Seit beinahe zwei Wochen wird der Iran von einer beispiellosen Massenbewegung erschüttert. Auslöser war der offensichtliche Wahlbetrug bei den Präsidentschaftswahlen, der den Sieg von Ahmadinejad sichern sollte. Im Iran wird nach diesen Protesten nichts mehr so sein wie zuvor.
Selbst hochrangige Vertreter des Regimes haben mittlerweile zugegeben, dass es am 12. Juni 2009 bei den Wahlen zu „Unregelmäßigkeiten“ gekommen war. In mindestens 50 Städten (oppositionelle Kräfte sprechen von 80-170 Städten), wurden mehr Stimmen ausgezählt als es Wahlberechtigte gegeben hat. Neuwahlen seien aber ausgeschlossen, da es sich ja um „nur“ drei Millionen Stimmen handle, so die offizielle Stellungnahme des Wächterrats, der gleichzeitig oberste Wahlbehörde ist.
Aber die Bewegung im Iran richtet sich längst nicht mehr nur gegen Wahlbetrug. Vielmehr haben wir es mit einer allgemeinen Auflehnung gegen die Grundfesten der Islamischen Republik, die Mullah-Herrschaft, zu tun. Spätestens seitdem Ayatollah Khamenei in seinem Freitagsgebet jegliche Demonstrationen untersagt und eine harte Vorgangsweise gegen die Protestbewegung angekündigt hat, hat die Bewegung ihren Charakter verändert.
Neben „Nieder mit dem Diktator“ (Präsident Ahmadinejad) wird nun auf den Straßen immer öfter auch „Nieder mit Khamenei“ skandiert. Damit werden das geistliche Oberhaupt und somit auch die oberste Instanz in der Islamischen Republik direkt in Frage gestellt.
„Grüne“ Welle und die Rolle Mussawis
Die Farbe der Bewegung ist Grün. Mussawi, der wichtigste Herausforderer von Ahmadinejad bei den Präsidentschaftswahlen, hatte diese für seine Wahlkampagne ausgewählt. Mussawi selbst ist eng mit dem Regime verbunden und übte in der Vergangenheit wichtige politische Ämter aus. In seinem Wahlkampf präsentierte er sich als Vertreter der „wahren Werte der Islamischen Revolution“. Er verfügt über gute Beziehungen zu Rafsandjani, dem Vorsitzenden des Expertenrates, eines Beratungsgremiums für das geistliche Oberhaupt, und ist gleichzeitig einer der reichsten Männer im Iran.
Allein die Tatsache, dass ihn der Wächterrat zur Wahl antreten ließ, zeigt, dass er Teil des Systems ist. Doch mit seinen Forderungen nach Reformen wurde er, da es weit und breit keine sichtbare und glaubwürdige Alternative gab, trotzdem zum Hoffnungsträger für große Teile der Bevölkerung.
Eine interessante Einschätzung der Rolle von Mussawi und seiner Stellung an der Spitze der Bewegung liefert folgender Beitrag aus der Zeitung Khiaban (Die Straße), die auf den Demos in Teheran verteilt wird: “Mussawi weiß ganz genau, wie tief unsere Wunden sind. Er weiß auch, dass seine grüne Bandage nur eine Erste Hilfe für diese Wunde darstellt, aber kein Heilmittel. Mussawi weiß auch, dass all das nicht für ihn ist. Er weiß sehr genau, und wir wissen es auch, dass für den Fall, dass es einen besseren Kandidaten als Mussawi gegeben hätte, der die Farbe Gelb für seine Wahlkampagne ausgewählt hätte, die Nation jetzt gelb geworden wäre … Diese Proteste können außer Kontrolle geraten. Die Hauptforderung dieser Bewegung ist bei weitem nicht, dass Mussawi Präsident wird, auch wenn ihre Symbolfarbe Grün ist.“
Diese Massenbewegung ist spontan, relativ unorganisiert und ohne wirklich bewusste Führung. Mussawi selbst hat aus Angst vor gewaltsamen Zusammenstößen mehrfach Protestmärsche abgesagt bzw. die Menschen aufgefordert, nicht auf die Straße zu gehen und stattdessen in den Moscheen für die Opfer zu beten. Diese Appelle haben bisher aber wenig Effekt gezeigt; Mussawi selbst wurde bisher eher mitgerissen, an den Protesten teilzunehmen, statt diese aktiv anzuführenn, wie es in den westlichen Medien erscheint.
