Revolutionen sind keine Einakter. Nachdem es relativ rasch gelungen war, den Diktator zu stürzen, findet die Auseinandersetzung nun um den sozialen und politischen Inhalt der „Demokratie“ statt. Von Emanuel Tomaselli.

Am 27.Mai fand in den ägyptischen Städten der „Zweite nationale Tag des Zorns“ statt. Hunderttausende strömten auf die Straßen und Plätze. Die Slogans auf dieser Großdemo waren aussagekräftig: „Die Revolution ist noch nicht am Ziel“, „Schluss mit den Verhaftungen! Klare Richtlinien für den Sicherheitsapparat!“, „Versucht uns nicht einzuschüchtern, wir haben keine Angst“, „Die Revolutionäre die sind hier, wo ist die Bruderschaft?“

Was ist mittlerweile geschehen? Die beharrenden Kräfte haben zusammengefunden: Die Militärführung, die ehemalige Systempartei NPD und die Muslimische Bruderschaft ziehen an einem Strang und versuchen die Situation mittels Repression und Dialog zu stabilisieren. Seit dem Sturz von Mubarak sind bereits 7.000 Verfahren unter der Sondergerichtsbarkeit des Militärs anhängig. Zum Vergleich: Unter Mubarak waren es „nur“ 200–300 im Jahr. Gleichzeitig versucht es die Konterrevolution mit Dialog. Im Kairoer El-Galaa Theater versammelte die Militärführung Anfang Juni VertreterInnen von 153 Jugendorganisationen (darunter nicht wenige vollbärtige Greise). Boykotiert haben diese Veranstaltung 23 Organisationen, darunter die „Jugend des 6. Aprils“, welche maßgeblich die Proteste im Jänner und Februar initiierten, die zum ersten Sieg der Revolution führten. Der „Dialog“ war recht eigenwillig: Die TeilnehmerInnen durften auf Zetteln Fragen stellen. Als sich das Auditorium nicht beruhigte, Slogans gegen die imperialistische Intervention in Libyen und Syrien rief und in Sprechchören eine neue Verfassung forderten, platzte einem General der Kragen: „Wenn ich rede, habt ihr zu schweigen.“

Die Volkspartei Ägyptens

Eine ganz andere Gesprächsbasis gibt es mit der „Muslimischen Bruderschaft“, deren Führung sich entschieden hat, sich mit symbolischen Fragen (z.B. Gerichtsprozesse gegen einige führende Regimevertreter) zu begnügen und bereitwillig ihre politische Teilhabe an einer gegenrevolutionären Regierung vorbereitet. Die Führung dieser Partei vertritt politisch die Interessen jener Kapitalisten und Baazaris, die zwar von Mubaraks Privatisierungspolitik am meisten profitierten, aber von den Staatsgeschäften ausgeschlossen blieben. Dies soll sich nun ändern. Es mehren sich auch die Anzeichen, dass es für dieses Projekt politische und finanzielle Unterstützung durch den US-Imperialismus gibt.

Gleichzeitig regt sich Unmut gegen diese Politik. Am rechten Rand franst die Bruderschaft in Richtung der vom reaktionären Regime in Saudi-Arabien unterstützten Salafisten aus, die Ägypten in einen Strudel sektiererischer Gewalt hineinziehen wollen. Diese Gruppierung spielt eine ähnliche Rolle wie faschistische Organisationen in der deutschen und österreichischen Revolution ab 1919.

Als jahrelang einzige sichtbare politische Opposition organisiert die Bruderschaft jedoch auch klassenkämpferische Schichten der Bevölkerung, und hier gibt es eine signifikante Wegbewegung nach links. Entgegen dem Beschluss, den zweiten Tag des Zorns zu boykottieren, ging die Jugendorganisation der Muslimbruderschaft auf die Straßen und konnte in einigen Städten wie Suez große Teile der Massenbasis der Partei dazu bewegen, es ihr gleich zu tun. Einer der berühmtesten Blogger der ägyptischen Revolution fasste die politische Konsequenz so zusammen: „Heute hat sich gezeigt, dass wir die Muslimische Bruderschaft nicht brauchen, um große Menschenmassen auf die Strasse zu bekommen.“ Dieses Selbstbewusstsein ist gut. Wie schnell und klar die Spaltung der Bruderschaft vor sich geht, hängt nicht zu letzt von der Politik der ArbeiterInnenbewegung und der Linken ab. MarxistInnen machen die Religiosität einzelner nicht zum Politikum, sondern stellen die soziale Frage in den Mittelpunkt ihrer Propaganda und Praxis. Gleichzeitig muss man sich im Klaren sein, dass die Bruderschaft an sich seit ihrem Entstehen eine politisch reaktionäre Rolle spielt und es keine Zusammenarbeit mit politisierter Religion geben darf.

Klassenkämpfe…

Die ägyptische ArbeiterInnenbewegung, die in der Revolution neues Selbstbewusstsein gefunden hat, greift hingegen immer häufiger zu den Methoden des Klassenkampfes. Allein im März wurden 2.000 Streikaktionen gezählt (trotz offiziellem Streikverbot durch die Militärjunta). Die Forderungen zeugen davon, wie brennend die soziale Frage ist und welche Kraft und Kreativität die ArbeiterInnenklasse aufbringt, wenn sie befreit von bürokratischen Hindernissen ihren Willen selbstständig formuliert. Tausende ArbeiterInnen der Shebin El-Kom Textile Company z.¬B. streikten 35 Tage, um die Schließung dieser 2007 privatisierten Firma zu verhindern. Sie forderten nicht nur die Entlassung aller Manager, sondern auch die Wiedereinstellung aller in Zuge der Privatisierung entlassen KollegInnen. Das Management der Firma setzte auf Ermüdung und Hinhaltetaktik. Am 35. Tag griff die Armee ein, die Situation in der Fabrik ist bis dato unklar. In einem Kairoer Spital konnte die kämpfende Belegschaft im Arbeitskampf durchsetzen, dass nunmehr nur Manager, die ihre Zustimmung genießen, eingesetzt werden können.

