Nach Massenprotesten vergangenen Freitag musste Ministerpräsident Gannouchi doch zurücktreten. Das ist ein wichtiger Etappensieg für die revolutionäre Bewegung. Von Jorge Martin.

Am 25. Februar demonstrierten rund 350.000 Menschen im ganzen Land gegen die aus ihrer Sicht “illegitime Regierung”, die sich nach dem Sturz von Diktator Ben Ali formiert hatte. Die zentralen Slogans der Demos lauteten: “Gannouchi, dégage” (Gannouchi raus), “RCD dégage”, “Schluss mit der Farce”, “Schande über diese Regierung”. Zum Zeichen des internationalistischen Charakters der Revolution wurden auch Slogans wie “Thawra Tunis, Thawra Masr, thawra thawra hatta'l nasr” (“Revolution in Tunis, Revolution in Ägypten, Revolution bis zum Sieg”) und zur Unterstützung der Lybischen Revolution gegen Gaddafi gerufen.

Mit dieser außergewöhnlichen Mobilisierung hat die Revolution ein kräftiges Lebenszeichen gegeben. Nach dem Sturz von Ben Ali, dem ersten großen Erfolg der Revolution, begann die herrschende Klasse hinter den Kulissen ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen. Es galt das Regime auch nach dem Abgang des Diktators in seinen Grundzügen aufrechtzuerhalten.

Das größte Problem aus der Sicht der herrschenden Klasse ist aber, dass Ben Ali nicht nur ein Diktator war, sondern dass sein Clan den Großteil der Wirtschaft kontrollierte. Wer es also Ernst meint mit der Überwindung des alten Regimes und der Errichtung einer echten Demokratie, dem stellt sich sehr schnell auch die Frage der Überwindung des kapitalistischen Systems in seiner Gesamtheit.

Das alte Regime setzte auf eine “neue” Regierung der nationalen Einheit, in der alle Schlüsselpositionen von alten Ministern unter Ben Ali besetzt wurden. Als kosmetische Maßnahme wurden die Vertreter einiger offizieller “linker” Oppositionsparteien, ein Blogger sowie Vertreter des Gewerkschaftsdachverbands UGTT hinzugezogen. Die Massen legten in dieser Situation revolutionären Instinkt an den Tag und protestierten von Anfang an gegen diese Regierung. Unter dem Druck von unten mussten die UGTT-Minister ihre Ämter umgehend zurücklegen. Es folgten eine Reihe von regionalen Generalstreiks. Gannouchi, selbst ein prominenter Vertreter des alten Regimes, musste darauf reagieren und löste am 27. Jänner die alte Regierungspartei RCD offiziell auf.

Als Gannouchi mit dem Ziel die verschiedenen revolutionären Komitees zu entmachten in den Regionen neue Gouverneure einsetzte, hatten 19 von 24 offensichtliche Beziehungen zum alten Regime. Massendemos waren die Folge. Begleitet wurden sie von einer Streikwelle und der Vertreibung von Managern in staatsnahen Unternehmen, die dem alten Regime zugeordnet wurden. Die UGTT-Führung, die bis zuletzt loyal zu Ben Ali stand, konnte diese Proteste trotz mehrfacher Versuche nicht stoppen. Der Generalsekretär der UGTT ging sogar so weit, dass er die Organisatoren der Streiks als “Agenten der RCD” bezeichnete, die nur Chaos stiften wollen.

Die Revolution ist zu sehen al seine Kombination von demokratischen, sozialen und wirtschaftlichen Slogans. Die Jugendlichen, die diese Bewegung entfachten, kämpften für Jobs, Brot, gegen Repression und für ein menschenwürdiges Leben. Der Sturz des Diktators war ein erster Erfolg, doch jetzt wollen sie Lösungen für ihre Probleme sehen. Leere Worte über eine neue Verfassung helfen nicht weiter gegen Arbeitslosigkeit und Armut. Und dazu kommt, dass das alte Regime ganz offensichtlich noch immer fest die politische Macht inne hat.

Nach einer kurzen Pause kam es ab dem 20. Februar wieder zu einem Aufschwung der Proteste.
Die UGTT-Führung und “linke” bzw. zivilgesellschaftliche Organisationen versuchten in dieser Situation dem Regime neuerlich eine Flankendeckung zu geben. Sie riefen zur Gründung eines “Rats zum Schutz der Revolution” auf. So radikal diese Bezeichnung auch klingen mag, so wurde damit doch nur das Ziel verfolgt “der neuen Regierung ihre Legitimation” zu geben, so der Führer des Demokratischen Forums für Arbeit und Freiheit (FDTL – ein Teil der legalen Opposition unter Ben Ali) Khalil Zaouia. Die Frage ist in erster Linie, wer die Zusammensetzung eines solchen Komitees bestimmt und wer seine Mitglieder wählt. Die UGTT und die FDTL verfolgten damit die Idee, dass dieser Rat die Regierung Gannouchi überwachen sole, damit die Massen das Gefühl hätten, dass ihre Interessen dadurch gewährt würden. Es ist unglaublich, dass die Führer der “14. Jänner-Front”, eine Koalition aus linken und linksnationalistischen Organisationen, die aus der Revolution entstand, diese Idee unterstützten, und zwar obwohl dieser “Rat zum Schutz der Revolution” Organisationen miteinschloss, welche die Regierung Gannouchi akzepierten. Außerdem akzeptierten sie die Teilnahme der islamistischen Rechtspartei Ennahdha.