Das Fass ist übergelaufen
Nach Khameneis Predigt sind die Polizei, die Revolutionsgarden und die regimetreuen Milizen, die Basijis, mit noch größerer Brutalität gegen die Bewegung vorgegangen. Doch selbst dieses unvorstellbare Ausmaß an Repression, das bereits dutzende Tote gefordert hat, konnte die Bewegung bisher nicht zum Erliegen bringen.
Die Spontaneität dieser Bewegung, ihre Methoden, sich trotz extremster Repression und Zensur zu organisieren und zu versammeln, sind bewundernswert. Der Iran ist eine der schrecklichsten Diktaturen auf dieser Welt. Die Islamische Republik ist das Produkt der Revolution von 1979, als Massenproteste und Streiks den Shah stürzten. In unzähligen Betrieben bildeten sich damals sogar Shoras, räteähnliche Strukturen. Das jetzige Regime, die absolute Herrschaft der Mullahs, konnte sich jedoch nur konsolidieren, indem die Errungenschaften der Revolution beseitigt und die ArbeiterInnenbewegung in Blut ertränkt wurde (Ministerpräsident war damals übrigens Mussawi!).
Heute wird im Iran die Todesstrafe noch immer gezielt gegen Oppositionelle eingesetzt. Die Gründung von Gewerkschaften und Streiks werden mit allen Mitteln unterdrückt, wie das Beispiel der Busfahrer von Vahed Teheran zeigt. Auch heuer ging die Polizei brutal gegen Demonstrationen zum 1. Mai vor und verhaftete mindestens 50 KollegInnen. Immer wieder werden Frauenrechtsaktivistinnen verhaftet und ausgepeitscht.
Doch selbst mit diesen Formen staatlicher Repression lassen sich die Menschen nicht ewig unterdrücken. Die offensichtliche Wahlfälschung hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Der Unmut über sinkenden Lebensstandard trotz hoher Erdölpreise, ausstehende Löhne, fehlende demokratische Rechte, Frauenunterdrückung usw. ist nun an die Oberfläche getreten und hat in dieser Bewegung seinen Ausdruck gefunden. Die DemonstrantInnen haben dabei kollektiv der Polizeigewalt standgehalten und dabei ein Gefühl ihrer eigenen Stärke entwickelt. Auch wenn diese Protestwelle letztendlich unter dem Druck des Regimes zum Rückzug gezwungen wird, was angesichts des Fehlens einer Organisation und einer Führung das wahrscheinlichste Szenario ist, so haben die Massen in diesen Tagen doch unverzichtbare Erfahrungen gemacht. Der Iran wird nie wieder so sein, wie er es war.
Rolle der ArbeiterInnenklasse
Die MarxistInnen im Iran und international haben von Anfang an diese Bewegung begrüßt und voll und ganz unterstützt. Der Erfolg der Bewegung hängt davon ab, ob sich die iranische ArbeiterInnenklasse als organisierte Kraft an ihre Spitze zu stellen vermag oder nicht. Die bisherigen Massendemos sind für uns alle Vorbild, doch es wäre ein Fehler zu glauben, dass die Bewegung so erfolgreich sein wird. Wenn diese die einzige Strategie bleiben, dann wird die Bewegung verebben. Die Massen können nicht unendlich lang auf die Straße gehen! Und sie werden es schon gar nicht tun, wenn sie nicht eine klare Perspektive vor Augen haben.
Ein Generalstreik wäre in dieser Situation die einzige Möglichkeit, die Bewegung voranzubringen. Und dieser ist nicht unmöglich, haben sich doch an den Straßenprotesten immer mehr und mehr ArbeiterInnen beteiligt; in den riesigen Khodro Autowerken z.B., wo die Belegschaft eine kämpferische Tradition hat, gab es zur Unterstützung der Bewegung erste Arbeitsniederlegungen. Auch die BusfahrerInnengewerkschaft in Teheran hat sich offen mit der Bewegung solidarisiert. Die Frage des Generalstreiks wurde und wird offen diskutiert. Die Zukunft der Bewegung hängt davon ab, ob es zu einer Streikwelle kommt oder nicht.