Seit der Revolution wurden auch 13 sogenannte „unabhängige Gewerkschaften“ gegründet. Es ist verständlich, dass die ArbeiterInnen eine dauerhafte Vertretung anstreben, die demokratisch und kämpferisch ist. Allein die bisherigen Initiativen für neue Gewerkschaften stehen in keinem Verhältnis zur Anzahl und Militanz der Klasse in ihrer Gesamtheit. In seiner sehr empfehlenswerten Schrift „Linksradikalismus, die Kinderkrankheit des Kommunismus“ warnte Lenin die „revolutionären, jedoch unvernünftigen linken Kommunisten“ davor, „neue blitzsaubere Arbeiter-Unionen“ anzustreben. Damit ist die Frage sicherlich nicht ausreichend beantwortet, aber es ist wert, sich die Frage nach den Perspektiven dieser unabhängigen Gewerkschaften zu stellen. Während Teile der politisch fortgeschrittensten Arbeiterführer mit mehreren dutzend KollegInnen unabhängige Gewerkschaften gründen, gibt es auch Arbeitskämpfe, die es sich zum Ziel setzen, in die ehemals parastaatliche Monopolgewerkschaft ETUF überhaupt erst aufgenommen zu werden. Die Gründung der „revolutionären“ Gewerkschaft UNT in Venezuela endete jedenfalls in der politischen und organisatorischen Wüste. Die Frage zur Haltung von RevolutionärInnen zur Gewerkschaftsbewegung sollten jedenfalls ohne rosarote Brillengläser einer konkreten Überprüfung unterzogen werden. Dies ist nicht nur in der arabischen Welt sondern angesichts der Bewegungen in Spanien und Griechenland auch für die Entwicklung des europäischen Klassenkampfes von großer Bedeutung.

… und die Aufgaben der Linken

Die Linke, die erfreulicher Weise auch Wurzeln in der ArbeiterInnenbewegung hat, erfährt momentan einen organisatorischen Aufschwung. Es gibt mehrere Projekte zur Gründung von Linksparteien. Die bisher vorliegenden Programmentwürfe sind jedoch klassische Minimal–Maximalprogramme, und schaffen es nicht, eine Brücke vom täglichen Klassenkampf zur Überwindung des Kapitalismus zu schlagen. Dieser Weg einer „Revolution in Permanenz“ (Marx) stellt jedoch angesichts der gesellschaftlichen Bedingungen in einem Land wie Ägypten eine objektive Notwendigkeit dar. Unter kapitalistischen Verhältnissen kann die Hoffnung nach Demokratie und sozialer Gerechtigkeit der Massen nicht erfüllt werden.

Eine Linke wird nur dann diesen Test der Geschichte bestehen, wenn sie den Kampf um die Macht im Staat bewusst führt. Sie stellt konkrete politische Aktionsforderungen auf und macht damit die objektiven Grenzen der Demokratie unter kapitalistischen Verhältnissen sicht- und spürbar. Die Bolschewiki konnten 1917 dieses Programm in nur drei Worten formulieren: „Land, Brot, Frieden“. Durchzusetzen war dieses Programm nur in der Form „Alle Macht den Räten.“ Die arabische Linke könnte in diesen Monaten leicht Masseneinfluss gewinnen und sogar den Kapitalismus stürzen. MarxistInnen in aller Welt haben die Verantwortung, eine Programmentwicklung, die der objektiven Radikalität einen bewussten Ausdruck gibt, mit voranzutreiben. Klar ist, dass nicht der massive Staatsterror die Bewegung von der Machtübernahme abhielt, sondern die programmatische Unzulänglichkeit der Linken. Diese entscheidende Schwäche muss in den kommenden Monaten bestmöglich ausgebessert werden.

Wie viel Zeit noch?

Die Arabische Revolution ist nur ein weiterer Ausdruck der allgemeinen und tiefen Instabilität aller sozialen Beziehungen auf der Welt. Dies betrifft die Ökonomie ebenso wie die Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Klassen und Staaten. Das Bürgertum sieht derzeit keine Möglichkeiten ihr ökonomisches System zu stabilisieren, ohne die sozialen Beziehungen weiter zu erschüttern. Kein System kann ohne Massenunterstützung auf Dauer überleben. Auch die perfekt geölte und finanzierte Unterdrückungsmaschinerie des saudischen Regimes kann keine dauernde Kontrolle über die Region ausüben. Der EU- und der US-Imperialismus erleben in Libyen einmal mehr die Grenzen ihrer militärischen Macht. Auch wenn es ihnen in den kommenden Monaten gelingen möge Gaddafi zu beseitigen, so hätten sie damit nur ein neues Regime an die Macht gebombt, das sofort wieder in Widerspruch zur unterdrückten Bevölkerung treten würde. Nicht zuletzt zeigen die Bewegungen in Wisconsin, Spanien und Griechenland, dass der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeiterklasse bereits nahe an den imperialistischen Zentren ausgetragen wird. Und schlussendlich wird das Welt-Ringen auch hier entschieden werden.


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