Das Buch „Gender Trouble“ von Judith Butler eröffnete die Debatte rund um die Queer Theorie, die auch in der österreichischen Linken ihren Platz gefunden hat. Dies macht eine marxistische Analyse notwendig. Von Natalie Ziermann.

Die vorherrschende Rechtfertigung für die Rolle der Frau in der Gesellschaft ist, dass die biologischen Geschlechter gewisse Eigenschaften mit sich brächten, die sie für gewisse Rollen auszeichnen würden. Als MarxistInnen sagen wir, die emotionale, schüchterne Frau mit der sozialen Ader und der rationale, selbstbewusste Mann mit technischer Begabung sind keine von der Natur gegebenen Eigenschaften, sondern erlernte gesellschaftliche Zuschreibungen.

Die gesellschaftlichen Zuschreibungen von Rollenbildern müssen erst anerzogen werden, Erziehung findet dabei aber nicht in einer materiell „freien“ Umgebung statt. Im Gegenteil: Diese Zuschreibungen sind nichts anderes als gesellschaftliche (Ideal)Bilder, die Frauen (und Männer) im Kapitalismus aus Sicht der herrschenden Klasse erfüllen sollen, um so einen möglichst reibungslosen Ausbeutungsablauf der Arbeiterklasse als Ganzes zu gewährleisten. Deswegen werden diese Rollen auch immer wieder über alle möglichen Wege reproduziert: Angefangen von der (vor-)schulischen und universitären Ausbildung, über die Medien, die Werbung bis hin zur staatlichen Durchsetzung – der Gesetzgebung.

In der menschlichen Urgesellschaft, also vor der Herausbildung der Klassengesellschaft und damit verbunden der patriarchalen Kleinfamilie, gab es dementsprechend auch keine Frauenunterdrückung und keine damit im Zusammenhang stehenden, gesellschaftlichen Rollenzuschreibungen. Diese entstanden erst mit dem Privateigentum und den daraus entstandenen gesellschaftlichen Klassen. Für das Verständnis der Frauenunterdrückung ist in unseren Augen das Verständnis für ihre materielle Grundlage innerhalb des kapitalistischen Ausbeutungssystems zentral.

Die theoretischen Grundlagen

Die Queer Theorie hat ihren Ursprung Anfang der 1990er Jahre in den USA. Für die Entwicklung waren zwei Faktoren wesentlich, nämlich der anti-normative Aktivismus und das Theoriegebilde des Poststrukturalismus. Das Wort queer ist im ursprünglichen Sinn ein Schimpfwort, mit dem Menschen aber auch Dinge bezeichnet werden die von der Norm abweichen.

Queere AktivistInnen versuchten gegen die heterosexuelle bürgerliche Kleinfamilie aber auch gegen den lesbischen und schwulen Mainstream (weiße, der Mittelschicht angehörende Schwule und Lesben) aufzubegehren. Sie verstanden sich als ein Bündnis von Randgruppen, das trotz seiner Unterschiede das gemeinsame Ziel verfolgte, „Identität“ neu zu definieren.

Das theoretische Konstrukt dazu lieferte der Poststrukturalismus. Er übt Kritik an groß angelegten Theoriegebäuden, welche die Welt als Ganzes beschreiben wollen. Eines seiner wesentlichen Elemente ist, dass die Sprache die Wirklichkeit nicht nur abbildet, sondern sie auch herstellt. Das Verfahren des Poststrukturalismus, die Diskursanalyse, analysiert deswegen auch sprachliche Handlungen, welche ja laut dieser Theorie die Wirklichkeit konstruieren. Man geht davon aus, dass nichts außerhalb des Diskurses existiert. Und selbst wenn es außerhalb existieren würde, könnten wir es nicht wahrnehmen.

Feministische Theoretikerinnen haben diese idealistische Theorie aufgegriffen, aber dem Poststrukturalismus gleichzeitig Geschlechtsblindheit vorgeworfen. Dies versuchen sie mittels der Queer Theorie zu ändern.

