Krankheit im Allgemeinen und psychische Erkrankungen im Besonderen werden immer noch als höchst individuell angesehen. Die gesellschaftlichen Ursachen von Krankheiten analysiert Lis Mandl.
Jeder 16. Krankenstandstag ist auf eine psychische Erkrankung zurückzuführen. Das geht aus Zahlen des Hauptverbands der Sozialversicherungsträger hervor. Im Vorjahr waren ArbeitnehmerInnen insgesamt 38,7 Mio. Tage im Krankenstand, 2,04 Mio. Fehltage wurden durch psychische Probleme wie Depressionen, Alkoholismus oder Burn-out verursacht. Mehr als 900.000 Menschen sind bzw. waren wegen psychischer Probleme in Behandlung. Ein massiver Anstieg ist gerade bei Jugendlichen zu beobachten.
Mythos „krankfeiern“
Während die Wirtschaft feiert, dass die Dauer der Krankenstände in Summe gesunken ist, sehen KritikerInnen den Grund für diesen Umstand nicht in einer plötzlichen Gesundung der Bevölkerung. „Der Rückgang der Krankenstände sei kein Grund zum Jubeln“, erklärt GPA-djp-Chef Wolfgang Katzian in einer Aussendung. Aus Untersuchungen wisse man, „dass gerade in wirtschaftlichen Krisenzeiten die Tendenz zunimmt, aus Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes trotz Krankheit arbeiten zu gehen“. Das sei sicher auch ein wesentlicher Grund für die aktuelle Entwicklung, ist Katzian überzeugt. Dies bestätigen auch die vermehrten Beratungsgespräche seitens ÖGB und AK. Laut ÖGB-Sekretär Walter Haberl geht es dabei weniger um Arbeitsrechtsverletzungen als vielmehr um sozialen und psychischen Druck am Arbeitsplatz. Der Grund dafür sei, dass während der Weltwirtschaftskrise Personal abgebaut wurde und jetzt trotz Wiedererlangung der Produktionsleistung der Vorkrisenzeit der Personalstand nicht in voller Höhe wiederhergestellt worden sei. Das führe zu massivem Druck, so Haberl, und gehe so weit, dass „sogenannte Krankenstands-Rückkehr-Gespräche geführt werden, in denen Beschäftigte Auskünfte geben sollen, woran sie denn erkrankt wären – was den Arbeitgeber gar nichts angeht – und wie sie sich das in Zukunft vorstellen“.
Die Furcht davor, krank zu werden, sitzt tief, und viele ArbeitnehmerInnen gehen bis zum sprichwörtlichen Umfallen zur Arbeit. Hinzu kommt, dass Firmen verstärkt Druck ausüben, Arztbesuche nicht während der Arbeitszeit zu machen. Spezialbehandlungen, Vorsorgeuntersuchungen usw. bleiben da auf der Strecke.
Druck, Druck – bis es dich zerdrückt!
Die Krise hat tiefe Spuren hinterlassen. Auch wenn die österreichische Wirtschaft im internationalen Vergleich als Krisengewinnerin ausstieg, wird immer deutlicher, wer auf der Strecke blieb. Die ArbeitnehmerInnen haben für diese Krise gezahlt – und das auch mit ihrer Gesundheit! Die Intensivierung der Arbeit passiert quer durch alle Branchen. Mehr Arbeit, weniger Zeit, mehr Druck, weniger Möglichkeiten zur Mitgestaltung. So werden Urlaube nicht bewilligt, Überstunden nicht ausbezahlt bzw. in „All-inclusive-Verträge“ verpackt und mehr Leistung in der gleichen Zeit verlangt.
65.525 ArbeitnehmerInnen ließen sich im Vorjahr wegen Alkoholismus, Depressionen oder Burn-out krankschreiben, davon 40.856 Frauen. „Zerbrochene Beziehungen, Sinnkrisen und das Gefühl, dem Turbokapitalismus ausgeliefert zu sein“, so erklärt Eva Mückstein, Präsidentin des Österreichischen Bundesverbands für Psychotherapie, den Boom psychischer Krankheiten. Burn-out sieht die Therapeutin als eines der zentralen Leiden, sie berichtet von Klagen über Leistungsdruck, Konkurrenzzwang und harte Arbeitsbedingungen. „Die Leute haben den Eindruck, der Maschinerie von Profitgier und globalisiertem Kapitalismus ausgeliefert zu sein und als Mensch immer weniger zu zählen“, sagt Mückstein. „Das führt zu Resignation. Viele Leute haben das Gefühl verloren, aus eigener Kraft ihr Leben gestalten zu können.“
Trauma Kapitalismus?
