US-Präsident Obama musste den geplanten Militärschlag gegen Syrien vorerst absagen. Doch die Gefahr einer imperialistischen Intervention ist noch lange nicht vorüber. Eine Analyse der Lage im Nahen Osten von Markus Berger.
Zweifelsohne hat der Bürgerkrieg in Syrien in den letzten beiden Jahren unvorstellbares Leid verursacht. Die Massenproteste gegen das Regime von Assad, die 2011 im Zuge des Arabischen Frühlings ausgebrochen sind, waren Ausdruck des Strebens nach Demokratie und sozialer Gerechtigkeit. Die Bewegung war aber nicht stark genug, um das Regime stürzen zu können, so wie es in Tunesien und Ägypten geschehen ist. Der Konflikt nahm daher das Ausmaß eines mit militärischen Mitteln ausgefochtenen Bürgerkriegs an. Bald schon hatten auch die diversen Golfstaaten ihre Finger im Spiel und finanzierten ihnen nahe stehende Milizen, die meist einen islamisch-fundamentalistischen Hintergrund haben. Die fortschrittlichen Kräfte in der Opposition wurden so Schritt für Schritt von offen reaktionären Elementen zurückgedrängt. Die damit verbundene Bedrohung trieb die christlichen, kurdischen und schiitischen Bevölkerungsgruppen sowie die laizistischen Kräfte zurück in die Hände von Assad, der nun wieder fest im Sattel sitzt.
Als Vorwand für eine Militärintervention diente den USA ein mittlerweile von UN-Inspektoren bestätigter Einsatz des Giftgases Sarin am 21.August, dem mehr als 1000 Menschen zum Opfer fielen. Von wem dieses eingesetzt wurde, bleibt allerdings weiterhin unklar. Während die USA mit Sicherheit davon ausgehen, dass dieses Verbrechen auf das Konto des Assad-Regimes geht, wird auch darüber spekuliert, ob nicht Teile der Rebellen das Giftgas in die Hände bekamen und in einer für sie recht aussichtslosen Lage eine Intervention zu provozieren versuchten. Andere gehen von einem Konflikt innerhalb des Assad-Regimes aus, wobei eine Fraktion mittels des Giftgaseinsatzes eine Zuspitzung der Situation provozieren wollte. Diese Spekulationen verfehlen jedoch den Kern der Sache. Bis vor kurzem schaute man ja auch weg, angesichts von Hunderttausenden Toten, Millionen Flüchtlingen und unzähligen Menschenrechtsverletzungen, die von beiden Seiten begangen wurden – und zwar mit Waffen, die ihnen von den imperialistischen Mächten geliefert wurden. Hinter den scheinbar humanitären Gründen einer Militärintervention der USA verbergen sich nämlich handfeste geopolitische Interessen in der Region.
Syrien ist ein Schlüsselland im Nahen Osten. Eine Reihe von Mächten kämpfen hier um Einfluss. Das Assad-Regime ist der einzig wirkliche Verbündete Russlands in der Region und eine wichtige Stütze für die Mullahs im Iran. Katar und Saudi-Arabien haben in den letzten Jahren die Bühne betreten und streben die Rolle von Hegemonialmächten an. Dann ist da noch die Türkei. Staatschef Erdogan steht für eine aggressive Außenpolitik. Im Zuge des Arabischen Frühlings wurden die internationalen Beziehungen im Nahen Osten völlig destabilisiert, was die Vormachtstellung des auch ökonomisch schwer angeschlagenen US-Imperialismus in Frage stellt. Obama versucht den Syrien-Krieg zu nutzen, um dem entgegenzuwirken.
