Auf den ersten Blick wirkt der chinesische Staat weiterhin stark. Doch hinter der Fassade des spitzen sich die sozialen Widersprüche zu. Besonders deutlich sieht man das am Phänomen der Mingong (Wanderarbeiter).

Während im Zuge der COVID-19-Pandemie weltweit die Wirtschaft eingebrochen ist, wirkt es so, als hätte China sich durch seine strengen Lockdown-Maßnahmen und die Aufopferung der in der Pandemie systemrelevanten ArbeiterInnen vor dem wirtschaftlichen Niedergang retten können und verzeichnete als eine von wenigen Volkswirtschaften im vergangenen Jahr ein leichtes Wachstum von 1%. Auf den ersten Blick wirkt der chinesische Staat weiterhin stark.

Hinter der Fassade vom „Sozialismus chinesischer Prägung” steckt jedoch eine ausbeuterische kapitalistische Wirtschaft, die durchaus in der Krise steckt. In China sind die ArbeiterInnen weiterhin extremer Ausbeutung ausgesetzt, die an die Bedingungen europäischer ArbeiterInnen am Ende des 19. Jahrhunderts erinnert. Ihnen werden die grundlegendsten Rechte verwehrt, sie haben keine Meinungs- und Redefreiheit und jeder Protest wird gnadenlos unterdrückt. Die ArbeiterInnen nehmen das aber nicht tatenlos hin, dazu sind die sozialen Widersprüche des Kapitalismus und die systematische Unterdrückung zu akut.

Die Entwicklung des Kapitalismus in China hat eine neue Generation von ArbeiterInnen hervorgebracht, die weder die alte staatliche Planwirtschaft noch den Prozess der kapitalistischen Restauration selbst erlebt hat und die nun hinter dem neuen Aufschwung des Klassenkampfes steht.

Die Rolle der Wanderarbeiter-Innen (Mingong)

Ein zentraler Faktor ist der rasche Zustrom von WanderarbeiterInnen (民工, Mingong) in die Städte, nachdem breite Schichten der Landbevölkerung im Zuge der kapitalistischen Restauration gezwungen waren, in den aufstrebenden städtischen Zentren Arbeit zu suchen. Sie ersetzen mehr und mehr jene ältere Generationen von ArbeiterInnen, die von den Auswirkungen der Kulturrevolution und der bürokratischen Planwirtschaft demoralisiert sind und die dazu tendierten, der Kommunistischen Partei auch im Zuge der kapitalistischen Restauration ihr Vertrauen zu schenken.

Diese ältere Schicht an ArbeiterInnen hatte eine tatsächliche Verbesserung ihrer materiellen Bedingungen erlebt. Zwischen 1978 und 1985 war der durchschnittliche Monatslohn von 52 Yuan auf 119 Yuan angestiegen – eine jährliche Steigerung von 13%. Angesichts dieser rasanten Lohnsteigerungen nahmen die ArbeiterInnen mehrheitlich die Orientierung der KPCh auf einen kapitalistischen Restaurationsprozess hin, auch wenn sie schon bald die schmerzlichen Konsequenzen zu spüren bekamen.

Nach Deng Xiaopings „Südtour“ 1992 übernahmen jene Kräfte in der KPCh endgültig die Kontrolle in der Partei und im Staat, die die Ökonomie liberalisieren wollten und gewaltige Reformen in den Staatsbetrieben vorantrieben. Viele der älteren Generation verloren damals ihren Arbeitsplatz. Mehr als 22 Millionen ArbeiterInnen wurden zwischen 1998 und 2001 entlassen. In den Folgejahren kam es zu einer massiven Welle des Widerstands gegen solche Entlassungspläne, die jedoch bald wieder abebbte.

Während die älteren ArbeiterInnen, die in den Großstädten lebten, ihre Jobs in den Staatsbetrieben verloren, verließen viele ehemalige Bauern nach der Einführung des „Systems der Haushaltsverantwortung“ im Jahr 1982, mit der faktisch die Privatisierung von Ackerland begann, freiwillig ihr Land, um in den Städten zumindest Saisonarbeit zu suchen. Schlussendlich verließen sie die ländlichen Gebiete ganz für bessere Jobs in den Städten.

