Die Sozialistische Jugend will das Konzept der Definitionsmacht (Defma) als Waffe gegen den Sexismus nutzen. Doch dieses Konzept reduziert einen kollektiven Kampf auf eine individuelle Ebene, zeigt Stefanie Geschwendtner.
Die Gesellschaft, in der wir leben, ist geprägt von vielfachen Unterdrückungs- und Spaltungsmechanismen. Seit der neolithischen Revolution bis zur heutigen modernen Gesellschaft begleiten Unterdrückungsmechanismen die Klassengesellschaft, um die Menschen dem herrschenden System dienlich zu machen. Sexismus ist eines dieser Mechanismen. Sein Fortbestand ist im Interesse des kapitalistischen Systems um die wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten, die es erschaffen hat, beizubehalten und zu verhindern, dass sich die Menschen vereinen um den Ursprung ihrer Unterdrückung, das kapitalistische System, zu stürzen. Alles, was innerhalb des Kapitalismus an Gleichheit, nicht nur für Frauen, möglich ist, ist gelegentlich individuell die Chance von der Unterdrückten zur Unterdrückenden zu werden.
Was ist Defma?
Sexualisierte Gewalt, Übergriffe und jede Art von sexistischem Verhalten sind Ausdruck des kapitalistischen Herrschaftssystems, das sich auch auf Frauenunterdrückung stützt. Auch das Rechtssystem handelt nicht objektiv, sondern nimmt eine unterstützende Rolle im System ein. Aufgrund der patriarchalischen und gesellschaftlichen Entwicklungsgeschichte ist das bürgerliche Rechtssystem nicht nur zum Nachteil der gesamten Arbeiterklasse, sondern besonders zum Nachteil der Frauen gestaltet.
Das Konzept Defma (Definitionsmacht) soll gegen diese Ungerechtigkeiten vorgehen. Defma beinhaltet nicht nur die absolute individuelle Bestimmungsgewalt über die Frage der sexuellen Gewalt, sondern auch die Sanktionshoheit im Nachhinein. Die Betroffene ist nicht nur Klägerin, sondern auch Richterin. Durch dieses Vorgehen soll Betroffenen das Selbstbestimmungsrecht, welches ihnen durch Übergriffe entzogen wurde, zurückgegeben werden, um sie dabei zu unterstützen ihre psychische Stabilität und ihre Lebensräume zu sichern. Frauen im Vorfeld vor Gewalt zu schützen ist nicht unmittelbar das Ziel des Konzeptes.
Womit das Konzept Defma Recht behält, ist die Tatsache, dass Gefühle, Empfindungen, Wahrnehmungen individuell und subjektiv sind, Resultat der Erfahrungen und der Umwelt, der Sozialisation. Subjektive Grenzen verlaufen nicht immer entlang gesellschaftlicher Norm- oder Moralvorstellungen. Grenzüberschreitungen können nicht gesamtheitlich definiert werden. Die Anerkennung dessen ist Grundvoraussetzung dafür, dass sich Täter überhaupt mit den Grenzen der Betroffenen auseinandersetzen können.
Doch in unserer Gesellschaft wird Frauen das Recht auf ihre persönliche Grenze und auch das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung aberzogen. Frauen erfahren, dass ihr „Nein“ unerwünscht ist, ignoriert wird. Daraus folgt nicht nur ein Hemmnis in der Konfrontation, sondern auch die Tatsache, dass Frauen sich Grenzüberschreitungen oft nicht bewusst sind bzw. diese als Normzustand annehmen, vor allem, wenn diese innerhalb von Partnerschaften oder vertrauten Beziehungen geschehen. Aufgrund eines fortschreitenden persönlichen Entwicklungsprozesses ist es auch möglich, dass Übergriffe erst zeitlich versetzt erkannt werden. Manche Frauen wollen, obwohl sie sich der Überschreitung bewusst sind, kein öffentliches Zeichen im Kampf gegen Sexismus setzen, sondern die Geschehnisse, ihre Gefühle und Empfindungen privat halten. Durch hierarchische Strukturen, Abhängigkeits- und/oder Naheverhältnissen in Organisationen und zwischenmenschlichen Beziehungen, ebenso aus Scham, kann der Schritt des Sich-Wehrens erschwert bis unmöglich gemacht werden. Defma greift diese Probleme auf und sucht einen Umgang damit, ohne ihnen etwas entgegenzusetzen.
