Nachdem es Mitte August rund um einen türkisch-US-amerikanischen Konflikt zu einem Einbruch der türkischen Lira kam, ist die türkische Wirtschaft nachhaltig erschüttert. Über Gründe und Folgen von Florian Keller.

In den letzten Wochen musste die türkische Wirtschaft eine enorme Erschütterung hinnehmen. Nach der Zuspitzung eines politischen Konfliktes mit den USA und der Einführung von Strafzöllen dieser auf türkische Stahl- und Aluminiumimporte verlor die türkische Lira massiv an Wert, zeitweise war sie um bis zu 40% weniger wert als zu Jahresbeginn. Und auch die „Stabilisierung“ seitdem heißt nur, dass man für einen Dollar seit einer Woche „stabil“ fast 30% mehr Lira bekommt als vor der Zuspitzung der Krise.

Das hat ernste Auswirkungen auf die türkische Wirtschaft: Die Türkei hat ein großes Außenhandelsdefizit, 2017 betrug es etwa 76 Mrd. US-Dollar. Viele Unternehmen wie auch der Staat haben, um den Import zu bezahlen, Dollarkredite aufgenommen, verdienen aber Wert verlierende Lira in der Türkei und sitzen daher auf einem immer höher werdenden Schuldenberg. Aus der Währungskrise wird so in schnellen Schritten eine Schuldenkrise, sogar eine Staatspleite droht.


Für die ArbeiterInnen in der Türkei bedeutet das kurzfristig einen weiteren Preisanstieg. Die Löhne sind immer weniger Wert, die Inflation lag schon vor der jüngsten Liraabwertung bei über 15%. Bei einer Verschärfung wären die Folgen ein massiver Anstieg der Arbeitslosigkeit und eine für den Großteil der Massen existenzbedrohende Wirtschaftskrise.

Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als ob alles deshalb eskalierte, weil zwei „starke Männer“ (US-Präsident Trump und sein türkischer Konterpart Erdogan) sich aufplustern und niemand nachgeben möchte: Die Lira brach genau zu dem Zeitpunkt ein, als Donald Trump die Strafzölle verkündete. Der Grund: Ein amerikanischer evangelikaler Pastor, Andrew Brunson, der unter türkischem Hausarrest steht, soll unbedingt freikommen – oder um es mit der unvergleichlichen Art Trumps auf Twitter zu sagen – „Sie halten jetzt unseren wunderbaren christlichen Pastor fest, den ich jetzt darum bitten muss, unser Land als große patriotische Geisel zu repräsentieren. Wir werden nichts für die Freilassung eines unschuldigen Mannes zahlen, aber wir kürzen bei der Türkei!“ Nach Trumps Meinung hätte die Türkei Brunson spätestens freilassen sollen, nachdem Trump half, eine türkische Bürgerin aus israelischer Gefangenschaft herauszubekommen.

Doch die Türkei dementierte, dass so eine Absprache existierte. Die Reaktion von Erdogan auf den Konflikt war kürzer als die von Trump, nicht auf social media, aber auch klar in ihrem Inhalt – „Ihr habt auch einen Pastor“. Was er damit meint: Fetullah Gülen, der angeblich mit einer Verschwörung hinter dem Putschversuch in der Türkei im Jahr 2016 steckt und der Kopf der einflussreichen Gülen-Bewegung ist, lebt in den USA im Exil – und Erdogan möchte, dass er ausgeliefert wird.


Doch auch wenn es so scheint, als ob mit jähzornigen Herrschern und gegenseitiger Geiselnahme das Mittelalter in die Weltpolitik zurückgekehrt ist, sind die Hintergründe dieses Konflikts nur aus den Dynamiken in Weltpolitik und –wirtschaft in den letzten Jahren zu erklären.

Politische Konflikte

Lange Zeit als NATO-Mitglied ein treuer Verbündeter der USA, brachten die letzten Jahre die türkischen Interessen in der Region immer öfter in Konflikt mit den amerikanischen Interessen. Letztendlich liegt das an der relativen Schwächung der USA, die nicht mehr in der Lage ist überall auf der Welt gleichzeitig ihre Interessen durchzusetzen, kombiniert mit dem Aufstieg der türkischen Wirtschaft in den letzten 20 Jahren, was in Erdogans engstem Zirkel Träume eines Aufstieges der Türkei zu neuer imperialer Größe nach dem Vorbild des osmanischen Reiches weckte – nicht zuletzt manifestiert durch den gigantomanischen Bau des Präsidentenpalastes in Ankara nach dem Stil eines osmanischen Sultans.

