Seit rund zwei Monaten kommt es in Sri Lanka zu Massenprotesten gegen die korrupte Regierung rund um die Rajapaksa-Brüder, Präsident Gotabaya „Gota“ Rajapaksa und Premierminister Mahinda. Valentin Iser berichtet über den Verlauf und die Perspektiven der Bewegung.
Sri Lanka ist extrem abhängig von internationalen Geldgebern und vom Internationalen Währungsfonds (IWF). Alleine dieses Jahr sind 7 Mrd. US-Dollar an Schuldenrückzahlungen fällig, insgesamt steht das Land mit mehr als 50 Mrd. US-Dollar in der Kreide. Die Regierung verpfändet deshalb essenzielle Infrastruktur an imperialistische Mächte, wie den strategisch wichtigen Hambantota-Hafen für 99 Jahre an China, während das größte Kraftwerk des Landes einem US-Konzern gehört.
Der Inselstaat wurde von der Covid-Pandemie gewaltig getroffen, das Durchschnittseinkommen von Haushalten in Städten sank um 37%. Die Inflation betrug von Jänner bis September 2021 6,2%, im Januar 2022 waren es bereits 16,8%. Die Versorgungsengpässe treiben die Inflation noch mehr in die Höhe, bei Lebensmitteln liegt sie bei 30%; die Spritpreise haben sich seit Jahresbeginn verdoppelt. Die Bevölkerung muss Stromausfälle von mehreren Stunden täglich ertragen.
Ende März kam es in der Hauptstadt Colombo zu ersten spontanen Protesten, bei denen der Rücktritt des Präsidenten gefordert wurde. Doch bis Anfang April war die Beteiligung an den Demonstrationen trotz Ausgangssperre und Repression massiv gestiegen. Über 100.000 Menschen gingen in Colombo (einer Stadt von rund 700.000 EinwohnerInnen) auf die Straße. Drei Wochen lang wurden in der Hauptstadt jeden Abend Kundgebungen mit 40.000 TeilnehmerInnen abgehalten. In einigen Fällen zeigten sich sogar Polizisten solidarisch, die nicht bereit sind, dieses kaputte System zu verteidigen; an manchen Orten stellte sich die Polizei dem Militär entgegen.
26 Kabinettmitglieder waren bereits zurückgetreten und 42 Abgeordnete entzogen der Regierung ihre Unterstützung. Gota musste sich auf seine engsten Verbündeten und Familienmitglieder stützen, um ein Kabinett stellen zu können.
Die Peitsche der Konterrevolution
Am 9. Mai startete der Premierminister Mahinda Rajapaksa dann einen verzweifelten Versuch, sich an der Macht zu halten, indem er selbst zu Kundgebungen mobilisierte. Dort hetzte er rechte Schlägertrupps auf protestierende ArbeiterInnen. Auch die muslimische Minderheit blieb von der Hetze und gewaltsamen Übergriffen nicht verschont.
Doch Mahindas Plan ging letztendlich nach hinten los, und er musste sich die folgende Nacht in einem Militärstützpunkt verstecken, der von ArbeiterInnen belagert wurde. Die Zentrale der Regierungspartei, die den rechten Mob angestiftet hatte, wurde komplett verwüstet, Rajapaksa-Statuen zerstört, die Lamborghini-Sammlung eines Regierungsmitgliedes angezündet. Bis zu 23 Wohnsitze von Abgeordneten sollen von DemonstrantInnen niedergebrannt worden sein, unter anderem das Anwesen der Rajapaksas. Die Busse, mit denen festgenommene DemonstrantInnen abtransportiert werden sollten, wurden mancherorts mit Baggern zerstört oder in einen See geworfen.
Ein Minister nach dem anderen trat zurück und suchte das Weite. Doch die Massen wollten sie nicht entkommen lassen und organisierten Straßensperren auf Autobahnen und vor dem Flughafen. Ein Abgeordneter erschoss bei einer solchen Kontrolle einen Demonstranten, flüchtete und beging daraufhin Suizid.
Die Krankenhäuser waren nach den Ausschreitungen überfüllt, und es gab einige Tote. Hätten sich die Massen jedoch dem rechten Mob nicht entgegengestellt, hätte es mitunter weit mehr Tote gegeben. Wie so oft in der Geschichte war es erst die Konterrevolution, die Gewalt auslöste. Die kaltblütige Provokation des Premierministers hatte das Fass nach wochenlangen, friedlichen Protesten zum Überlaufen gebracht.
Wie weiter?
Das Hauptziel, Gotabaya Rajapaksa zu stürzen, ist jedoch noch nicht erreicht. Er versucht stur, sich an der Macht zu halten. Aber nichtsdestotrotz wird jede Regierung – mit oder ohne den Rajapaksas – auf Einsparungen setzen, um den Schuldenberg zu bewältigen; zwangsläufig auf Kosten der Arbeiterklasse in Sri Lanka!
Die Massen haben gerade erst angefangen, selbstbewusst zu agieren. Die größte Schwäche der Bewegung ist aber, dass dieses Selbstbewusstsein noch keinen organisierten Ausdruck hat. Alle politischen Parteien sind verhasst – aber auch die Gewerkschaftsführung hat gegen die Eskalation am 9. Mai nur zögerlich mobilisiert. So hat es sich ergeben, dass ausgerechnet die Anwaltskammer die Initiative ergriff und damit eine führende Rolle eingenommen hat. Ihr Vorschlag sieht einen Kompromiss mit dem Regime vor, die Bildung einer Übergangsregierung (mit Gota an der Spitze!) und Neuwahlen in einigen Monaten.
Die sri-lankische Arbeiterklasse muss sich gegen solche kleinbürgerlichen Elemente verteidigen, wenn sie ihre eigenen Interessen wahren will. Ihre drängendste Aufgabe ist die Schaffung einer revolutionären Partei mit einem sozialistischen Programm, um die Bevölkerung hinter sich zu vereinen, die Regierung zu stürzen und ArbeiterInnen in ganz Südasien, in Indien, Pakistan und Bangladesch, zu inspirieren.
(Funke Nr. 204/31.5.2022)