Kurdistan. Die türkische Regierung, Hauptpartnerin der EU in der Abwehr von Flüchtlingen, intensiviert den Krieg gegen die KurdInnen. Wir sprachen mit einem Bewohner über die Situation in der belagerten Stadt Silvan im Südosten der Türkei.

Seit jeher gilt die Stadt Silvan und die umliegende Region als Kernland der kurdischen Kultur und deren politischer Befreiungsbewegung. Beides ist nicht voneinander zu trennen, denn Sprache und Kultur sind wichtige identitätsstiftende Elemente einer unterdrückten Nation. Angesichts des Assimilierungsdruckes Seitens des türkischen Staates ist bereits der Gebrauch der kurdischen Muttersprache ein politisches Statement:.„Es ist verboten kurdisch zu pfeifen.“, bringt es unser Gesprächspartner auf den Punkt. In der Schule und auf Ämtern darf man nur türkisch reden. Erfahrungen mit Polizei und Armee prägten sein Leben, seit er denken kann. Der Besitz und das Anhören von Musikkassetten mit kurdischen Liedern waren die ersten Straftaten seines Lebens.
Diese Erfahrungen machte er Anfang der 1990er Jahre, und dennoch sieht er einen großen Unterschied zwischen der damaligen Repressionswelle und der heutigen: „Damals wurden die ZivilistInnen in Ruhe gelassen, nur politische und kulturelle AktivistInnen wurden verfolgt. Man konnte sich frei entscheiden, ob man sein Leben riskiert. Heute werden alle inklusive der ZivilistInnen terrorisiert. Heute reicht es, dass du in einem bestimmten Stadtviertel oder einem bestimmten Dorf lebst. Alle sind traumatisiert und sehnen sich nach Frieden.“
Der neue Krieg im türkischen Kurdistan begann Ende Juli 2015. Damit wurde der jahrelange „Friedensprozess“ zwischen der kurdischen Bewegung und der Regierung Erdogan in sein blutiges Gegenteil verkehrt. Dieser schaffte für die KurdInnen kurzfristig Erleichterung, schwächte aber die gegen die Regierung gerichtete Gezi Park-Bewegung von 2013 durch Spaltung entlang nationaler Grenzen.  
Am 25. Juli verhängte die türkische Armee eine viertägige Ausgangssperre über Silvan und andere kurdische Städte. Demonstrationen aus umliegenden Dörfern wurden am Stadtrand abgeblockt. Niemand durfte rein und raus. „Mir war das Drehbuch sofort klar, wir waren wieder die Sündenböcke“, fasst er seine Einschätzung von damals zusammen. Nach vier Tagen wurde die Ausgangssperre aufgehoben, doch dann für sechs weitere Tage verlängert. Diese Vorgangsweise hält bis heute an. Wasser und Strom wurden abgestellt, die Lebensmittelversorgung unterbrochen. Rund um die Stadt wurde Artillerie aufgebaut. In der Stadt patrouillieren Polizei, Militär und maskierte Banden, die offensichtlich mit den offiziellen Repressionsorganen des Staates zusammenarbeiten. Laut unabhängigen Medienberichten handelt es sich dabei um Angehörige einer rassistisch-faschistischen Geheimorganisation inerhalb der türkischen Polizei und um islamistische Banditen. Scharfschützen wurden postiert. Sie schießen auf alles was sich bewegt, die Patrouillen zerschießen die Wände und Fensterscheiben der Wohnhäuser. In etwa vier Stadtteilen von Silvan wird den Schergen des Regimes von Seiten der kurdischen Bewegung auch militärischer Widerstand entgegengesetzt. Unser Gesprächspartner beschreibt einen Krieg, in dem die psychologische Kriegsführung ein zentrales Mittel ist, um die kurdischen Städte zu entvölkern: „Der ständige Beschuss traumatisiert die Menschen, insbesondere die Kinder.“ Anfangs versuchten organisierte Freiwillige den Widerstand zu unterstützen, indem man die Kinder aus dem Stadtteil zusammenholte, beschäftigte und so abzulenken versuchte. Angesichts der Intensität der Kriegsführung erwies sich dies in den letzten Wochen jedoch als unmöglich. Die Schulen in der Region wurden in Stützpunkte der Armee umgewandelt. „Erwachsene leiden auch, aber die Kinder leiden am meisten.“ Das Militär foltert Kinder, indem es sie an die Wand stellt, mit Waffen einschüchtert, schlägt und dabei sinnfreie Fragen wie „Hast du es jetzt verstanden?“ stellt. Es gibt keine Grenze der Grausamkeit, selbst eine hochschwangeren Frau, wurde mitten in den Bauch geschossen.
Wie viele Menschen heute noch in der Stadt sind, weiß er nicht. Das Ziel des türkischen Staates scheint es zu sein die Stadt zu entvölkern. Doch die BewohnerInnen sind nicht bereits die Stadt aufzugeben.
Es ist kein Zufall, dass Silvan wie andere Städte in der Region  zum Schwerpunkt der Repression gemacht wurden. Damit sollen die politischen Hochburgen der Linkspartei HDP, die hier bei den Juni-Wahlen bis zu 90 Prozent der Stimmen erreicht hat, bestraft werden. Der militärische Sieg der YPG in Rojava über den IS hat zudem das Selbstbewusstsein der KurdInnen weltweit gestärkt. Gerade in dieser Region, in der die Grenzen willkürlich gezogen wurden, kann man die politischen Prozesse in Nordsyrien und den angrenzenden Regionen in der Türkei nicht voneinander trennen. „Als Kobane unter Beschuss stand, kampierten viele an der Grenze, um ihren Familien auf der anderen Seite der Grenze beizustehen. Tausende Flüchtlinge wurden von Verwandten auf der anderen Seite der Grenze untergebracht. Die türkische Armee verhinderte aber, dass kurdische KämpferInnen die Verteidigung von Kobane aktiv unterstützten.“
Als Conclusio wird uns gesagt: „Wir Kurden und Kurdinnen wollen den Krieg nicht, wir wollen in Frieden und ohne Traumatisierung leben, aber wenn man uns nicht lässt, dann müssen wir uns wehren.“


Aus Sicherheitsgründen verzichten wir auf die Wiedergabe des Namens unseres Gesprächspartners



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