Generell ist die Produktion von Impfstoffen für die großen Pharmakonzerne kein sehr profitabler Bereich. Doch der durch die Corona-Pandemie ausgelöste Ausnahmezustand hat weltweit einen regelrechten Wettlauf ausgelöst, welches Unternehmen als erstes einen geeigneten Impfstoff auf den Markt bringen kann. Von Claudio Bellotti und Davide Sparasci.
Der Anreiz dazu war umso größer, als die Regierungen gigantische Geldmittel auf den Tisch legten und de facto das gesamte wirtschaftliche Risiko, das mit der Erforschung und Entwicklung eines geeigneten Impfstoffes verbunden ist, übernommen haben (siehe Grafik). Dazu kommt, dass die Staaten den Pharmafirmen mit ihren Impfstrategien einen sicheren Markt garantieren.
Bild: BBC.
In der Frage der Covid-19-Impfstoffe zeigt sich in konzentrierter Form die fast schon kriminelle Absurdität einer Politik, die die Pandemiebekämpfung in die Hände von privaten, profitorientierten Konzernen legt. Gerade jetzt, wo eine bestmögliche internationale Kooperation und das Teilen der vorhandenen Forschungsdaten und -erfahrungen notwendig wären, werden den anderen Firmen, die als unliebsame Konkurrenz gesehen werden, essentielle Informationen unter dem Vorwand des Betriebsgeheimnisses vorenthalten und die Impfstoffe werden durch Patente beschützt.
Verschwendung und Hamstern
Die Herstellung von Medikamenten und Impfstoffen ist das Ergebnis langwieriger Entwicklungsprozesse, in denen sich die Entwickler im Großen und Ganzen tastend vorwärtsbewegen. Es braucht unzählige Testreihen, bis man ein zufriedenstellendes Resultat erhält. Wenn die Ergebnisse der Experimente nicht öffentlich gemacht werden, ist der Zeit- und Investitionsaufwand in der Regel unermesslich höher. Der Ressourceneinsatz zur Erforschung eines geeigneten Covid-19-Impfstoffes erfolgt nicht auf der Grundlage rationaler Kriterien. Es ging nicht darum, welche Firmen und Labors bereits vor der Pandemie die größte wissenschaftliche Vorarbeit geleistet hatten oder welcher Impfstoff am vielversprechendsten wäre. Entscheidend waren letztlich handfeste Interessen und geopolitische Strategien, was sich negativ auf die Herstellung und Verteilung des Impfstoffes auswirkt und gleichzeitig den Preis nach oben treibt.
Da unklar war, welcher Impfstoff zuerst auf den Markt kommen würde, haben alle Staaten, die es sich leisten können, mit unterschiedlichen Produzenten Verträge abgeschlossen, was die Kosten stark nach oben getrieben hat. Die Ressourcenverschwendung in diesem Zusammenhang ist enorm. Dazu kommt, dass dies zum Schaden jener Länder geht, die sich den Impfstoff zu den vom Big Pharma vorgegebenen Preisen gar nicht leisten können. Und diese Staaten umfassen den Großteil des Planeten.
Bis ins Jahr 1995 durften die Pharmaunternehmen laut US-amerikanischer Rechtssprechung für Produkte, die mit öffentlichen Geldern finanziert wurden, keinen überhöhten Verkaufspreis verlangen. Diese Regelung wurde unter der Regierung des demokratischen Präsidenten Bill Clinton abgeschafft. Erst Bernie Sanders forderte im Zuge der Vorwahlen für den demokratischen Präsidentschaftskandidaten die Wiedereinführung dieser Richtlinie. Der neue US-Präsident Joe Biden war einer von acht demokratischen Abgeordneten, die gemeinsam mit den Republikanern gegen den entsprechenden Gesetzesvorschlag stimmten und diesen somit verhinderten.
EU-Geheimverträge
Die großen Pharmakonzerne haben in den letzten Jahrzehnten auch bei den reicheren Ländern das Messer angesetzt. So musste etwa die EU Verträge zum Ankauf von Impfstoffen abschließen, noch bevor die wissenschaftlichen Daten über die Wirkung dieser Vakzine veröffentlicht waren.
Das Motiv dahinter kann man sich leicht ausrechnen: Es geht darum, jegliche Preiskontrolle zu verhindern und, vermutlich, die Hersteller von jeglicher Rechenschaftspflicht zu entbinden, falls etwaige Probleme in punkto Effizienz oder Sicherheit der Impfstoffe auftreten sollten.
Es brauchte schon die „Indiskretion“ einer belgischen Ministerin, damit die Öffentlichkeit erfahren konnte, welche Preise die EU mit den Herstellern vereinbart hatte und dass die beiden Impfstoffe, die zuerst zugelassen wurden, auch die teuersten Produkte sind: bei Pfizer/Biontech beträgt der Preis pro Dosis 12 Euro, bei Moderna 14,6 Euro.
