In der aktuellen Debatte über Prostitutionsverbote oder -legalisierungen stellen einige linke Organisationen, die ein marxistisches Selbstverständnis haben, die These auf, dass Prostitution der Verkauf einer Dienstleistung sei, der die Form von Selbständigkeit oder Lohnarbeit haben könne. Dabei habe die verkaufte sexuelle Dienstleistung einen Gebrauchs- und einen Tauschwert wie jede andere Ware auch. Von Mario Wassilikos
Der Gebrauchswert sei die Befriedigung der Sehnsüchte des Freiers bzw. Käufers, die Bereitstellung sexuellen Genusses, der Tauschwert der Marktpreis für den Sexdienst. Wenn die Prostituierte nicht für sich selbst, sondern für ein Individuum oder ein Unternehmen arbeite, sei dann Prostitution eine Lohnarbeit, da sie ja ihre Arbeitskraft einem Arbeitgeber verkaufe. Dabei sei der Tauschwert dieser Arbeitskraft, also ihr Verkaufspreis auf dem Arbeitsmarkt in der Form des Lohns, den die Prostituierte erhält, durch das zu ihrer Erhaltung oder Reproduktion gesellschaftlich notwendige Arbeitsquantum bestimmt. Da sie im Normalfall in einem Lohnverhältnis mehr Stunden arbeite als zur Erhaltung ihrer Arbeitskraft notwendig sei, schaffe sie einen Mehrwert, den sich ihr Arbeitgeber (Zuhälter, Bordell- oder Bareigentümer etc.) in der Form des Profits aneigne. Somit sei Prostitution sogar eine produktive Arbeit im Sinne des Kapitalismus.
Doch ist das tatsächlich so? Ist Prostitution ein Verkauf einer Dienstleistung, eine Arbeit wie jede andere auch? Ist sie sogar produktiv? Als Marxist sollte man zur Beantwortung dieser Fragen den Dialektischen Materialismus, die Arbeitswertlehre und allgemeine volkswirtschaftliche Betrachtungen heranziehen, also rational bzw. wissenschaftlich argumentieren, um nicht in Idealismus und/oder Moralismus zu verfallen. Im Kapitalismus ist eine Dienstleistung ein ökonomisches Gut, eine auf einem Markt gehandelte Ware, mit der von einer natürlichen oder juristischen Person zu einem Zeitpunkt oder in einem Zeitrahmen eine Leistung zur Deckung eines Bedarfs bzw. zur Befriedigung eines Bedürfnisses erbracht wird. Der Erbringer einer solchen Leistung ist ein Dienstleister. Dieser kann selbständig oder als Lohnarbeiter tätig sein. Als Lohnarbeiter verkauft der Dienstleister die Vernutzung seiner Arbeitskraft (den Gebrauchswert seiner Arbeitskraft) einem Unternehmer und erhält dafür Lohn für seinen Lebensunterhalt (den Preis bzw. Tauschwert seiner Arbeitskraft). Karl Marx definierte im „Kapital“ Arbeitskraft richtig als „den Inbegriff der physischen und geistigen Fähigkeiten, die in der Leiblichkeit, der lebendigen Persönlichkeit eines Menschen existieren und die er in Bewegung setzt, sooft er Gebrauchswerte irgendeiner Art produziert“.
