen Städten wie Pilze aus dem Boden schießen. Doch rund um sie breitet sich in den urbanen Zentren auch die Armut aus. Dies allein schon wird ausreichen, um in China den Klassenkampf anzuheizen.
Worin liegt in dieser Situation die Aufgabe von MarxistInnen? In erster Linie geht es natürlich darum zu erklären, was tatsächlich in China passiert. Wenn wir mit ArbeiterInnen, StudentInnen und ehrlichen KommunistInnen in China in einen Dialog treten wollen, dann müssen wir sicherstellen, dass unsere Analysen mit der realen Situation auch tatsächlich übereinstimmen. Deshalb müssen wir alle Aspekte der chinesischen Ökonomie, Gesellschaft und Politik im Detail studieren.
Es wäre ein schwerer Fehler, wenn wir uns diesem komplexen, widersprüchlichen und historisch völlig neuen Prozess auf der Grundlage vorgefertigter Formeln nähern würden, die nicht mit den realen Erfahrungen von ArbeiterInnen und Jugendlichen in China selbst korrespondieren. Mit einer solchen Herangehensweise würden wir nicht das Geringste erreichen.
Wir müssen die Traditionen in China in Betracht ziehen. In Russland gab es das Vermächtnis der Bolschewiki, von Lenin und Trotzki. In China fehlt eine solche Tradition jedoch. Die wichtigste Tradition in China ist der Maoismus. Daneben erinnert man sich aber auch an Chen Tu-hsiu (1879-1942), einem der Gründer der KP Chinas, der sich nach einer Reihe von Erfahrungen mit dem Stalinismus dem Trotzkismus zuwandte.
Chen stand stark unter dem Einfluss der Oktoberrevolution von 1917. Er verstand, dass jeder soziale Fortschritt davon abhing, ob es gelingen würde, Kapitalismus und Großgrundbesitz zu überwinden. Er gehörte der Führung der anti-imperialistischen „4. Mai-Bewegung“ des Jahres 1919 an. Im Jahr darauf schloss er sich jenen revolutionären Kräften an, welche die KP Chinas gründeten, die im Juli 1921 in Shanghai ihre erste nationale Konferenz abhielt.
Sein Schicksal war tragisch. Aufgrund der von Stalin vorgeschlagenen Strategie für die chinesische Revolution von 1925-27 erlitt die kommunistische Bewegung eine schwere Niederlage. Die Komintern zog aus diesem Versagen aber nicht die erforderlichen Konsequenzen, sondern gab Chen die Schuld für die Ereignisse. Im Jahre 1927 wurde Chen abgesetzt. Als er daraufhin eine Diskussion über den Kurs der Komintern verlangte, wurde er 1929 ausgeschlossen. In der Folge schloss er sich der Linken Opposition um Trotzki an.
Es ist erfreulich, wenn heute in China Vereinigungen entstehen, die die Schriften von Chen Tu-hsiu studieren. In der jüngsten Zeit kam es vor allem unter Studierenden zur Gründung von marxistischen Diskussionszirkeln. Es gibt eine gewisse Schicht, die die wirklichen Ideen des Marxismus unbedingt entdecken will. Dies spiegelt den Wunsch nach einer wirklich egalitären Gesellschaft wieder - nach einer echten sozialistischen Arbeiterdemokratie.
Auch wenn es heute noch Überbleibsel des alten Systems in Form des staatlichen Sektors und des Staatsapparates gibt, so stehen wir in China heute vor der grundlegenden Aufgabe einer sozialen Revolution. Der Großteil der Ökonomie ist gegenwärtig in privater Hand. Die kapitalistische Restauration ist eine nicht mehr zu leugnende Tatsache. All das Gerede vom „Sozialismus mit chinesischen Besonderheiten“ ist ein bloßes Feigenblatt, das niemand mehr ernst nimmt, auch nicht die chinesische Bürokratie. Auch wenn es gegenläufige Tendenzen gibt, so hat der Prozess aus unserer Sicht einen Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr geben kann.
Der Staatsapparat war und ist jener des alten, monströsen, totalitär-bürokratischen Regimes. Er vereint die abscheulichsten Merkmale des Kapitalismus mit jenen des Stalinismus. Der Form nach ist der Staatsapparat stalinistisch, dem Inhalt nach bereits bürgerlich. An einem gewissen Punkt wird sich dieser Widerspruch in einer revolutionären Bewegung entladen.
China ist mittlerweile zu einer echten Supermacht avanciert. Ihr weiteres Schicksal ist abhängig von den weltweiten Entwicklungen, besonders von der Entwicklung der Weltwirtschaft. Gleichzeitig können aber die Ereignisse in China selbst große ökonomische und politische Auswirkungen auf die restliche Welt haben.
Die chinesische Arbeiterklasse wird in der kommenden Periode eine Schlüsselrolle einnehmen. Napoleon Bonaparte soll einmal gesagt haben: „China ist ein schlafender Riese. … wenn er erwacht, wird die Welt erzittern.“ In Anlehnung an Napoleon können wir sagen: Heute ist das chinesische Proletariat dieser schlafende Riese. Wenn es sich erhebt, wird es keine Macht der Welt aufhalten können.