Angesichts ständiger neuer Vorstöße, die Disziplin im Inneren zu verstärken und nach außen als imperialistische Macht mitzumischen, analysieren wir aktuelle Entwicklungen und innere Prozesse in China. Von Martin Gutlederer.
Der Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) von 18. bis 24. Oktober 2017 wurde von vielen westlichen Medien zum Anlass genommen, eine Abkehr von der bisherigen kapitalistischen „Öffnungspolitik“ zurück zu einer geplanten Wirtschaft und klassischen stalinistischen Diktatur anzunehmen. Auch viele westliche StalinistInnen denken, dass nun eine Ära der Rückkehr zum Stalinismus maoistischer Prägung eintritt. Doch darum geht es Xi Jinping nicht, der nach Mao der erste Parteiführer ist, der seine „Gedanken“ zu Lebzeiten in die Verfassung aufnehmen lässt. Zitate von Xi, die sich positiv auf Mao beziehen, oder Schläge gegen einzelne besonders korrupte Individuen innerhalb der chinesischen Bürokratie sind notwendig, um die innere Stabilität zu bewahren und den Prozess der Transformation zu einer kompletten kapitalistischen Marktwirtschaft weiter voranzubringen.
Die dominante Rolle der Partei und des Staates in China liegt in der Besonderheit des chinesischen Kapitalismus begründet, der durch den Staat aus der Planwirtschaft eines degenerierten Arbeiterstaates herausgewachsen und nicht in der Lage ist, sich ohne starken Staatseinfluss weiterzuentwickeln. Aufgrund der Tatsache, dass die chinesische Bourgeoisie aus der Bürokratie der KPCh entstanden ist, formt diese die KPCh nach ihrem Ebenbild. Der ständige Ausschuss des Politbüros, der innerste Kern der Parteiführung, besteht nun verstärkt aus dem engsten Umfeld Xi Jinpings und Befürwortern weiterer Marktliberalisierungen wie Wang Yang. Gleichzeitig wurde der ökonomische Berater und Harvard-Absolvent Liu He, der ebenfalls für mehr Markt einsteht, in das Politbüro kooptiert. Während der ersten Amtszeit Xi Jinpings wuchs auch das Vermögen der reichsten hundert Mitglieder des Nationalkongresses um fast zwei Drittel. Die Gesamtsumme stellt mittlerweile den wenig spartanischen US-Kongress in den Schatten. Auch die „Basis“ der KPCh verbürgerlicht zusehends: Auf dem Parteitag befinden sich mittlerweile internationale Konzernvertreter, beispielsweise von Samsung. Gleichzeitig steigt das relative Gewicht des privaten Sektors, der mittlerweile 60 % der gesamten Wirtschaftsleistung ausmacht und 90 % aller neuen Arbeitsplätze schafft.
Mit der Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse wächst die Militanz der Arbeiterklasse in China, was Xi dazu zwingt, die relative Unabhängigkeit des Staatsapparats zu nutzen, um mit der Partei zwischen Proletariat und Bourgeoisie zu balancieren. Doch die Widersprüche des chinesischen Kapitalismus türmen sich bereits auf und warten nur darauf, sich in einer weiteren Krise zu entladen. Als besonders deutlicher Indikator dafür sei hier die scharf angestiegene Schuldenquote genannt.
So macht der chinesische Staat immer wieder Zugeständnisse gegenüber der Arbeiterklasse, sei es durch minimale Lohnverbesserungen, das Entfernen einzelner besonders korrupter lokaler Beamter oder Druck auf einzelne Unternehmen, ihre ArbeiterInnen zu bezahlen. Gleichzeitig wird jede eigenständige Regung der Arbeiterklasse massiv und gewaltsam unterdrückt. In diesem Zusammenhang ist auch Xis Anti-Korruptionskampagne zu betrachten: Einerseits dient diese dazu, Cliquen kaltzustellen, die Xi nicht wohlgesonnen sind, um im Krisenfall eine gefestigte Führung zu haben. Andererseits besteht die Möglichkeit, dass sich an besonders korrupten Individuen an den Rändern der Bürokratie eine Massenbewegung entzündet, die sich zu einer Bedrohung für das ganze Regime entwickeln könnte. Diese Angst vor der Krise und ihren politischen Auswirkungen spiegelt sich auf den verschiedenen Ebenen der Politik wider. Wie gilt es nun, die aktuellen Manöver Xi Jinpings in der Innenpolitik zu deuten?