Im Folgenden werden die wichtigsten Elemente der Queertheorie kurz skizziert: Judith Butler und ihre MitstreiterInnen stellen die These auf, dass das biologische Geschlecht sozial konstruiert sei. Laut Butler formt der „Diskurs“ eine körperliche Gestalt. Diskurs ist bei ihr jedoch weiter gefasst, als nur die Sprache, er inkludiert quasi jede Handlung. Wir könnten demnach Menschen auch aufgrund von anderen Merkmalen einteilen. Beispielweise könnten wir alle Menschen mit blonden Haaren als Männer bezeichnen und alle Menschen mit braunen Haaren als Frauen. Dann würde, wenn ein blondes Kind auf die Welt kommt, dieses sofort als Junge bezeichnet werden, dessen Geschlecht so hergestellt und durch permanente Wiederholung manifestiert werden.

In diesem Zusammenhang kritisiert Butler auch die sogenannte „heterosexuelle Matrix“. Diese bestehe aus drei Dimensionen, nämlich dem biologischen Geschlecht, dem sozialen Geschlecht und dem erotischen Begehren. Diese drei Kategorien sind nach Butler voneinander abhängig. Das heißt, je nach biologischem Geschlecht wird auch ein bestimmtes soziales Geschlecht und damit verbunden ein bestimmtes sexuelles Begehren (nämlich ein heterosexuelles) zugeordnet. Dies funktioniert nur, wenn gleichzeitig die Abweichung (soziales Geschlecht „passt nicht“ zum biologischem Geschlecht, Homosexualität) existiert.

Zur Untermauerung dieser These werden oft Kulturen herangezogen, die mehr als zwei Geschlechter kennen. In Samoa gibt es beispielsweise ein „drittes Geschlecht“ – nämlich Menschen mit männlichen Genitalien, die in ihrer sozialen Rolle „weiblich“ sind. Die Bevölkerung in Amarate – einer Landstadt in Bolivien – kennt sogar 10 soziale Geschlechter. Hier haben nicht nur Menschen ein „Geschlecht“ sondern auch Gegenstände, Berge, Äcker etc. Zusätzlich zum biologischen Geschlecht hängt das soziale Geschlecht einer Person auch von dem „Geschlecht“ ihres Ackers sowie von ihrem Amt ab. Im Laufe ihres Lebens machen die EinwohnerInnen somit auch öfter einen „Geschlechtswechsel“ mit.

Was kann man nun laut Butler tun, um aus der heterosexuellen Matrix auszubrechen beziehungsweise die Zweigeschlechtlichkeit zu überwinden? Da es für sie keinen Raum außerhalb des herrschenden Diskurssystems gibt, ist die Handlungsmöglichkeit auch auf diesen beschränkt. Dies geschieht durch sogenannte Sprechakte oder Gegendiskurse, mit deren Hilfe der normative Diskurs hinterfragt und schlussendlich gebrochen werden soll (z.B. „Warst du schon mal in einer Heterobar?”, „Hast du schon mal eine Frau in einem Kleid gesehen?“).

Marxistische Kritik

Wie wir schon gesehen haben, widersprechen sich Queer Theorie und Marxismus in einem wesentlichen Punkt, nämlich den Ausgangspunkt für ihren Blick auf die Welt und die Gesellschaft. Für MarxistInnen ist die materielle Basis ausschlaggebend für unser Handeln. „Das (gesellschaftliche) Sein bestimmt das Bewusstsein.“ Das heißt die ökonomischen Bedingungen sind die Grundlage und somit wesentlich für die gesellschaftlichen Verhältnisse und deren Ideologien (die „Diskurse“). Die Queertheorie wiederum verfolgt einen idealistischen Ansatz. Der Diskurs (sprich das Bewusstsein) bestimmt die Materie (das Sein). Butler entkoppelt den Begriff „Geschlecht“ ganz von seiner biologischen Grundlage. Die oben beschriebene breite Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Rollen in vorkapitalistischen Gesellschaften ist eigentlich ein brillanter Beweis dafür, dass der entscheidende Faktor für die Ausprägung der Rollenbilder von Mann und Frau die gesellschaftlichen Verhältnisse sind. Das heißt auf die konkrete heutige Situation umgelegt, dass die Rollenbilder in den Ausbeutungsverhältnissen der kapitalistischen Gesellschaft begründet liegen. Das biologische Geschlecht selbst ist in der heutigen Gesellschaft nur die Begründung der Herrschenden, nicht der Grund für Unterschiede in den Rollenbildern. Butler stellt das auf den Kopf: Sie zieht den Schluss, dass die Ausdifferenzierung der Rollen ein Beweis dafür sei, dass auch das biologische Geschlecht selbst nur eine Zuschreibung wäre!