Schwäche der USA
Das erste Vorpreschen in Richtung einer militärischen Unterstützung der Rebellen durch die USA vollzog sich im Juni, als sich das Kräfteverhältnis zugunsten des Assad-Regimes verschob. Während in den Monaten zuvor aufgrund des Kräftegleichgewichts noch Raum für diplomatische Lösungen zu bestehen schien, sahen sich die USA nun zum Handeln gezwungen und drohten mit einem Militärschlag. Mit diesen Drohungen und einem etwaigen Militärschlag sollte die syrische Opposition (u.a. Al-Kaida und Milizen der Taliban!) gestärkt und Assad an den Verhandlungstisch zurückgebombt werden. Langfristig streben die USA in Syrien den Sturz Assads und die Bildung einer Koalitionsregierung bestehend aus Teilen des alten Regimes, moderaten Islamisten und der bürgerlich-liberalen Opposition an, wobei Letztere als Handlanger der imperialistischen Interessen der USA fungieren. Ob diese Rechnung jedoch aufgeht und nicht vielmehr Syrien und die ganze Region ins Chaos gestürzt werden, wie es im Irak oder jüngst in Libyen der Fall war, ist mehr als unsicher.
Der Giftgaseinsatz vom 21. August hatte Obama neue ideologische Munition für einen Militärschlag geliefert. Die Allianz von USA, Großbritannien und Frankreich scheiterte jedoch mit ihren militärischen Vorbereitungen am Widerstand des Londoner Unterhauses. US-Präsident Obama wollte ebenfalls den Kongress befragen. Aufgrund der Erfahrungen des Irak-Krieges 2003 und der allmählichen Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung zeichnete sich schnell ab, dass er keine parlamentarische Unterstützung für diesen Krieg erhalten würde. Daraufhin wurde die Abstimmung auf unbestimmte Zeit verschoben. Nur noch Frankreichs “sozialistischer” Präsident Hollande ist bereit mit Obama in den Krieg zu ziehen.
In dieser schwierigen Situation kam den USA der Vorschlag eines Abkommens zur Zerstörung des syrischen Giftgas-Arsenals sehr gelegen. Auf Drängen von Russland akzeptierte Syrien diesen Vorschlag und übermittelte der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW) Daten über seine Giftgasbestände (1000 Tonnen), welche bis Mitte 2014 zerstört werden sollen. Unter den Bedingungen des Bürgerkrieges, so Experten, ist die Einhaltung dieses Abkommens jedoch völlig unrealistisch, da das Giftgas zur Zerstörung aus dem Landes gebracht werden müsste. Außerdem drohen die USA weiterhin mit einem Militärschlag, sollte das Abkommen vom syrischen Regime nicht eingehalten oder falsche Angaben über die Giftgasbestände gemacht werden. Vorerst haben mit diesem Schritt aber sowohl Assad als auch Obama Zeit gewonnen. Eine militärische Intervention ist aber noch lange nicht vom Tisch. Ein Ende der verfahrenen Situation in Syrien ist in nächster Zeit nicht zu erwarten. Eine Militärintervention wird jedenfalls keine Lösung bringen, wie das Beispiel Libyen 2011 zeigte.
Nein zur Intervention
Die Mehrheit der Linken stellte sich angesichts dieser imperialistischen Bedrohung klar gegen einen Militärschlag. Die sehr konfusen Vorstellungen bezüglich des Charakters des Assad-Regimes (siehe Kasten) spiegeln sich aber auch in der Debatte, mit welchen Mitteln man einen neuen Krieg im Nahen Osten verhindern sollte, wider. Nicht wenige Linke vertreten die Hoffnung, dass Assads Verbündete Russland und China Obama einen Riegel vorschieben werden. Im Gegensatz zu Libyen sind diese beiden Großmächte zwar gegen eine Militärintervention, aber vor allem weil sie in Syrien ihre eigenen Interessen als imperialistische Mächte verteidigen. Unsere Ablehnung einer Militärintervention in Syrien muss aber auf einem eigenen Klassenstandpunkt basieren, d.h. wir müssen bewusst machen, dass keine der in diesen Konflikt involvierten Großmächte eine Lösung für die sozialen und politischen Probleme im Nahen Osten zu bieten hat.
Langfristig wird der Ausgang des syrischen Bürgerkrieges durch den Fortgang der revolutionären Massenbewegungen in Tunesien, Ägypten, Türkei etc. entschieden. Sie haben es in der Hand, dem Imperialismus im Nahen Osten eine schmerzhafte Niederlage zuzufügen. Diesen Bewegungen für Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Würde gilt unsere volle Solidarität.