Was macht nun die Prostituierte? Verkauft sie ihre Arbeitskraft in der Form eines bestimmten Dienstes wie z. B. eine Friseurin, die ihre Arbeitskraft in der Fähigkeit des Haareschneidens, -pflegens, -waschens etc. verkauft? Oder ist der Verkauf des Rechts, dass andere Menschen innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens die Körperöffnungen der Prostituierten penetrieren oder ihre sexuellen Bedürfnisse an ihrem Körper auf andere Art befriedigen dürfen, doch etwas völlig anderes? Die Antwort ist eindeutig: Ja! Denn während die oben genannte Friseurin nur bestimmte Fähigkeiten verkauft, stellt bei der Prostituierten ihr Körper immer auch den Gegenstand dar, den der Freier zur Befriedigung seines Bedürfnisses für eine bestimmte Zeit kauft. Und das unabhängig vom sexuellen Dienst. So argumentiert eine anonyme Prostituierte in einer Ausgabe der „Hydra Nachtexpress, Zeitung für Bar, Bordell und Bordstein“ von 1984: „Natürlich: Fast jedes kapitalistische Arbeitsverhältnis hat insbesondere für Frauen latenten Prostitutionscharakter. Zu der Arbeitsleistung als Werkzeug wird häufig eine persönliche Aufopferung und Verstellung verlangt. […] Dennoch glaube ich, daß die „Prostitution“ einer Fabrikarbeiterin auf einer qualitativ anderen Stufe liegt als die einer sexuellen Prostituierten. Die erste geht trotz aller entwürdigenden Arbeit, die sie verrichten muß, noch im Kostüm umher und muß noch gesiezt werden, hat also noch einen kleinen intimen Bereich, den sie nicht verkauft. Die sexuelle Prostituierte dagegen verkauft sich nicht als Werkzeug Arbeitskraft, sondern sie verkauft dem Freier den Genuß ihrer allseitigen, umfassenden Unterwerfung. Sie muß sich als Mensch selber zur Vernutzung anbieten und wird mit Haut und Haaren, mit ihrer ganzen Ausstrahlung konsumiert.“
Im Gegensatz zur oben genannten Friseurin verkauft die Prostituierte tatsächlich nicht eine physische oder geistige Fähigkeit, die in der Leiblichkeit des Menschen existiert, sondern für eine bestimmte Zeit ihre Leiblichkeit selbst. Denn während der Käufer bei der einen nur eine bestimmte Fähigkeit konsumiert, wird bei der anderen neben den speziellen Diensten immer der gesamte Körper mitkonsumiert. Oder anschaulicher formuliert. Selbst bei Handentspannung dient der gesamte Körper der Prostituierten als Mittel zur Befriedigung, da sie ja vom Kunden gesehen, gerochen, gehört und eventuell auch berührt wird, was die sexuelle Erregung immer weiter steigert, bis sie sich schließlich im Höhepunkt entlädt, bis also der Gebrauchswert konsumiert worden ist. Bei der Friseurin hingegen spielt nur die Fähigkeit des Haareschneidens, -pflegens etc. bei der Befriedigung der Bedürfnisse eine Rolle, da der Kunde seine Haare geschnitten, gepflegt oder gewaschen haben will und dafür nicht die Konsumation ihrer gesamten Leiblichkeit nötig ist. Demnach wird bei der Prostituierten nicht nur ihre Arbeitskraft im Sinne einer speziellen Fähigkeit, sondern ihr Körper an sich zur Ware.
Das ist ein wesentliches strukturelles Merkmal, das Prostitution mit der Sklaverei gemein hat. Denn beim Kauf eines Sklaven wird nicht das Recht der Nutzung einer bestimmten Fähigkeit, sondern die Verfügungsgewalt über seinen Körper, über den Sklaven als Ganzes erworben. Er kann also wie die Prostituierte in seiner Gesamtheit konsumiert werden. So wird er wie sie selbst zur Ware mit einem Gebrauchs- und Tauschwert. Im Zusammenhang mit Zwangsprostitution und Menschenhandel ist Prostitution dann tatsächlich Sklaverei. Dabei werden Frauen aus den Armuts- und Elendsregionen der Welt mit falschen Versprechungen von „Arbeitsvermittlern“ in die Wohlstandsregionen gelockt. Dort angekommen müssen sie jedoch bei ihnen die Kosten für Transport, Verpflegung, Unterkunft etc. (inklusive einer gewaltigen Gewinnspanne) begleichen. Können sie das nicht, was in der Regel der Fall ist, müssen sie diese Reisedienstleistung, die sie in Anspruch genommen haben, in der Form der Prostitution abarbeiten. Somit sind sie der Willkür der „Vermittler“ voll und ganz ausgeliefert. Sie sind in die Schuldknechtschaft, eine spezielle Form der Sklaverei, geraten. Doch der Verlust über die Verfügungsgewalt der eigenen Person ist nicht der Regelfall. So gibt es auch unzählige Prostituierte, die „nur“ wegen ökonomischer Zwänge tätig sind. Meistens entstammen sie dem Heer der Arbeitslosen, von denen einige mangels anderer Erwerbs- bzw. Einnahmemöglichkeiten als letzten Ausweg ihren Körper verkaufen müssen. So berichtet „Der Standard“ vom 3. März 2013, dass seit Ausbruch der Krise in Griechenland die Prostitution in Athen um etwa 1500 % angestiegen sei.