Kein geeignetes Werkzeug
Das Konzept Defma ist kein einheitliches Konzept, und viele Organisationen haben einen anderen Umgang damit. Doch all diese Konzepte reihen sich in die Individualisierungstendenz des Kapitalismus ein, dass Probleme nur Einzelne betreffen und darum individueller Umgang damit gefunden werden muss. Das Konzept übernimmt nicht die Aufgabe der Befreiung der Frauen oder ihren Schutz. Es nimmt einen Platz innerhalb der herrschenden Verhältnisse ein ohne diese im Kern zu verändern. Es ist die simple und verschärfte Umkehr des herrschenden (Rechts-) Verhältnisses, ist eine Richtungsänderung des Angriffs, welches das Oppositionsdenken zwischen Geschlechtern nicht auflöst. Alle AkteurInnen sind als potentielle Opfer und Täter im bestehenden Geschlechterverhältnis und dessen Hierarchien definiert. Der Defma-Ansatz ist eine Flucht vor den verallgemeinerbaren Widersprüchen und Bedingungen, welche Übergriffe hervorbringen und begünstigen. So stellt man sich der Herausforderung, individuelle Situationen zu verallgemeinern und als Symptom eines größeren Problems zu verstehen und zu bewältigen erst gar nicht. Defma geht implizit davon aus, dass unter den bestehenden Bedingungen keine kollektiven und gesellschaftlich relevanten Lösungen gefunden werden können.
Selbstverständlich kann das Konzept der Definitionsmacht auch missbräuchlich verwendet werden. Es gibt sowohl die Möglichkeit einer Fehlbeschuldigung eines Täters, als auch die Möglichkeit eines ungeahndeten Übergriffs auf eine Betroffene. Denn das Konzept Defma sieht auf der einen Seite vor, dass die Meldung eines Übergriffs nicht hinterfragt werden darf, auf der anderen Seite unterbindet es ein Intervenieren von „nicht-betroffenen“ Beteiligten bei sexistischem Verhalten und Übergriffen, solange eine Betroffene die Handlung nicht als Übergriff oder sexistisches Verhalten wahrnimmt. Da Defma keine kollektive Wertung erlaubt, sind AntisexistInnen, die einschreiten wollen, die Hände gebunden sind.
Der kollektive Kampf
Sexismus ist tief in unserer Gesellschaft verankert und ein objektivierbares Problem für die Einheit der Arbeiterklasse. Es ist daher die Aufgabe jeder Organisation, die sich gegen diesen Sexismus stellen will, ihre Mitglieder im Erkennen von Sexismus zu schulen und aktiv an einer Kultur des Aufzeigens und Einschreitens zu arbeiten. Die Grundbedingung um gemeinschaftlich leben zu können und dennoch individuelle Grenzen zu berücksichtigen ist die Kommunikation, die Transparenz. Unsere Moral, Umgangsregeln, entstehen aus der gemeinschaftlichen Kommunikation und Interaktion. Wenn eine subjektive Grenze überschritten wird, muss das respektiert und untersucht werden, um mit unsolidarischem Verhalten rückwirkend aber auch zukünftig korrekt umzugehen. Die Entscheidung über disziplinäre sowie präventive Maßnahmen muss dennoch kollektiv und demokratisch passieren, um Probleme nicht zu individualisieren und sicherzustellen, dass unser Verständnis für Übergriffe geschärft wird. Psychische und physische Verletzungen zu verhindern ist ein sehr individueller Akt und dennoch muss ein Kollektiv dafür die Verantwortung tragen. Sozialisiert in einer kapitalistischen Umwelt, ist die Entwicklung von Einfühlungsvermögen für die Grenzen anderer Menschen etwas, woran wir aktiv arbeiten müssen. Es geht um den bestmöglichen Umgang mit den Betroffenen, mit dem individuellen Einzelfall und um den gemeinschaftlichen Kampf von Frauen und Männern gegen Sexismus und das patrarchale Unterdrückungsformen.
Die Befreiung der Frau ist kein individueller Kampf, sondern ein kollektiver. Sich nicht mehr als Teil eines Kollektivs zu verstehen, sondern als EinzelkämpferIn mit Gefühlen und Bedürfnissen, die ohnehin niemand nachempfinden kann, wodurch man sich mit niemandem wirklich verbunden, verpflichtet fühlen kann, spiegelt die Individualisierungstendenz des Kapitalismus wieder. Die Verantwortung liegt nicht bei einzelnen Frauen oder Frauen im Allgemeinen, sondern in der Gesamtheit der Klasse.
Mit dem Ziel die Gleichheit für alle durchzusetzen, müssen wir für jede soziale Reform kämpfen, die das Anliegen der Frauenbefreiung vorantreibt, ihrem unmittelbaren Schutz und der Emanzipation dient. Wir müssen die Unterdrückung der Frauen, als eine von vielen Spaltungsmechanismen im Kapitalismus, begreifen und für deren Überwindung im Klassenkampf einstehen. Nur durch die Zerstörung der Quelle der Unterdrückung, kann Gleichheit geschaffen werden. Der Sozialismus verlangt die Gleichbehandlung aller, unabhängig von Geschlecht, Rasse, Nationalität oder Sexualität, egal ob am Arbeitsplatz, im Gesundheitswesen, im Rechtssystem oder im privaten, öffentlichen oder medialen Raum.