Zwischen 1982 und 1988 strömten jährlich etwa 9,7 Millionen solcher ArbeiterInnen aus ländlichen Gegenden, die Mingong, in die Städte. Diese Zahl stieg nach Deng Xiaopings „Südtour“ 1992 auf über 10 Millionen pro Jahr an. Gemäß aktuellen Zahlen des nationalen Statistikamtes betrug die Zahl der Mingong im Jahr 2020 etwa 280 Millionen. 2019 waren es noch 290 Millionen, womit erstmals ein Rückgang verzeichnet wurde.

Heute machen die Mingong ein Drittel der 900 Millionen starken Erwerbsbevölkerung Chinas aus, doch die tatsächliche Zahl der ArbeiterInnen mit ländlichen Wurzeln ist weitaus größer. Aus rechtlicher Sicht sind Mingong nur jene WanderarbeiterInnen, deren Wohnsitz weiterhin in ihren ursprünglichen Heimatgemeinden am Land registriert ist. In den vergangenen Jahrzehnten wurde vielen Mingong jedoch erlaubt, ihren Wohnsitz in der Stadt, in der sie arbeiten, anzumelden. Sie werden dementsprechend in der Statistik nicht länger als Mingong geführt.

Die heutigen Mingong verstehen sich bewusst als Teil der städtischen Arbeiterklasse. In einem Interview aus dem Jahr 2006 erklärt ein Mingong aus Hunan, der in der Provinz Guangdong arbeitet:

„Mein gesamtes Leben ist anders als das der Generation meiner Eltern. Ich habe keinerlei Pläne zurück ins Dorf zu gehen, um dort zu heiraten und Kinder zu bekommen. Ich bin kultiviert und gebildet. Ich möchte eine Fertigkeit erlernen und hier [in der Stadt] Wurzeln schlagen.”

Viele hatten anfänglich die Hoffnung, dass das Leben in der Stadt neue Möglichkeiten und Wohlstand bringen würde, doch seit 2011 hat sich das Wirtschaftswachstum deutlich verlangsamt. Die extreme Ausbeutung und das harte Leben in den Städten beförderte das Klassenbewusstsein unter den Mingong. Seit 2011 gab es mehr als 13 000 Streiks in China. Meist waren die Mingong die treibende Kraft hinter diesen Kämpfen.

Die Millionen von Mingong, die in den vergangenen Jahrzehnten in den Städten Wurzeln schlugen, trieben die Urbanisierung rapide voran. Die Urbanisierungsrate betrug 2010 49,68%. 2016 erreichte sie bereits 57,35% und 2020 galten bereits 63,89% der Bevölkerung als urban.

Mit der Ansiedlung der Mingong in den Städten veränderte sich auch ihr Lebensstil. Heutzutage versuchen junge Mingong nach Möglichkeit die Arbeit in den Fabriken zu meiden, während das ironischerweise jene Jobs waren, die ihre Eltern sich wünschten. Es ist verständlich, dass diese jungen ArbeiterInnen die gefährlichen Arbeitsbedingungen und die harte körperliche Arbeit, die ihre Eltern durchleben mussten, ablehnen.

In staatsnahen Medien werden Jobs im Dienstleistungssektor, beispielsweise als EssenszustellerInnen, als weitaus besser und sicherer dargestellt, doch die Realität ist oft eine ganz andere.
Die tägliche Arbeit der „Rider“ ist körperlich enorm fordernd und die Zahl der Verkehrsunfälle hoch. Unternehmen bezahlen häufig unzureichende oder gar keine Entschädigungen, wenn ihre MitarbeiterInnen während der Arbeitszeit einen Unfall haben.

Die ältere Generation sehnt sich nach der Zeit als es gleiche Löhne und die eine oder andere Sozialleistung vom Staat gab. Die neue Arbeiterklasse aber formierte sich unter völlig anderen Bedingungen. Sie kennen nur die Konkurrenz des freien Marktes und autoritäre Unterdrückung. Das erklärt auch, warum es unter den gebildetsten und fortgeschrittensten ArbeiterInnen in den vergangenen Jahren zu einem massiven Erwachen des Klassenbewusstseins kam.