Die MarxistInnen im Iran haben mit einer Kampagne für einen Generalstreik begonnen und stellen diese Losung in den Mittelpunkt ihrer politischen Tätigkeit. Sie versuchen gezielt, Beziehungen zwischen der Studierendenbewegung und den ArbeiterInnen aufzubauen und unterstützen in Fabriken Versuche, diese Frage in Versammlungen zu diskutieren. Sie propagieren auch die Idee, Shoras (ArbeiterInnenräte) zu gründen, wo die Lohnabhängigen in Massenversammlungen ihre Forderungen diskutieren und SprecherInnen wählen können. Auf dieser Grundlage könnte die Bewegung auch die erforderliche organisatorische Schlagkraft entwickeln.
Kampf um Demokratie – aber welche?
Bisher dominierten in der Bewegung demokratische Forderungen nach Meinungs- und Presse-, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit. Diese sind unter den gegebenen Umständen von größter Bedeutung. Eine Annullierung der Präsidentschaftswahlen und Neuwahlen im Rahmen der völlig undemokratischen Verfassung der Islamischen Republik können aber nicht das Ziel sein. Am ehesten könnte die Forderung nach einer verfassunggebenden Versammlung dem aktuellen Bewusstsein der Bewegung einen fortschrittlichen Ausdruck verleihen.
Es geht längst nicht mehr darum, die Stimmen neu auszuzählen oder neuerlich undemokratische Wahlen abzuhalten. Für die Massen stehen heute ein vollständiger politischen Wandel und der Sturz des von Ahmadinejad und Khamenei verkörperten Regimes auf der Tagesordnung. In diesem Zusammenhang lehnen wir jede Form der Einmischung durch die imperialistischen Mächte, allen voran den USA und Britannien, ab. Der Imperialismus hat angesichts seiner eigenen Rolle in der Region und in der Geschichte des Iran selbst keinerlei Legitimation dazu. Ihr Ruf nach Demokratie soll nur Verhältnisse wiederherstellen, unter denen westliche Konzerne ungehinderten Zugang zum iranischen Erdöl haben. Ihre „Demokratie“ ist in Wirklichkeit die Diktatur des Kapitals.
Doch die Menschen im Iran brauchen in ihrem Streben nach einem politischen Neuanfang auf der Grundlage einer wahrhaft demokratischen Verfassung die volle Unterstützung der internationalen ArbeiterInnenbewegung. Die sog. Liberalen und ReformerInnen im Iran selbst, die in der Öffentlichkeit als Führung der Bewegung gelten, sind absolut unfähig, diesen Kampf für Demokratie erfolgreich zu führen. Sie sind selbst zu sehr mit dem herrschenden Regime verbunden und haben ökonomische Interessen, die einem konsequenten Kampf im Wege stehen. Im Kampf um einen Iran, der frei von religiöser Diktatur, Unterdrückung und Ausbeutung ist, werden sie mit Sicherheit auf der anderen Seite stehen.
Die Lohnabhängigen können sich in diesem Kampf nur auf ihre eigene Stärke und die Solidarität der ArbeiterInnenbewegungen im Nahen Osten und weltweit verlassen. Mit dieser Stärke aber kann es ihnen gelingen, nicht nur die Mullahs zu verjagen, sondern gleich die Ursache der Unterdrückung im Iran in die Geschichtsbücher verbannen und somit den Sturz des Kapitalismus in der gesamten Region entscheidend vorantreiben. Keine andere ArbeiterInnenklasse in der Region verfügt über eine so kämpferische Tradition – von der ArbeiterInnenrepublik Gilan in den 1920ern bis zur iranischen Revolution 1979, in der der Sturz des Kapitals an der Tagesordnung gestanden wäre, wenn diese nicht von den Mullahs gekapert worden wäre. Heute haben die Massen 30 Jahre Erfahrung mit den Mullahs hinter sich und werden sich folglich ihre Errungenschaften kein zweites Mal von diesen abnehmen lassen.
Mit der internationalen Kampagne „Iranisches ArbeiterInnen-Solidaritätsnetzwerk“ (www.iwsn.org) leisten wir einen aktiven Beitrag zur Unterstützung der ArbeiterInnenbewegung im Iran, die den Schlüssel zum Sturz der Mullah-Herrschaft in Händen hält.