Nach dem Kollektivvertragsabschluss 2020 führten Betriebsräte im privaten Gesundheits- und Sozialbereich (SWÖ) erstmals selbstorganisierte Urabstimmungen über den Kollektivvertragsabschluss durch. Auch heuer wurden diese wieder selbstorganisiert von unten durchgeführt und zeigen ein deutliches Bild. Sarah Ott und Martin Gutlederer berichten.
2020 hatten Betriebsräte in 10 Einrichtungen in Wien und einer in Niederösterreich auf eigene Initiative hin Abstimmungen über das Verhandlungsergebnis organisiert. Diese zeigten eine deutliche Ablehnung des 3-Jahres-Abschlusses auf: Zwischen 78% und 95% stimmten dagegen.
In Wien gibt es bereits seit mehreren Jahren eine kämpferische Stimmung in diesem Bereich und die Bereitschaft, für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Trotz bereits mehrfach bestehender Beschlüsse in gewerkschaftlichen Gremien der GPA in Wien weigern sich GPA-Führung sowie das Verhandlungsteam weiterhin, vor Abschluss des Kollektivvertrages Urabstimmungen durchzuführen. Somit griffen wir auch für den SWÖ-Abschluss 2023 wieder auf eine selbstorganisierte Urabstimmung zurück. Ausgehend von der Aktionsgruppe, einem Zusammenschluss aktiver BetriebsrätInnen in der GPA Wien, wurde eine Online-Abstimmung erstellt, die dann in den Betrieben verbreitet wurde. Im Vorfeld wurde bereits versucht, möglichst viele BetriebsrätInnen zu kontaktieren und sie für die Teilnahme an der Urabstimmung zu gewinnen.
80% Gegenstimmen
Über 1200 Beschäftigte aus 18 Betrieben haben sich an dieser wachsenden Initiative beteiligt. Wie bei der letzten Abstimmung 2020 zeigt sich auch diesmal wieder ein deutliches Bild gegen den Abschluss.
Ergebnisse der Urabstimmung von unten, 2022:
Ergebnisse der Urabstimmung von unten 2020:
Nur rund 20% sind mit dem Gesamt-Abschluss einverstanden. Besonders deutlich ist die Ablehnung beim Gehaltsabschluss, gegen den sich über 83% aussprachen. Beim Rahmenrecht bestand mit rund 28% eine etwas höhere Zustimmung. Diese ergibt sich aus den erzielten Verbesserungen bei der Verwendungsgruppe im Kinder- und Jugendbereich. Gesamthaft wird deutlich, dass sich die Beschäftigten auf längere Verhandlungen eingestellt hatten und bereit gewesen wären, für ihre Forderungen auf die Straße zu gehen und auch zu streiken.
Das zeigt sich auch an der Fülle von Kommentaren, die über die Beantwortung der Fragen hinaus abgegeben wurden. Über 10% der Teilnehmenden haben Nachrichten hinterlassen. In diesen wird vor allem der zu niedrige Gehaltsabschluss, aber auch das völlige ignorieren der Forderung nach einer 35-Stunden-Woche, die Beibehaltung der 10-Jahres-Grenze für die Anrechnung von Vordienstzeiten und die fehlende Kampfbereitschaft der Gewerkschaftsspitzen kritisiert. Darin lesen wir etwa: „Ich wünsche mir beim nächsten Mal mehr Mut zum Streik!!! Ein höherer Abschluss wäre möglich gewesen. Verständnis seitens der Bevölkerung vorhanden. Auch wir können zum Streik mobilisieren – genau wie die Belegschaft der ÖBB oder der Brauereiarbeiter!“, oder auch: „35 Stunden Woche? Weshalb nicht gestreikt?“
Es wird Zeit, dass die Beschäftigten ihre Arbeitskämpfe selbst in die Hand nehmen und nicht passive EmpfängerInnen der Gewerkschaften bleiben. Dass die Bereitschaft dazu besteht, zeigt die für eine Online-Umfrage hohe Beteiligung trotz (Vor)weihnachtszeit und Krankheitswelle.
Urabstimmung und dann?
Urabstimmungen sind in Österreich durch die Sozialpartnerschaft völlig verdrängt worden. SpitzengewerkschafterInnen fürchten um stabile Verhältnisse zu den Unternehmen und damit ihre gesellschaftliche Rolle, wenn sich nicht das alleinige Vertretungsmandat gegenüber den Unternehmen haben.
Urabstimmungen alleine bedeuten auch nicht unbedingt deutlich bessere Abschlüsse. Das zeigen die Abstimmungen, die heuer bei den Eisenbahnern und bei den Wiener Ordensspitälern stattgefunden haben. Hier war die Zustimmung zum Abschluss mit 87% bei den Eisenbahnern (wo nur Gewerkschaftsmitglieder befragt wurden) bzw. 80% bei den Ordensspitälern deutlich höher als im SWÖ. Dies, obwohl die Abschlüsse kaum besser waren. Die Umstände, dass die Gewerkschaftsführung der vida selbst ihr Verhandlungsergebnis zur Abstimmung stellte und zuvor einen Arbeitskampf organisiert hatte, waren wichtige Faktoren für die starke Zustimmung der Beschäftigten. Der zweistellige Anteil an Nein-Stimmen ist ein Hinweis darauf, dass es auch hier eine relevante Minderheit gibt, die sich mehr gewünscht hat.
Das zeigt, dass die Urabstimmung nur als ein Element einer breiteren Kampfstrategie verstanden und umgesetzt werden muss. Wir müssen demokratische Diskussionen organisieren, bereits die Forderungen müssen demokratisch abgestimmt werden, ebenso die Kampfmethoden wie Betriebsversammlungen, Demos, Streiks und ihre Dauer und Öffentlichkeitskampagnen. Zur Umsetzung braucht es AktivistInnenteams, die Kontrolle über das Verhandlungsteam und schlussendlich eine umfassende Diskussion und Urabstimmung über Abschlüsse bei Arbeitskämpfen und Verhandlungen.
So erzielen wir in Zukunft sicher bessere Ergebnisse, als mit Verhandlungen, die dann immer abrupt zu einem Abschluss geführt werden. In den Urabstimmungs-Initiativen im SWÖ bahnt sich ein neuer Trend den Weg: Beschäftigte übernehmen kollektive Verantwortung zur Durchsetzung ihrer Interessen, selbst wenn die Sozialpartner-Spitzen das nicht wollen. Nur so können wir dem permanenten Aushöhlen unserer Arbeitsbedingungen, wie es im Gesundheits- und Sozialbereich seit Jahren passiert, erfolgreich etwas entgegensetzten.
Sarah ist Funke-Aktivistin und BR beim Verein LOK
Martin ist Funke-Aktivist und spricht für „Liste Solidarität“ in der Younion
(Funke Nr. 210/19.1.2023)