Neu aufflammendes Klassenbewusstsein

Dieser Trend wird besonders seit verschiedenen Protesten im Jahr 2019 deutlich, wo die gebildetsten Schichten im Technologiesektor begannen, ihrem Unmut online Ausdruck zu verleihen. Ausgelöst wurde diese Entwicklung durch den „251”-Vorfall, bei dem Huawei einem ehemaligen Angestellten Erpressung vorwarf und dieser deshalb 251 Tage lang unschuldig im Gefängnis saß, und das „996”-Arbeitssystem, das bereits seit 2016 in der Tech-Branche vorherrschend ist und in dem von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends an 6 Tagen die Woche, also 72 Stunden, gearbeitet wird.

ArbeiterInnen beschimpften die Mainstream-Medien für ihre pro-kapitalistische Berichterstattung und machten sich lustig über die lächerlichen Werbungen der Unternehmen, legten die brutale Ausbeutung in den Betrieben offen und suchten aktiv die Verbindung zur Arbeiterklasse in der Produktion.

Die Ausdrucksformen dieser Bewegung reichen vom offenen Spott über Jack Ma, den Gründer der B2B-Plattform Alibaba und reichsten Mann Chinas, der das „996“-System offen lobt, über den Autoren-Streik im Mai 2020 und die Verbreitung des Internet-Memes 打工人 (Da Gongren, das früher für FabrikarbeiterInnen verwendet wurde, steht heute für alle ArbeiterInnen), bis hin zur offenen Forderung nach einem 8-Stunden-Tag.

Dieser Stimmungswandel ist nicht vom Himmel gefallen, sondern unweigerliches Resultat der kapitalistischen Entwicklung. Nach langen Jahren der Ausbeutung und Unterdrückung vollzieht sich nun eine qualitative Veränderung. Schon ein kleiner Funke kann das Pulverfass zum Explodieren bringen.

Die Notwendigkeit einer revolutionären Führung

Schon Marx und Engels erklärten im „Kommunistischen Manifest“, dass der Kapitalismus seine eigenen Totengräber hervorbringt. Die kapitalistische Restauration in China hat Millionen von Menschen zu ProletarierInnen gemacht. Die meisten fristen seither ein Leben voller Schufterei und Unterdrückung.

Selbst jene, die es geschafft haben, sich weiterzubilden, finden anstatt Stabilität nur prekäre Jobs und unmenschlich lange Arbeitszeiten vor. Die permanente Staatspropaganda, die China als einen aufstrebenden sozialistischen Staat darstellt, zeigt immer weniger Wirkung und eine wachsende Schicht an ArbeiterInnen und Jugendlichen erkennt unter diesen Bedingungen das wahre Gesicht dieses Systems, eines brutalen Kapitalismus, der gestürzt werden muss.

Die zunehmenden Widersprüche in der chinesischen Gesellschaft werden zum Ausbruch von Streiks und spontanen Kämpfen führen. Diejenigen, die in diesen Bewegungen eine führende Rolle einnehmen, werden dies ohne Zweifel mit größter Entschlossenheit tun. Sie werden die Verhältnisse zum Tanzen bringen, doch entgegen aller, in der chinesischen Linken weit verbreiteten Annahmen, können spontane Kämpfe allein nicht den Sieg der Arbeiterklasse und die sozialistische Revolution erwirken.

China ist ein riesiges Land mit einer Bevölkerung von 1,4 Milliarden Menschen. Umso größer ist die Gefahr, dass die spontan ausbrechenden Kämpfe anfangs isoliert bleiben. Die ArbeiterInnen, die in den Kampf treten, werden auf die Macht eines extrem zentralisierten, gut ausgestatteten und disziplinierten Staatsapparats mit einem omnipräsenten Überwachungsnetzwerk treffen.

Um in dieser Auseinandersetzung siegreich sein zu können, braucht die chinesische Arbeiterklasse eine Führung, die die Kämpfe in ganz China vereint und die Idee vertritt, dass die ArbeiterInnen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und den Kapitalismus stürzen müssen. Die Herausbildung einer solchen Führung ist untrennbar verknüpft mit dem Aufbau einer marxistischen Partei mit einer internationalen Perspektive.

(Funke Nr. 195/1.7.2021)


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