Die Türkei wird derzeit von einer Welle von Terroranschlägen erschüttert. Florian Keller berichtet.
Besonders der Anschlag in der Silvesternacht in Istanbul, für den der IS prompt die Verantwortung übernahm, scheint in seiner Brutalität ziel- und sinnlos zu sein. 39 feiernde Menschen starben bei den Attacken auf den Nachtclub „Reina“ und über 60 wurden verletzt. Dies ist ein Versuch des IS, in seinem Krieg mit der Türkei die Basis Erdogans zu schwächen und damit die blutige Terrorherrschaft der Gruppe in Teilen Syriens und des Irak zu sichern. Denn was auf den ersten Blick ein weiteres zufälliges Ziel zu sein scheint, ist in Wirklichkeit strategisch ausgewählt.
In der Zeit vor Silvester führten konservative Kräfte, von AKP und Staatsapparat gedeckt, eine regelrechte Hetzkampagne gegen die Feierlichkeiten zu diesem Fest. So wurde ein Bild, in dem ein Mann einen Weihnachtsmann (in der Türkei ein Repräsentant für Silvester) schlägt, von Abgeordneten der regierenden AKP geteilt. Die nationalistische Zeitung „Milli Gazette“ hatte noch am 31.12. getitelt: „Dies ist die letzte Warnung: Feier nicht!“. Und die Freitagspredigt vor Silvester, in der Türkei zentral ausgearbeitet von einer Regierungbehörde, verurteilte Silvlesterfeiern ebenfalls.
In dieser aufgeheizten Stimmung repräsentiert der Anschlag durch den IS deren blutige Zuspitzung und den Versuch, selbst davon zu profitieren, indem die Gruppe versucht, sich als konsequenteste Umsetzerin dieser reaktionären Hetze zu präsentieren. Gleichzeitig ist der Anschlag ein Versuch, die massive soziale Ungleichheit in der Region auszunützen und den Unmut darüber in barbarische und rückschrittliche Bahnen zu lenken. Denn „Reina“ ist ein Club der Reichen, in dem nicht zuletzt die Eliten der arabischen Welt umgerechnet 30€ für ein Glas Whisky bezahlen, während die arabischen Massen unter Krieg, Terror und Armut leiden.
An diesem Anschlag zeigt sich deutlich, dass die Stärke des IS ganz und gar ein Produkt der sozialen Widersprüche und der ideologischen Spaltungsversuche der Herrschenden selbst ist. Der Anschlag selbst wurde deswegen von der Regierung in bewährter Tradition auch nur dafür verwendet, demokratische Rechte weiter einzuschränken. Doch eine öffentliche Debatte ist nicht erwünscht. So wurden auch SozialistInnen, die für die Opfer rote Nelken niederlegten, durch die Polizei verhaftet. Das ist ein Teil des Versuches, der Regierung peinliche Fragen in die oben skizzierte Richtung zu ersparen.
Der Ausweg aus dieser immer blutiger werdenden Gewaltspirale scheint ferner denn je. Erdogan sichert seinen Zugriff auf die Macht durch Terror und Krieg immer weiter, indem er sich als einzigen Garanten der Stabilität präsentiert, provoziert beides aber genau aus diesem Grund selbst. Die einzige Antwort die es darauf geben kann, ist eine Massenbewegung der Unterdrückten in der Türkei, die über nationale Grenzen hinweg die Jugendlichen, ArbeiterInnen und Armen in einem solidarischen Kampf vereint.