AstraZeneca/Oxford wies weit geringere Kosten auf (1,78 Euro pro Dosis), da das Unternehmen das Prinzip akzeptierte, keine Profite zu machen, „solange die Notsituation andauert“ (was nach Rechenart des Unternehmens bis zum 30. Juni 2021 der Fall ist). Das Problem war jedoch, dass der Impfstoff von AstraZeneca eine geringere Schutzwirkung aufzuweisen scheint und mit Ausnahme Großbritanniens erst später die Zulassung erhält. Dies torpediert die Impfstrategie aller EU-Staaten, die hohe Mengen dieses Impfstoffes vorbestellt haben. Der Vorschlag der russischen Gesundheitsbehörden, die Entwicklung und Produktion der Impfstoffe Sputnik 5 und des britisch-schwedischen AstraZeneca (beide Entwicklungen basieren auf den gleichen Prinzipien) gemeinsam voranzutreiben, wurden bisher ignoriert.
Dies alles führte bislang zu der problematischen Situation, dass die Produktion von Impfdosen nur sehr schleppend anläuft, was durch eine Offenlegung der Patente und eine gemeinsame Kraftanstrengung aber leicht gelöst werden könnte.
In der Praxis hat dies aber zu weiteren Verzögerungen in der Pandemiebekämpfung und zu einem wahren Chaos in der ersten Phase der Verteilung der Impfstoffe geführt. Die Gesundheitssysteme sind nach Monaten der Pandemie am Anschlag. Dass dieser Bereich eine jahrelange Kürzungs- und Privatisierungspolitik hinter sich hat, ist deutlich spürbar geworden. Den Impfplänen zufolge, sofern es solche überhaupt gibt, wird es noch Monate dauern, bis im großen Stil geimpft werden kann. In Italien zum Beispiel ist das Gesundheitsministerium auf der Suche nach ausreichendem medizinischen Personal, das überhaupt imstande wäre, die Impfungen zu verabreichen. Laut derzeitigen Plänen ist aber keine finanzielle Abgeltung für diese Tätigkeit vorgesehen. Aus den „Helden im Krankenhaus“ sollen die „Sklaven im Krankenhaus” werden.
Propagandalawine
Der EU-weite Impfstart am 27. Dezember wurde von einer Propaganda begleitet, die die ersten Impfungen mit der Landung der alliierten Truppen in der Normandie im Zweiten Weltkrieg verglich. Im Kampf gegen den gemeinsamen Feind, so die Kriegsrhetorik, könnten keine „Verweigerer“ geduldet werden. Das geht so weit, dass Wirtschaftsprofessoren schon die Idee zur Diskussion stellten, die Entlassung von ArbeiterInnen, die die Impfung verweigern, zu erlauben. Doch die Sache steht ganz anders. Die Impfung ist in der Tat ein Schlüssel zur Bekämpfung der Pandemie, doch unter den derzeitigen Rahmenbedingungen kann sie zumindest kurz- und mittelfristig kein Allheilmittel sein. Außerdem sind noch immer viele Fragen offen.
Zu allererst weiß man noch nicht, wie lange die Immunisierung andauern wird. Dies wird sich erst mit der Zeit zeigen können. Es ist auch noch nicht einmal klar, bis zu welchem Punkt die bisher entwickelten Impfstoffe vor einer asymptomatischen Infektion schützen und ob geimpfte Personen das Virus übertragen können oder nicht. Es fehlte bislang einfach die Zeit, diese Fragen zu erforschen. Derzeit geht man davon aus, dass die vorliegenden Impfstoffe eine Immunisierung von vermutlich 70-90 Prozent gegen akute Erscheinungsformen von Covid-19 bringen werden.
Mutationen wie die in Großbritannien, Südafrika, Brasilien und weitere zukünftige sind unvermeidlich und werden weitere Unsicherheiten schaffen. Es sollte nicht überraschen, sollte es wie bei den Grippeviren jährlich zu neuen Mutationen kommen, was die Anpassung des Impfstoffes und jährlich wiederkehrende Impfkampagnen nötig macht, um die Krankheit im Zaum zu halten.
Hinzu kommt die Panik der Behörden, speziell in Großbritannien, die zu abenteuerlichen Entscheidungen führt, wie etwa die Verdünnung der Impfseren, das Hinauszögern der Verabreichung der zweiten Impfdosis um Wochen (eine Praxis, die Pfizer schon eingestehen musste) oder, was noch schlimmer ist, die Verabreichung eines „Mix“ verschiedener Impfstoffe, die nach völlig unterschiedlichen Prinzipien funktionieren, weil es schlicht und ergreifend an ausreichendem Impfstoff mangelt.
Nur wenn die Wirtschaft und das Gesundheitssystem unter der Kontrolle der Beschäftigten und der Gesellschaft verwaltet werden, kann ein (zeit-)gerechter Zugang zu Impfstoffen sowie ein transparentes und effizientes Impfsystem garantiert werden.
(Funke Nr. 190/20.1.2021)