Was stattfindet, ist die Stärkung des bonapartistischen Elements des chinesischen Staates. Unter Bonapartismus verstehen wir einen Zustand, in dem der Staat ein außerordentlich hohes Maß von Autonomie von der ökonomisch herrschenden Klasse erhält. Damit wird die Bourgeoisie zwar von der direkten politischen Kontrolle ferngehalten, aber letztlich werden die größeren Möglichkeiten des Staates eingesetzt, um in letzter Instanz den Kapitalismus zu verteidigen. Der Bonapartismus rettet den Kapitalismus vor der Bourgeoisie. In diesem Zusammenhang sind die jüngsten Maßnahmen und Zentralisierungstendenzen zu beurteilen. Auch die zunehmende Gründung von Parteizellen in Privatunternehmen ist Teil dieses Prozesses: Zwar werden die UnternehmerInnen damit an eine engere politische Leine genommen, aber vielmehr wird damit Druck auf die Gewerkschaften ausgeübt und eine Schicht von privilegierten ArbeiterInnen geschafften, die aufgrund ihrer Parteimitgliedschaft materielle Vorteile genießt.
Hinsichtlich der Wirtschaftspolitik setzt man darauf, sich dem ausländischen Kapital weiter zu öffnen und bürokratische Hürden abzubauen. Einerseits zeigt das, dass man sich für wettbewerbsfähig hält. Andererseits versucht man damit, private Investitionen anzukurbeln. Trotzdem setzt China noch immer auf diverse protektionistische Maßnahmen (z. B. den Zwang, dass Investitionen nur in Kooperation mit chinesischen Unternehmen möglich sind), über die sich deutsche und europäische Medien zunehmend empören, wobei sie sogar dem verhassten Cowboy im Weißen Haus ein richtiges Gespür gegenüber China attestieren. Sie kritisieren, dass China in Worten den Freihandel lobt, während die Taten eine andere Sprache sprechen. Das zeigt auch, dass der deutsche Imperialismus mit Argwohn beobachtet, wenn China in Deutschland Rekordsummen (11,2 Milliarden Euro) investiert, auch in Osteuropa ausbaut und damit direkt mit Deutschland in Europa in Konkurrenz tritt, während ihm selbst erschwert wird, Ähnliches in Ostasien zu tun.
Gerade innerhalb der EU betrachtet man den zunehmenden Kapitalexport Chinas nach Osteuropa – der bisherigen Spielwiese von Staaten wie Deutschland und Österreich – mit Argwohn. Das Handelsvolumen zwischen China und den osteuropäischen Staaten steigt von Jahr zu Jahr. Vor Kurzem erst fuhr im Zuge des Projektes der neuen Seidenstraße der erste Güterzeug von Ungarn nach China. Ende des vorigen Jahres übergossen sich VertreterInnen osteuropäischer Länder und Chinas gegenseitig mit Lob. Es kam zu weiteren Vertragsabschlüssen und ökonomischer Zusammenarbeit. Beispielsweise wurden bei einem Besuch des Premierministers Li Keqiang in Budapest gleich zehn neue Verträge abgeschlossen.
Eine immer offensiver werdende chinesische Außenpolitik zeichnet sich auch in Bezug auf Taiwan ab, wo es Anfang des Jahres zu einem Konflikt aufgrund von Flugrouten und -rechten zwischen der aus Chinas Sicht abtrünnigen Provinz und der Volksrepublik kam. Generell bleibt China nicht untätig. Die Infrastruktur nach Vietnam, aber auch zu bisher unzugänglichen Gebieten in Laos wird massiv ausgebaut. China macht sich die relative Schwächung der USA gezielt zunutze und füllt entsprechende Lücken. Diese offensiver werdende Außenpolitik spiegelt darüber hinaus den steigenden Druck auf die chinesische Ökonomie wider. Mit massiven Investitionsprojekten versucht man der Krise zu entgehen bzw. sie hinauszuschieben, während man dabei massive Schuldentürme anhäuft. So hat sich die Gesamtverschuldung Chinas seit 2008 verdoppelt. Nur durch diese staatlichen Stimuli für die Wirtschaft konnte ein hohes Wachstum aufrechterhalten werden.
Dieser Handlungsspielraum engt sich jedoch immer weiter ein. So wird es immer schwieriger, China zu regieren und die Widersprüche in der Ökonomie zu entschärfen. Darin liegt der Kern von Xi Jipings Zentralisation auf dem letzten Parteikongress. Er braucht die gesamte Staatsführung auf einer Linie, um für die kommenden Stürme gewappnet zu sein. Gleichzeitig ist der wahre chinesische Tiger noch nicht erwacht. Die Industrialisierung der letzten Jahrzehnte hat eine große und junge Arbeiterklasse erschaffen, die wenig zu verlieren hat. Die chinesische Arbeiterklasse wächst immer weiter. Wenn die Krise auch in China losbricht, wird sie kämpfen und aktiv in den Klassenkampf eingreifen müssen, um ihren Lebensstandard zu halten. Die Illusion eines Kapitalismus, der das Leben der Massen immer weiter verbessern kann, wird sich mehr und mehr überleben und an ihre Grenzen stoßen. Wenn die Massen sich bewegen, wird die scheinbar unanfechtbare chinesische Bürokratie erzittern. Dann beginnt nicht nur in China, sondern weltweit eine neue Ära.