Dabei lässt sie auch vollkommen außer Acht, wie das heutige „Diskurssystem“ entstanden ist. Karl Marx und Friedrich Engels schreiben bereits im kommunistischen Manifest: „Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse”. Der „Diskurs“ ist also nichts, was über der Gesellschaft schwebt, sondern etwas, das sich mit den ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen ändert. Auch hier muss man die Annahmen der Queer Theorie vom Kopf auf die Füße stellen. Wenn man das „Diskurssystem“ ändern will, muss man die materiellen Bedingungen ändern.

Schlussendlich ergibt sich daraus ein Problem der konkreten politischen Herangehensweise. Der berühmte Satz aus der Queer Theorie: „Es gibt so viele Geschlechter, wie es Menschen gibt“ verdeutlicht das Problem sehr gut. Wie kann man beispielsweise für Frauenrechte kämpfen, wenn man Frauen nicht mehr als solche benennen darf? Die Queer Theorie verfällt hier in eine vollkommen individualistische Herangehensweise, in der im Endeffekt jedeR nur mehr für sich selbst eintreten kann. Das ist typisch für kleinbürgerliche Ideen, die ihren Bezugspunkt nicht in einer gesellschaftlichen Klasse, sondern im Individuum sehen. Damit ist sie als Ideologie auch wie geschaffen für die Bürokratie in der Arbeiterbewegung. Jene braucht zwar eine Einbindung vieler Individuen, will aber keine kollektive Klassenbewegung, damit sie weiterhin die Zügel in der Hand behalten kann.

So ignoriert die Queer Theorie auch die Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der Frauen, der homosexuellen oder queeren Menschen der Arbeiterklasse angehören und deren Interessen und Probleme teilen. Hohe Mieten, niedrige Löhne und steigende Lebenserhaltungskosten treffen sie genauso wie heterosexuelle Arbeiter. Butler sieht die Unterdrückung und auch den Widerstand gegen ebendiese auf einer reinen Bewusstseinsebene an. Ein kollektiver Kampf wird so quasi unmöglich gemacht und Handlungsmöglichkeiten rein auf das Individuum selbst beschränkt. Dies ist durchaus im Sinne Butlers, die Widerstandsmöglichkeiten ohnehin nur im Auflehnen des einzelnen Individuums sieht. Das ist wohl der Aspekt, der den Herrschenden am meisten in die Hände spielt. Nichts ist besser für die KapitalistInnen, als wenn der Kampf um die „persönliche Befreiung“ den gemeinschaftlichen Kampf der Arbeiterklasse ersetzt.

Für uns ist klar, dass kein Mensch aufgrund seines Geschlechtes, seiner sexuellen Orientierung etc. diskriminiert werden darf. Es soll auch jedem Menschen absolut freigestellt sein, ob er oder sie sich selbst als homo, bi, trans, hetero, queer oder etwas ganz anderes bezeichnet. Wir unterstützen deswegen einen Kampf gegen spezifische Unterdrückung und für entsprechende Rechte.

Wie die Geschichte zeigt, waren vor allem revolutionäre Bewegungen entscheidend für Fortschritte in diese Richtung. Homosexuelle Handlungen wurden in der Neuzeit das erste Mal von der französischen Revolution entkriminalisiert. Die frühe Sowjetunion entkriminalisierte sie 1922 ebenfalls, allerdings wurde diese Errungenschaft 11 Jahre später mit dem Sieg des Stalinismus wieder beseitigt. Viele der „historisch gewachsenen Demokratien“ wie die USA schafften das erst Jahrzehnte später unter dem Druck der beginnenden LGBT-Bewegung. Österreich legalisierte die Homosexualität zum Beispiel erst 1971.

Für uns als MarxistInnen bedeutet das, dass wir das idealistische Konstrukt der Queer Theorie ablehnen und stattdessen auf den realen Klassenkampf setzen. Außerdem ist es nicht die Aufgabe verschiedener Teile der Arbeiterklasse, die besonderen Unterdrückungsmechanismen ausgesetzt sind, alleine und isoliert voneinander gegen diese zu kämpfen, sondern die Aufgabe der Gesamtbewegung. Nur gemeinsam können wir gegen Spaltungsmechanismen der herrschenden Klasse erfolgreich kämpfen und die Grundlage für alle Unterdrückungsmechanismen, den Kapitalismus, besiegen.


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