Der deutlichste Ausdruck dieser widersprechenden Interessen ist im syrischen Bürgerkrieg zu finden, wo die US-Unterstützung der kurdisch dominierten SDF-Miliz der Türkei ein Dorn im Auge ist und diese beiden Staaten in diesem Konflikt auf gegnerischen Seiten stehen. Erdogan verlangt seit geraumer Zeit erfolglos, dass die USA die Unterstützung für die kurdischen Kräfte in Syrien aufgeben. Im Gegenteil dazu wird deren ursprünglich rein auf den Kampf gegen den IS beschränkte Unterstützung zementiert durch den Bau von US-Militärbasen. Der amerikanische Einfluss auf die Kurdenmilizen ist das letzte wirkliche Druckmittel, das die USA in Syrien im Stellvertreterkrieg mit dem Iran und Russland noch haben, Erdogan stößt daher mit seinem Wunsch in Washington insgesamt auf taube Ohren. Zuletzt drohte Erdogan wiederholt damit, die syrische Stadt Manbidsch von der SDF zu erobern, und damit den Einfluss der USA in Syrien direkt zurückzudrängen.

Aus diesem Grund ist das traditionelle Bündnis der USA und der Türkei schon lange vor den jüngsten Ereignissen auf sehr wackeligen Grundlagen gebaut. Immer öfter hat Erdogan versucht, Abkommen mit anderen Mächten wie etwa Russland zu schließen, um so die USA in Zugzwang zu bringen und die Türkei unabhängiger vom Willen Washingtons zu machen – etwa indem sie (als NATO-Land!) moderne S-400 Flugabwehrraketen von Russland kaufte.

Die Eskalation des Konfliktes von Seiten der USA durch Strafzölle ist also letztendlich keine Geiselrettungsaktion, sondern nichts anderes als der Versuch, den abtrünnigen Verbündeten am Bosporus in einer schwierigen wirtschaftlichen Situation durch einen harten Schlag zum Einlenken zu bewegen und damit wieder fest in den amerikanischen Einflussbereich zu bekommen.
Doch letztendlich ist das kein Zeichen der Stärke, sondern ein Zeichen dafür, dass den USA die Optionen ausgehen. Denn das direkte Resultat der Zölle ist nicht ein Einlenken der Türkei, sondern der Versuch Erdogans, die Fühler zu anderen Ländern weiter auszustrecken, etwa China und Russland – vor allem aber der EU.

Dort versteht man die Zeichen der Zeit und macht Schritte auf Erdogan zu. Das liegt nicht an irgend einer altruistischen Neigung des europäischen Kapitals – ganz im Gegenteil. Denn einerseits sind gerade italienische und spanische Banken auf dem türkischen Markt vertreten, eine Zuspitzung der wirtschaftlichen Situation würde also eine weitere Belastung für den eh schon fragilen Bankensektor dieser Länder bedeuten.


Doch gerade auch das deutsche Kapital wittert Chancen, die sich nicht zuletzt aus der türkischen Reaktion ergeben (eine Erhöhung der Zölle etwa auf Automobile aus den USA). In einer Pressekonferenz in Bezug auf die US-Strafzölle gegen China und die Türkei kritisierte etwa der deutsche Wirtschaftsminister Peter Altmaier die Zölle scharf: „Dieser Handelskrieg verlangsamt und zerstört Wirtschaftswachstum und produziert neue Unsicherheiten“. Die Reaktion darauf ließ nicht lange auf sich warten, indem der türkische Finanzminister und Erdogan–Schwiegersohn Berat Albayrak Altmaier für seine Äußerungen lobte: Die „Äußerungen des gesunden Menschenverstandes“ seien wichtig und stärkten das Vertrauen der Türkei in Europa.

Nur wenig später bekam – natürlich rein zufällig – eine deutsche Journalistin, die wegen „Terrorunterstützung“ in der Türkei angeklagt ist, eine Ausreisegenehmigung. Den Höhepunkt dieser neuentdeckten Liebe bildete aber sicherlich die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles, die mit ihrem Vorschlag aufhorchen ließ, der Türkei in einer Wirtschaftskrise zu helfen – unabhängig von politischen Konflikten. Auch wenn sie auf öffentlichen Druck hin erklärte, dass damit keine finanziellen Hilfen gemeint seien, ist die Richtung klar: das europäische, vor allem das deutsche Kapital versucht, das Vakuum zu füllen, dass sich durch den türkisch-amerikanischen Konflikt ergibt. Und das gilt auch für China und zu einem gewissen Grad Russland.

Eine „Krise von außen“?