Die Regierungsparteien lehnten diesen Vorschlag aber entschieden ab, da es ohnedies schon eine Regierung gäbe. Aus der Sicht der herrschenden Klasse besteht die Hauptproblem darin, dass die Regierung keine Legitimät in der Bevölkerung genießt. Dies würde aber in gleichem Ausmaß für diesen neu zu schaffenden “Rat” gelten. Der Grund liegt darin, dass diese Strukturen unfähig sind die dringlichsten Forderungen der Menschen zu erfüllen.

Die "14. Jänner-Front", deren Rückgrat die Kommunistische Arbeiterpartei Tunesiens (PCOT) darstellt, war bisher nicht imstande dem wachsenden Unmut gegen die Regierung Gannouchi einen Ausdruck zu verleihen. Obwohl die "Front" ein sehr weitreichendes Programm formuliert hat, das auch den Sturz der Regierung, die Forderung nach einer Verfassungsgebenden Versammlung, die Enteignung der Vertreter des alten Regimes und eine nationale revolutionäre Konvention beinhaltet, hat sie es nicht geschafft eine Bewegung zu organisieren, die gezielt für dieses Programm zu kämpfen imstande ist. Die "Front" hatte am 12. Februar eine sehr beeindruckende Kundgebung mit 8000 TeilnehmerInnen organisiert. Doch ausgehend davon wurden keine konkreten Schritte mehr gesetzt. Sie drohte zwar mit der Bildung einer revolutionären Konvention, die sich aus gewählten VertreterInnen der revolutionären Komitees in den verschiedenen Städten, Regionen, Betrieben und Unis zusammensetzen sollte. Eine solche Konvention könnte die Basis legen für eine revolutionäre Regierung, die den Willen der Massen zum Ausdruck bringt. Doch die "Front" und die PCOT redeten nur darüber anstatt tatsächlich solch eine Versammlung einzuberufen.

In der Realität hinkt auch die Front der realen Bewegung hinterher. Das Wiederauflammen der Proteste am 20. Februar ging nicht von ihr aus. Eine genuine kommunistische Partei müsste an der Spitze der Bewegung stehen und nicht ihr hinterherlaufen. Die richtigen Losungen zu haben ist die eine Sache, doch in einer revolutionären Situation muss eine kommunistische Organisation auch in der Praxis Führungsqualitäten zeigen.

Umso beeindruckender ist es, dass die revolutionären Massenbewegung trotz des Fehlens einer wirklichen Führung durch eine der bestehenden Organisationen weitergeht. Das zeugt von hohem politischen Bewusstsein.

Seit der Besetzung der Kasbah, dem Regierungssitz in Tunis, am 20. Februar, kam es zu einer neuen Protestwelle. Eine Schlüsselrolle nahm einmal mehr die Jugend ein. Es sind vor allem Studierende, die in Gruppen wie Takriz organisiert sind, die die Arbeit in die Hand genommen haben und für die Proteste mobilisieren. Über Tage kam es im ganzen Land zu Massenprotesten, gegen die die Regierung übrigens mit brutaler Gewalt vorging. Es kam dabei nicht nur zum Einsatz von Tränengas. Mehrere Demonstranten wurden von der Polizei erschossen.

In der Bevölkerung verfügt die Regierung über sehr wenig Unterstützung. Aber auch die ganzen legalen Oppositionsparteien werden sehr kritisch gesehen. Es ist auch sehr interessant, dass die islamistische Ennahdha in Umfragen nur 3,1% erhält. Es gibt keinen Zweifel, dass die überwältigende Mehrheit ein sekulares System in Tunesien will. Dies zeigte sich auch bei der Großdemo am 19. Februar für ein sekulares Tunesien, bei der unzählige Frauen mitmarschierten.

Gannouchi musste jetzt doch zurücktreten. Doch wie soll es jetzt weitergehen? Der Schlüssel zu einem wirklichen Sieg der Revolution liegt in den revolutionären Komitees. Diese müssen weiter gestärkt und ausgeweitet werden. Eine Versammlung von gewählten VertreterInnen dieser Komitees sollte umgehend einberufen werden, mit dem Ziel einen provisorischen Revolutionsrat zu bilden, der die Wahlen zu einer demokratischen und revolutionären Verfassungsgebenden Versammlung organisieren sollte. Eine solche Verfassungsgebende Versammlung sollte über die Zukunft des Landes entscheiden und alle Überbleibsel des alten Regimes beseitigen.

Die revolutionären Komitees sollten verantwortlich sein für die Verwaltung des öffentlichen Lebens (öffentliche Dienstleistungen, Sicherheit, Information, Mobilisierung usw.) Mit anderen Worten: die einzig legitimen VertreterInnen der tunesischen Bevölkerung sollten die Macht übernehmen.
Die Aufgabe der revolutionären Neuorganisation der Gesellschaft sollte mit der Enteignung des Vermögens und Eigentums des Trabelsi-Clans und der Wiederverstaatlichung aller unter Ben Ali privatisierten Unternehmen beginnen. Der Reichtum des Landes sollte unter die demokratische Kontrolle der Werktätigen gestellt und die Grundlage für einen Plan zum Bau von Schulen, Spitälern, Straßen und Infrastruktur bilden. Damit kann die Arbeitslosigkeit im Land in Angriff genommen werden.

* Nieder mit dem alten Regime!
* Für eine revolutionäre UGTT!
* Generalstreik und Massendemos!
* Für eine nationale Konvention der revolutionären Komitees, die einen provisorischen Revolutionsrat wählen soll!
* Für eine revolutionäre Verfassungsgebende Versammlung!
* Alle Macht dem revolutionären Volk!


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