Das Assad-Regime
Die heutige Lage in Syrien und die Ursache für die Revolution 2011 kann nur durch die historische Entwicklung verstanden werden. Nach 1945 löste sich Syrien vom französischen Imperialismus, jedoch erwies sich die syrische Bourgeoisie als unfähig einen unabhängigen bürgerlichen Staat zu schaffen. Eine Modernisierung des Landes war nur auf dem Weg einer sozialistischen Transformation möglich. Doch erwies sich die ArbeiterInnenklasse ebenso als zu schwach und stand unter der passivierenden Führung bürokratisch-stalinistischer Parteien, sodass schließlich das Militär die Macht übernahm. Eine junge Schicht von Offizieren fühlte sich vom wirtschaftlichen Erfolg des planwirtschaftlichen Systems der Sowjetunion angezogen und sah darin den Weg aus der Instabilität und Unterentwicklung Syriens. Dies fand seinen politischen Ausdruck in der Baath-Partei, welche nach einer Reihe von Militärputschen (1963-66) die Macht übernahm, und schließlich eine Planwirtschaft ähnlich jener der Sowjetunion aufbaute. Dieses Regime kann als proletarischer Bonapartismus bezeichnet werden. Einerseits besaß es fortschrittliche Produktionsverhältnisse mit staatlichem Eigentum an Produktionsmittel, was ein starkes Wachstum ermöglichte, doch andererseits fehlte jede Form von ArbeiterInnenkontrolle. Stattdessen handelte es sich um eine politische Diktatur einer bürokratischen Kaste gestützt auf fortschrittliche Produktionsverhältnisse. Doch diesen zum Teil progressiven Charakter büßte das Regime im Lauf der weiteren Entwicklung ein. Es kam seit den 1970ern zu einer Reihe von Privatisierungen von staatlichem Eigentum, doch der qualitative Wandel und die endgültige Restauration des Kapitalismus fanden zwischen 2000-2010 statt. Syrien wandelte sich also von einem proletarisch-bonapartistischen Regime mit Planwirtschaft ohne ArbeiterInnenkontrolle zu einer Vetternwirtschaft unter der Führung der alten Bürokratie, die sich im Zuge der Privatisierungen enorm bereicherte und zu Kapitalisten wurde. Ein ähnlicher Transformationsprozess zu einem kapitalistischen System konnte seit 1977 in China beobachtet werden, der zu einer massiven Bereicherung der Elite und einer enormen sozialen Polarisierung führte.
Teile der kommunistischen Linken sehen das Assad-Regime trotzdem weiter als antiimperialistisches Bollwerk. Die historische Wahrheit ist jedoch eine andere. So ließ schon 1976 Hafez al-Assad, der Vater des jetzigen Regierungschefs Bashar al-Assad, Truppen in den Libanon einmarschieren, um eine Niederlage der rechten maronitisch-christlichen Milizen gegen progressiv-säkulare Kräfte, die PLO und muslimische Milizen im libanesischen Bürgerkrieg zu verhindern. Dies geschah auf Drängen und mit Unterstützung Israels und den USA. Andere Beispiele sind die Kooperation zwischen Syrien und den USA im Irakkrieg 1990-91 und das Ausbleiben einer Verteidigung des Iraks von syrischer Seite gegen die US-Invasion 2003.
Daraus wird ersichtlich, dass das Assad-Regime heute keineswegs antiimperialistisch, sozialistisch oder anderweitig progressiv ist. De facto handelt es sich um ein autoritäres Einparteiensystem auf kapitalistischer Basis, das sich durch einen hohen Grad an Korruption und ein Vetternsystem auszeichnet. Dies erklärt neben den externen Faktoren (dem Vorbildcharakter der Revolutionen in Ägypten, Tunesien) auch die internen Ursachen für die Massenproteste seit 2011, die erst aus der zunehmend schlechteren sozialen Lage der Bevölkerung, in Folge der Privatisierungen und Öffnung für marktwirtschaftliche Elemente, verständlich werden.
Dieser Artikel erschien in Funke Nr. 120 (Oktober 2013).