Am 5. Februar veröffentlichte die "Presse" ein Interview mit dem Philosophen Rudolf Burger, in der dieser der Ägyptischen Revolution ein trauriges Ende prophezeite. Dazu verfassten wir folgenden Leserbrief.

Sehr geehrter Herr Chefredakteur!

Mit Freude stieß ich am Wochenende bei der Lektüre des Schwerpunkts zu Ägypten in der „Presse“ auf die Kurzfassung der Leninschen Revolutionsdefinition „Wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen“. Es ist wohl bezeichnend für die historische Bedeutung der aktuellen Ereignisse im Maghreb, wenn ihr ehrwürdiges Blatt ein für hiesige Verhältnisse intellektuelles Schwergewicht wie Rudolf Burger in die Waagschale werfen muss, um das Phänomen einer revolutionären Welle im 21. Jahrhundert zu erklären.

Burger hat in diesem Interview abgesehen von einigen netten Zitaten aus dem Repertoire „Revolutionstheorie für Angeber“ jedoch wenig wissenschaftliche Methodik zur Beantwortung brennender Fragen anzubieten.

Wie in den meisten Revolutionen der letzten 100 Jahre sehen wir auch in Tunesien und Ägypten das Zusammenspiel von demokratischen und sozialen Bestrebungen, die untrennbar miteinander verbunden sind. Die Weltwirtschaftskrise wurde zum Katalysator für Prozesse, die seit zwei, drei Jahrzehnten in diesen Gesellschaften vor sich gehen und sie nun an die Oberfläche treten lassen. Der alte Maulwurf der Geschichte gräbt gar zu gut seine Gänge. Wie Burger richtig zeigt, können nichtig erscheinende Ereignisse eine Revolution auslösen, doch es ist die historische Notwendigkeit, die in diesen Zufällen ihren Ausdruck findet. Das Ausbrechen einer Revolution ist aufgrund der Komplexität menschlicher Gesellschaften ähnlich einem Erdbeben nicht punktgenau vorherzusagen, die molekularen Prozesse, die eine Revolution vorbereiten, können wir aber sehr wohl analysieren.

Wenn Burger die Marxsche Revolutionstheorie darauf reduzieren will, dass der Kapitalismus durch ein ständig wachsendes Proletariat seinen eigenen Totengräber schafft, dann wiederholt er nur die mechanistische Karikatur des Marxismus eines Karl Kautsky oder Victor Adler. Es ist vielmehr die ungleiche und kombinierte Entwicklung des Kapitalismus als weltweitem System, die den Boden für eine Revolution aufbereitet. Sowohl in Russland 1917 wie auch heute in Gesellschaften wie jenen in Tunesien und Ägypten existiert die Arbeiterklasse nur als relative Minderheit inmitten einer sozialen Multitude. Doch es ist kein Zufall, dass in Tunesien gerade die Gewerkschaften als unmittelbarer organisatorischer Ausdruck dieser Minderheit eine Schlüsselrolle im Kampf gegen die Diktatur einnahmen und den anderen Schichten, die sich für eine politische Veränderung einsetzten eine Perspektive gab. In Ägypten ist dieser Prozess noch nicht so stark ausgeprägt, jedoch im Keim angelegt, wie die besondere Dynamik der Proteste in den industriellen Zentren Alexandria, Suez oder Mahalla zeigt.

Das zentrale Ziel dieser Revolutionen ist die Errichtung demokratischer Verhältnisse. Doch es gibt, wie Burger feststellt, keine bürgerliche Klasse, womit die Rolle eines sozialen Trägers anderen gesellschaftlichen Kräften (Arbeiterklasse, soziale Unterschichten,…) zufällt. Sollten diese revolutionären Bewegungen erfolgreich sein und die – vom Westen unterstützten – Diktaturen tatsächlich stürzen und durch eine demokratische Ordnung ersetzen können, dann wird unmittelbar auch die soziale Frage auf der Tagesordnung stehen. Der Sturz der Regime von Ben Ali und Mubarak wirft sofort die Frage auf, wer in der Wirtschaft das Sagen hat, da alle zentralen Sektoren dieser Ökonomien von den Familienangehörigen und engsten Parteigängern dieser Diktatoren geleitet werden. Das ist die entscheidende Dynamik des Konzepts der „Revolution in Permanenz“, das Trotzki in Anlehnung an die Schriften von Marx zur bürgerlichen Revolution von 1848 in ausgereifter Form zu Papier brachte und das spätestens seit 1905 den tatsächlichen Eckpfeiler einer modernen Revolutionstheorie darstellt. Die zweite Grundaussage dieser Theorie ist, dass Revolutionen nur siegreich sein können, wenn sie sich auf andere Länder ausdehnen. Darin liegt sowohl der Schlüssel zur Erklärung des Scheiterns der Russischen Revolution wie auch der Perspektiven für die arabische Welt. Die Revolution akzeptiert nämlich die von den imperialen Mächten willkürlich gezogenen Grenzen in dieser Region nicht.

Ob die Revolutionen in diesen Ländern erfolgreich sein werden, hängt nicht zuletzt davon ab, ob sie eine politische Führung hervorbringen, die ein klares Programm, eine Strategie und Perspektive zu entwickeln vermag.

Wenn Burger Kant bemüht, um die „an Enthusiasmus grenzende“ Sympathie auch hierzulande mit diesen Revolutionen zu beschreiben, dann hat er Recht. Seine Aufgabe ist es selbstredend dem geschätzten Leser umgehend jede Hoffnung zu nehmen und ihn darauf einzustellen, dass sich ohnedies nichts zum Guten ändern und schlimmstenfalls das Aufbegehren in einem schrecklichen Blutvergießen enden wird. Wir halten es lieber mit dem alten Marx, der angesichts der Nachrichten von den Pariser Kommunarden, deren Kampf sich heuer zum 140. Mal jährt, von den „Himmelsstürmern“ sprach und seine Aufgabe darin sah einen Beitrag zum Erfolg der Revolution zu leisten.

mit freundlichen Grüßen


Gernot Trausmuth
(Herausgeber "Der Funke - marxistische Zeitschrift in Sozialdemokratie und Gewerkschaften")


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