Am 06.02. ereignete sich im Südosten der Türkei, im Grenzgebiet zu Syrien, das schwerste Erdbeben der letzten hundert Jahre. Der Trauer folgt nun die Wut, die das Fundament von Erdoğans Macht erschüttert. Von Kurt Bührle.

Menschliches Leid.

Über 40.000 Tote, 100.000 Verletzte und bis zu sieben Millionen Obdachlose in der Türkei und Syrien sind die traurige Bilanz dieser Katastrophe.

Inzwischen herrscht nicht nur ein eklatanter Mangel an (Not-)Unterkünften, es fehlt auch an Nahrung, sauberem Wasser und ausreichender medizinischer Versorgung.

Und das nicht nur in Syrien, das, von den Imperialisten befeuert, seit einem Jahrzehnt im Bürgerkrieg versinkt, sondern gerade auch in der Türkei, die Jahrzehnte der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung hinter sich hat.

Schicksal oder Ignoranz?

Erdoğan hat sich beeilt, das Beben als „Schicksal“, also quasi als von Gott gewollt darzustellen und am nächsten Tag gemeint: „Es ist nicht möglich, auf so ein Beben vorbereitet zu sein.“

Dagegen meinte Naci Görür, ein türkischer Geologe, in einem US-Fernsehinterview: „Jeder vernünftige Geologe, mich eingeschlossen, warnt seit Jahren, dass sich dieses Beben mit läutenden Glocken ankündigt.“ Das Ausmaß des menschlichen Leids lässt sich also nicht allein aus der Gewalt der Natur erklären.

Erdoğan müsste sich nur an die Zeit erinnern, als er noch in der Opposition war. 1999 ereignete sich bei Izmit, unweit von Istanbul, das letzte Beben dieses Ausmaßes. 18.000 starben, vor allem weil zahllose Häuser einfach zusammengeklappt sind. Bauherren umgingen auf kriminelle Weise die Bauvorschriften, sparten an Materialien. Dass der Staat bis auf höchste Ebene korrupt und mit den Bauunternehmern verbandelt war, führte prompt zu Protesten, neuen Gesetzen, und schlussendlich zur Abwahl der Regierung. Erdoğan machte sich das zu Nutze und wurde auf dieser Welle zum Regierungschef gewählt.

Als Konsequenz der Katastrophe von 1999 wurden „Erdbebensteuern“ und strengere Bauvorschriften eingeführt, durch die sichergestellt werden sollte, dass nur noch erdbebensicher gebaut wird.

Doch weit gefehlt. Erdoğan schmiedete selbst ein Bündnis mit den Bauunternehmen, die seiner Partei stets finanziell zugetan waren. Als Ministerpräsident nahm er die Baubehörden unter seine Fittiche, die Bauindustrie sollte ohne Schranken florieren können. Der Bauboom sollte dann auch einer der Motoren des Wirtschaftswachstums sein, dem Erdoğan seine Popularität verdankt.

Ein tödliches Geschenk

Unter diesen Bedingungen wurde der Bausektor in der Türkei zu einem Karneval der Korruption. Doch all die Machenschaften der Bau-Bosse wurden dann 2018 legalisiert. Eine Amnestie wurde erlassen und alle illegalen Gebäude konnten gegen eine Gebühr für rechtskonform erklärt werden. Eine weitere Amnestie sollte noch vor den Wahlen im Mai vom Parlament beschlossen werden!

Die Präsidentin der Architektenvereinigung in Istanbul, Pelin Pinar Giritlioğlu, kommt zum Schluss, dass es dieses System der legalen Bestechung ist, das zur Folge hat, dass der Südosten nun so gewaltige Zerstörung erleiden musste – auch von öffentlichen Gebäuden, Krankenhäusern, Polizeistationen, Schulen, kommunale Bauten, Brücken und Flughäfen, die alle nach 2007 errichtet wurden. Und gerade diese sollten im Katastrophenfall den Erdbebenopfern zur Verfügung stehen.