Traumatische Erfahrungen zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass die Betroffenen nicht mehr handeln können und der Situation völlig ausgeliefert und ohnmächtig gegenüberstehen. Der Kontrollverlust über den eigenen Körper und das eigene Leben erschüttert das ganze Selbst. Die Börsen steigen und sinken, Milliarden an Euro werden verspielt, Arbeitsplätze werden vernichtet und die ArbeitnehmerInnen stehen scheinbar hilflos auf der Seite. Die Weltwirtschaftskrise hängt wie das Damokles-Schwert über den Köpfen der ArbeitnehmerInnen, und die meisten von ihnen haben das Gefühl, dieser Situation ausgeliefert zu sein. Die Überforderung der Eltern wird an die jüngere Generation weitergegeben. „Die Eltern arbeiten und haben zu wenig Zeit. Die öffentliche Hand kann sich nicht dazu durchringen, qualitativ hochwertige Kinderbetreuung anzubieten. Und so fehlt es Kindern an stabilen Beziehungen zu Bindungspersonen“, sagt Mückstein. Hinzu kommt gerade bei Jugendlichen eine Perspektiv- und Orientierungslosigkeit, die jedes Handeln sinnlos erscheinen lässt. Keine Lehrstellen, keine (Aus-)Bildung, Krieg und Zerstörung – wie kann mensch der eigenen Existenz da einen Sinn geben? Diese „Sinnkrise“ ist ein neues Phänomen innerhalb der Jugend, die sich in Gesellschafts-, Politik-, Sex- und Beziehungsunlust manifestiert.
Lost Individuals
Psychische Krankheiten sind längst kein Tabu mehr. Essstörungen werden bis zum Erbrechen medial wiedergekäut, Leute lachen offen über die Spleens ihrer TherapeutInnen, ein „bisschen Borderline“ gehört schon zum guten (Bobo-)Ton und daheim sind die Antidepressiva neben der Anti-Baby-Pille zu finden. Und trotzdem werden in den seltensten Fällen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als Erklärungsmodell herangezogen. Krankheit im Allgemeinen und psychische Erkrankungen im Besonderen werden immer noch als höchst individuell angesehen. Krankheit wird als eigenes Versagen erlebt. Das Gefühl, nicht stark und stabil genug zu sein, nicht zu funktionieren, zwingt Betroffene in eine schambesetzte Isolation. Man verliert sich in eigenen Schuldzuweisungen, landet bestenfalls noch bei einer (sicher gerechtfertigten) Kritik an der bürgerlichen Kleinfamilie, aber die Verbindung von System(-krise) und Psyche erscheint fast zu mystisch. Kann denn so etwas Intimes und Persönliches wie die eigenen Gefühle von „außen“ bestimmt werden?
Antworten bzw. Lösungen für psychische Probleme werden auf der individuellen Ebene gegeben. Sogar der als Kommunist „verschriene“ und verstoßene Psychotherapeut Wilhelm Reich sprach davon, dass Therapie die Arbeit am subjektiven Faktor sei, um die Menschen wieder revolutionsfähig zu machen. Auch auf der wissenschaftlichen Ebene sind Forschungen über die Zusammenhänge zwischen Krankheit und Gesellschaft eher spärlich angesiedelt. Mehr Sport, Sex, Entspannung, Freizeit und Psychotherapie auf Krankenschein sind sicher gute Ansätze, gesunde gesellschaftliche Rahmenbedingungen werden aber anders gestaltet werden müssen.
Krisensichere Anlage
Krisen gehören natürlich zum Leben. Schmerz, Verlust und Trauer werden den Menschen immer begleiten und psychische Reaktionen hervorrufen. Nichtsdestotrotz gibt es äußere Rahmenbedingungen, die mitbestimmen, inwieweit Menschen gesunden bzw. sich entwickeln können. Welches Potenzial kann zum Vorschein kommen, welche Bedürfnisse werden erkannt und gestillt, welche Sicherheiten können gegeben werden? Politische Bewegungen haben immer auch ein Menschen- und Zukunftsbild propagiert. Gerade die Linke baute auf die schöpferische Kraft, die Welt um- und mitzugestalten. Allerdings verstauben schon seit Langem die Visionen von einer besseren Welt, und fast widerspruchslos wird die zerstörerische und unmenschliche innere Logik des Kapitalismus übernommen – bis ins Innerste des einzelnen Menschen. Die herkömmliche Politik wird inzwischen als völlig sinnentleert und entbehrlich angesehen. PolitikerInnen werden bestenfalls als Marionetten von Banken erlebt, die sich als „part of the game“ selbst bereichern. Es herrscht das Gefühl, dass Politik nichts mit einem selbst zu tun hat – und das ist sicher nicht so unrichtig. Diese politische Lethargie gilt es zu durchbrechen.
Unsere Aufgabe besteht darin, die individuellen Erfahrungen auf eine kollektive Ebene zu bringen und gemeinsam den Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen, uns wieder handlungsfähig zu machen und die Ohnmacht zu durchbrechen. Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich, Psychotherapie auf Krankenschein, 7 Wochen Urlaub, Ausbau der Präventiv- und Sozialmedizin, hochwertige Kinderbetreuungs- und Jugendeinrichtungen, freier Bildungszugang, Gesamtschule mit Lehr- und Matura-Abschluss … der Forderungskatalog für bessere Rahmenbedingungen lässt sich endlos weiterführen. Aufstehen gegen eigene und Systemkrisen! Gesundkämpfen ist das Motto.
Die Autorin ist Mitglied des Regionalausschusses der GPA-djp work@social Wien