In Marokko gehen die Menschen in großer Zahl auf die Straße, um gegen die sozialen Missstände zu protestieren. Von Lisa Auer
Schon seit Jahren brodelt es unter der Oberfläche der Gesellschaft. Das Sozialsystem, die Schulen und der Arbeitsmarkt sind in unerträglich schlechtem Zustand. Zusätzlich ist die Regierung des Landes korrupt, despotisch und repressiv. Im Oktober 2016 brachte die Polizei das Fass zum Überlaufen, als sie einen jungen Fischhändler brutal ermordete, nachdem sie seine Ware konfisziert hatte. Schon nach diesem Vorfall kam es im ganzen Land zu solidarischen Demonstrationen und Streiks.
Das jüngste polarisierende Ereignis fand in einer Moschee in der Mittelmeerstadt Al Hoceima statt, die etwa so groß wie Wels ist. Der charismatische Aktivist Nasser Zafzafi hatte in einer Auseinandersetzung mit dem Imam kritisiert, dass die religiösen Führer das herrschende Regime unterstützen würden. Die Regierung wirft ihm und den Protesten vor, das Land spalten zu wollen. Direkt nach diesem Vorfall verließen einige Gläubige sofort die Moschee.
Kurz darauf hielt Zafzafi eine Rede, in der er die nun schon 6 Monate andauernde Protestbewegung und ihre legitimen demokratischen Forderungen verteidigte. Dieser spontane Aufruhr der Einwohner von Al Hoceima war der Startschuss für die Regierung. Nun ging sie in die Offensive gegen die Bewegung und ihre führenden Aktivisten. Zafzafi wurde verurteilt und konnte sich bis zu seiner Inhaftierung am 29. Mai verstecken. 20 weitere Aktivisten wurden sofort inhaftiert.
Gerade in Al Hoceima ist die Stimmung besonders aufgeheizt. Die Stadt liegt am Rande des Rif-Gebirges im Norden des Landes und ist im Vergleich zum Rest Marokkos wirtschaftlich noch schwächer. Der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit und seine Folgen machen sich dort besonders stark bemerkbar. Die Lebenssituation ist unerträglich. Jährlich strömen 300.000 Jugendliche in Marokko auf den Arbeitsmarkt, jedoch werden in derselben Zeit nur 30.000 neue Arbeitsplätze geschaffen.
Marokkos korrupte Regierung entblößt mit ihren immer willkürlicheren Repressionsmaßnahmen und der Inhaftierung sowie Folterung Protestierender ihren despotischen Charakter. Bedeutsam ist, dass sich immer größere Teile des Kleinbürgertums politisch vom Regime distanzieren, um sich solidarisch mit der Arbeiterklasse zu zeigen. Tausende Anwälte haben öffentlich angekündigt, die freiwillige und kostenlose Verteidigung politischer Gefangener zu gewährleisten.
Die große Schwäche der Bewegung in Marokko ist jedoch, dass sie von Spontanität geprägt ist. Je größer sie wird, desto wichtiger werden auch ihre politische Orientierung sowie Perspektiven. Die Kräfte, die gegen die schonungslose Ausbeutung und für mehr Demokratie demonstrieren, müssen gebündelt werden und einheitliche Forderungen hervorbringen. Diese sollten sich aber nicht auf die Rif Region beschränken, sondern auf ganz Marokko ausgeweitet werden. Nur mit der größtmöglichen Einheit und in Verbindung mit einem antikapitalistischen Programm kann man diese Diktatur nachhaltig stürzen und an ihrer Stelle eine bessere Gesellschaft errichten.