Keine Hilfe

Während die Massen leiden, wird die Erdbebenhilfe selbst zum Politikum und zeigt die tiefe Krise des gesamten Regimes. Lokale Behörden unter der Kontrolle der Opposition (insbesondere der CHP und HDP), die schnelle Hilfe organisierten, wurden von der Zentralregierung behindert. Diese selbst konnte aber bis heute nicht die nötige Hilfe organisieren. Oft waren selbst internationale Helfer schneller vor Ort. Die Armee, die seit dem Putschversuch von 2016 eine Reihe von Säuberungen durchgemacht hat, war und ist zu einem effizienten Katastrophenschutz offensichtlich nicht fähig. Zivile Hilfsorganisationen sind fast nicht mehr vorhanden, weil sie als kritische Stimmen aufgelöst wurden (außer bei absoluter Hörigkeit gegenüber der herrschenden AKP).

Dass die umgerechnet 40 Mrd. € aus den Erdbebensteuern, die auch die Betroffenen stets gezahlt haben, nicht mehr auffindbar sind, ist da nurmehr das Tüpfelchen auf dem ı.

Die Regierung hat also nicht einfach nur versagt, sondern sich noch bereichert. Erdoğan ist der Präsident der Profiteure – und so nimmt er natürlich auch eher Gott und das Schicksal als Ausrede, als Fehler einzugestehen. Verhaftungen einzelner Bauunternehmer können nicht darüber hinwegtäuschen – das Versagen hat System, der Kapitalismus im Allgemeinen und das Erdoğan-Regime im Speziellen sind die wahren Gründe dafür, dass die Katastrophe so ein gewaltiges Ausmaß annehmen konnte.

Verzweiflung wird zu Wut

In den Erdbebengebieten scheint es bereits Konflikte zwischen der Bevölkerung und der Polizei bzw. dem Militär zu geben. Nachdem ein Suchkommando des (österreichischen) Bundesheeres aus Sicherheitsgründen auf Tage ins Basislager beordert wurde, beschrieb der Pressesprecher Hauptmann Taschwer im „Standard“ die Situation so: „Es soll da anscheinend aus der Bevölkerung mehr oder weniger zu Aufständen gekommen sein.“ Dies hat er an anderer Stelle mehrfach wiederholt. Und das obwohl davon auszugehen ist, dass die ausländischen Trupps nicht in Risikogebiete gelassen werden.

Dass Erdoğan sich davor fürchtet, hat er schon deutlich gemacht, indem er für den Südosten den Ausnahmezustand ausgerufen hat. Obwohl sein Innenminister dementiert hat, dass es ein relevantes Maß an Plünderungen gebe, wird genau das als Ausrede verwendet, um mögliche Proteste niederzuhalten und die Aktivitäten der Opposition einzuschränken.

Diese Stimmung scheint auf jeden Fall dazu beizutragen, dass die Oppositionsparteien unter Druck kommen, sich gemeinsam gegen das AKP-Regime in Stellung zu bringen. Der Vorsitzende der CHP, Kemal Kılıcdaroĝlu, hat in einem gemeinsamen Live-Statement mit der Co-Vorsitzenden der HDP die Bereitschaft der gegenseitigen Hilfeleistung ebenso betont wie die Verantwortung der Regierung für die Toten. Nur wenige Monate vor den Wahlen ist das ein Zeichen dafür, dass die Basis für das Regime immer mehr schwindet.

Es ist daher sehr unwahrscheinlich, dass die Erdbebenkatastrophe in der Türkei eine Periode der politischen Ruhe und Einheit einläuten wird. Im Gegenteil: Sie hat auf grausame Art und Weise einmal mehr aufgedeckt, wie verrottet nicht nur das Erdoğan-Regime, sondern das gesamte kapitalistische System in der Türkei ist. Ein Land frei von Korruption, Massenarbeitslosigkeit und Unterdrückung, ein Land mit sicherer Behausung und guter Infrastruktur können nur die Arbeiterinnen und Arbeiter der Türkei schaffen, wenn sie sich über alle nationalen und religiösen Grenzen hinweg vereinigen und die Macht übernehmen – gegen Erdoğan und Kapitalismus, für den Sozialismus!


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