Es ist daher leicht für Erdogan, die Schuld für die derzeitige Krise auf die USA abzuwälzen, was er mit der Erklärung, die „Türkei befindet sich in einem Wirtschaftskrieg“ auch sogleich tat. Doch die Probleme liegen viel tiefer und würden auch nach einer politischen Einigung nicht verschwinden


Die türkische Wirtschaft ist zwar in den vergangenen Jahrzehnten massiv gewachsen, aber gerade in den letzten Jahren war dieses Wachstum immer mehr abhängig von einer massiven Blase an den Immobilienmärkten, kreditfinanziert und abhängig von ausländischen Direktinvestitionen.


Erdogans Politik war in den letzten Monaten dabei immer mehr davon bestimmt, seine Macht zu erhalten. Um einer Krise zuvorzukommen, hielt er vor zwei Monaten vorgezogene Neuwahlen ab, im Zuge derer er großzügig Wahlgeschenke wie etwa Einmalzahlungen an Pensionisten verteilte, um seine schwindende Unterstützung zu stabilisieren. Gleichzeitig wollte und konnte er aber natürlich auch nicht seinen eigentlichen Unterstützern aus dem türkischen Kapital dafür zur Kasse bitten. Im Gegenteil, massive Geschenke an das Kapital wurden verteilt, wie etwa die Übernahme von bestimmten Sozialversicherungskosten durch den Staat. Die Folge ist auf Basis der kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten eine weitere Erhöhung der Verschuldung und letztendlich eine Beschleunigung der wirtschaftlichen Krisenprozesse als Ganzes.

Auch jetzt versucht Erdogan weiterhin verzweifelt, die Situation zu stabilisieren. Doch Maßnahmen wie die Einschränkung von Spekulationen mit der türkischen Lira oder 15 Mrd $ an Direktinverstitionen aus Katar sind nichts anderes als Pflaster, die auf ein eiterndes, wachsendes Geschwür geklebt werden. Die einzige Folge ist eine kurzfristige Stabilisierung, die aber nichts am langfristigen Trend ändert: Die Türkei geht auf einen massiven Crash in der Wirtschaft zu.


Das bedeutet nicht zuletzt, dass generell für militärische Abenteuer im Ausland, insbesondere in Syrien, immer mehr der finanzielle Spielraum fehlen wird. So ist es abzusehen, dass die Türkei hier endgültig in eine defensive Rolle gedrängt wird und sie nur wenig Spielraum haben wird zu verhindern, dass die syrische Armee die letzte Hochburg der Aufständischen in Idlib erobern kann. Auch die Intervention gegen die Kurden in Syrien wird so schwieriger – sicherlich Teil des Kalküls der USA.


Doch vor allem innenpolitisch würde so ein Zusammenbruch wie ein Katalysator für alle Prozesse wirken, die schon seit Jahren stattfinden. Die lange Zeit starke gesellschaftliche Basis von Erdogan bröckelt ihm schon seit Jahren weg. Der Unmut eines großen Teiles der Massen lässt sich schon jetzt nur noch durch immer diktatorischere Maßnahmen wie der völligen Gleichschaltung der Presselandschaft und einer extremen Konzentration der Macht in den Händen Erdogans und seines engsten Zirkels unter Kontrolle halten. Nach den Millionenprotesten vor 5 Jahren, die sich am Abriss des Geziparks entzündeten, griff die zu Tode erschreckte herrschende Clique um Erdogan weiterhin zum Zuckerbrot, aber musste immer öfters auch zur Peitsche greifen, um weitere revolutionäre Massenmobilisierungen zu verhindern. Bisher ist ihnen das mit Müh und Not gelungen. Doch wenn die Massen mit einer Situation konfrontiert werden, in der massive Massenarbeitslosigkeit, Hyperinflation und absolute Verarmung der Arbeiterklasse drohen, wird dieser dünne Schleier der scheinbaren Stabilität sehr schnell weg gerissen werden. Die Massen in der Türkei, allen voran die Arbeiterklasse, wird in dieser Situation keinen anderen Weg haben als den Weg in den Kampf

Daher können wir mit Sicherheit davon ausgehen, dass die Türkei nicht nur auf große wirtschaftliche Verwerfungen, sondern auch auf ein Erwachen der türkischen Massen, besonders der Arbeiterklasse zugeht, die eine lange und stolze revolutionäre Tradition hat. Die Türkei geht unvermeidlich auf eine Revolution zu, in der die letztendliche Frage lauten wird: Sozialistische Revolution oder die kapitalistische Barbarei von Diktatur und Krise!

 


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