Nun zur Frage der Produktivität. Für die Prostitution wird im Normalfall keine Investition, kein Kapitalvorschuss, der in den Produktions- und Verwertungsprozess des Kapitals eintritt und sich somit akkumuliert bzw. vermehrt, benötigt. Der Körper, der für eine bestimmte Zeit verkauft, also vermietet, wird, ist ja schon vorher vorhanden. Die Ware muss demnach nicht vorher produziert werden, um dann verkauft und konsumiert werden zu können. Es findet hier keine klassische Warenproduktion statt. Prostitution bewegt sich daher im Normallfall außerhalb der Kapitalreproduktion und -akkumulation. Sie ist also, marxistisch betrachtet, unproduktive Arbeit. Das ist Arbeit, „die sich nicht gegen Kapital, sondern unmittelbar gegen Revenue (= Mittel für Privatkonsum, Anm. d. Verf.) austauscht, also gegen Salair (= Lohn, Anm. d. Verf.) oder Profit (natürlich auch gegen die verschiedenen Rubriken, die als Teilhaber am Profit des Kapitalisten partizipieren, wie Zins und Renten)“, wie Karl Marx in seinen „Theorien über produktive und unproduktive Arbeit“ schrieb. Ja selbst im Zusammenhang mit Zuhälterei findet keine Mehrwertproduktion im Sinne des Kapitalismus statt. Der Zuhälter muss die Prostituierte lediglich davon überzeugen, sie vor gewalttätigen Freiern oder Konkurrentinnen beschützen, für sie Kunden vermitteln und/oder für sie ausständiges Geld bei zahlungsunwilligen Freiern eintreiben zu können. Dazu benötigt er keinen Kapitalvorschuss. Als Gegenleistung dafür verlangt er einen Teil von ihren Einnahmen, die sich aus Revenue speisen. Somit ist Zuhälterei nichts anderes als eine Form der Schutzgelderpressung. Prostitution kann allerdings auch die Form von kapitalistischer Lohnarbeit annehmen. So kann ein Unternehmer als Bordellbetreiber einen Kapitalvorschuss leisten, der sich in konstantes (z. B. Kosten für Immobilien, Möbel etc.) und variables Kapital (Lohn für die angestellten Prostituierten) aufteilt. In diesem Fall arbeitet eine Prostituierte im Regelfall mehr, als zur Erhaltung ihrer Arbeitskraft notwendig ist, da ihr Arbeitgeber Gewinn machen will. Sie schafft also einen Mehrwert, den sich der Bordellbetreiber in der Form des Profits aneignet.
Von diesem verwendet er einen Teil für den Privatkonsum, den anderen kann er in die Erweiterung des konstanten und variablen Kapitals investieren. Diesen Eintritt der Prostitution in die kapitalistische Normalität fordern die BefürworterInnen der Prostitutionslegalisierung bzw. -liberalisierung. Dabei wird jedoch übersehen, dass hier nicht nur eine warenförmige Zurichtung der menschlichen Arbeitskraft und der Bedürfnisse, die sie erfüllt, stattfindet, wie es im Kapitalismus, der Warenproduktion auf der höchsten Stufe ihrer Entwicklung ist, üblich ist, sondern, dass hier der menschliche Körper selbst zur Ware wird. Und da sich mehrheitlich die Frau prostituiert, ist dieser Prozess nichts anderes als die warenförmige Zurichtung der Frau selbst. Sie wird dadurch zu einem Objekt der kommerziell organisierten Bedürfnisbefriedigung. Und diese Entwicklung wird von den BefürworterInnen von totalen Prostitutionslegalisierungen unterstützt. Daher ist für alle, die ein emanzipatorisches Menschenbild haben, der Kampf um eine soziale, kulturelle und arbeitsrechtliche Normalisierung von Prostitution absolut unannehmbar. Verbote, indem Freier, Prostituierte oder beide strafrechtlich verfolgt werden, sind allerdings ebenso kontraproduktiv, wie z. B. Norwegen, Schweden, Thailand oder die USA überaus deutlich zeigen. Denn, „um uns von der Prostitution zu befreien, müssen wir uns von den Eltern der Prostitution, den gesellschaftlichen Bedingungen befreien, die diese hervorbringen“, wie Eleanor Marx-Aveling, eine Tochter von Karl Marx, erkannte.