Erdogan will das Wahlergebnis aus dem Jahr 2015 rückgängig machen. Ein Viertel der Abgeordneten verliert die Immunität. Das bringt seine konservative AKP einer Zwei-Drittel Mehrheit einen Schritt näher. Von Kurt Bührle.

Das türkische Parlament hat der Verhaftung kurdischer PolitikerInnen den Weg geebnet. Praktisch dabei: Es gibt in der Türkei kein Nachrücker-System für vorzeitig ausgeschiedene Abgeordnete. Die Verurteilung eines Abgeordneten führt direkt zum Sitzverlust für seine Fraktion. Das Parlament nahm den Antrag der AKP in einer Abstimmung mit 376 von 550 Stimmen an. Im zweiten Anlauf stellten sich nicht nur die Abgeordneten aus der AKP und der rechtsextremen MHP hinter die beschlossene Änderung der Verfassung. In der geheimen Abstimmung müssen auch Mitglieder der Republikanischen Volkspartei (CHP) für den Angriff auf die kurdisch dominierte linke HDP gestimmt haben.

Die CHP hat in der Probeabstimmung noch mehrheitlich gegen die Aufhebung der Immunität gestimmt, von der auch viele ihrer eigenen ParlamentarierInnen betroffen sind. In der zweiten Abstimmung jedoch dürften viele dem Druck der Regierung und der Angst um ihre eigenen Posten erlegen sein.

Die HDP hatte bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 überraschend 13 Prozent der Stimmen gewonnen. Für die AKP von Präsident Erdoğan hingegen endete der Wahlgang erstmals seit dem Jahr 2002 mit deutlichen Stimmenverlusten. Damit gelang es Erdoğan nicht, allein zu regieren, was angesichts unzähliger Korruptionsfälle und ausgeprägter Vetternwirtschaft für ihn und seine Getreuen eine Überlebensfrage ist. Auch nach einer Neuwahl, die schon unter dem Zeichen der extremen Terrorisierung der Linken und der kurdischen Bewegung stand, blieb die HDP deutlich über der 10-Prozent Hürde. Seitdem werden die HDP-Abgeordneten mit ihrem Vorsitzenden Selahattin Demirtas pausenlos als „Handlanger von Terroristen“ diffamiert.

Auch vor der Abstimmung hetzte Erdoğan erneut in allen Tönen. Bei einer Rede in seiner Heimatstadt Rize betonte er, er wolle „keine Anhänger der separatistischen Terrororganisation“ im Parlament sehen. Jetzt seien die Gerichte am Zug. „Nehmt sie und richtet über sie. Sie sollen den Preis, welchen auch immer, bezahlen“, sagte Erdoğan. Er rief die Justiz auf, Strafverfahren gegen die HDP-Spitze einzuleiten. Gegen 50 der 59 HDP-VertreterInnen liegen bereits Anträge auf Gerichtsverfahren vor. Zumeist unterstellen die türkischen Behörden „terroristische Aktivitäten“, wobei darunter nach geltendem „Recht“ schon öffentliche Äußerungen über den Bürgerkrieg im Südosten des Landes fallen.

Die HDP hat mit Klagen vor dem Verfassungsgericht reagiert. Doch dieser Weg ist eine Sackgasse. Zwar meinte Eyyüp Doru, Europavertreter der HDP: “...erwarten wir von den Gerichten keine Fairness gegenüber den Abgeordneten der HDP. Letztendlich hat die Entscheidung der Großen Nationalversammlung nichts mit den gesetzlichen Vorgaben der Türkei zu tun; sie ist eine politische Entscheidung”.

Doch bleibt die HDP-Führung bei der Klage und Appellen an die UNO (Die Vorsitzenden haben Ban Ki Moon in einem Brief auf ihre Lage aufmerksam gemacht) und ”alle Personen und Institutionen, die sich universelle demokratische Werte zu Eigen gemacht haben”.

Doch was kann mit Appellen an die Menschlichkeit und die öffentliche Meinung erreicht werden? Seit einem Jahr wird in der Türkei Krieg geführt. Die “Internationale Gemeinschaft” schaut zu, während gleichzeitig die EU den Financier Erdoğans gibt.

Der logische Bündnispartner für die kurdische Bewegung ist die türkische Arbeiterklasse. Die HDP hat bereits das Potential gezeigt, die Jugend und die Arbeiterklasse über die Grenzen der Nationalitäten hinweg zu organisieren. Nur durch ihre Mobilisierung und einen gemeinsamen Kampf kann Erdoğan besiegt werden.

Doch dieser Kampf braucht auch eine Perspektive. Das Stimmverhalten der bürgerlichen Parteien wie auch die Haltung der EU haben eindrücklich gezeigt, wie hohl die Phrase der „Demokratie“ auf Basis des Kapitalismus ist. Aber was ist die Alternative? Letztendlich muss der Kampf gegen Erdoğan verknüpft werden mit dem Kampf für den Sozialismus. Das liegt im Interesse der KurdInnen ebenso wie in dem der Jugend und der Arbeiterbewegung in der Türkei.

  • Solidarität mit den 138 Abgeordneten!
  • Nieder mit dem korrupten bürgerlichen Regime Erdoğans!
  • Nieder mit dem Kapitalismus!

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