Seit Monaten erschüttern Jugendrevolten den von Indien besetzten Teil des Kaschmir. Eine Analyse unserer GenossInnen aus der Region.

Diese Jugendbewegung nahm am 11. Juni ihren Lauf als Polizisten auf eine Demonstration das Feuer eröffneten und dabei ein 17jähriger Schüler, Tufail Mattoo, in den Kopf geschossen und ermordet wurde. Die Nachricht von seinem Tod provozierte eine Welle des Protests in Srinagar und anderen Städten des von Indien besetzten Teils des Kaschmirs. Die Polizei antwortete mit der Verhängung einer Ausgangssperre. Trotzdem gingen die Demos weiter, wo die Forderung erhoben wurde, dass die Verantwortlichen für den Tod des Schülers binnen 24 Stunden zur Verantwortung gezogen werden. Abermals reagierte der Staatsapparat mit brutaler Repression. Daraufhin kam es am 14. Juni zu einem Generalstreik.
In den vergangenen zwei Monaten wurden insgesamt 70 Menschen bei Übergriffen durch die indische Armee und die Polizei im Kaschmir getötet. Doch der Kampf geht ungebremst weiter.

Hintergrund

Die wahren Ursachen für diese Bewegung sind in der Teilung und Besetzung des Kaschmir durch Indien und Pakistan zu sehen. Diese Region ist gekennzeichnet von Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung, Armut und Elend, und ist noch dazu eine ständige Quelle für Spannungen und Kriege zwischen Pakistan und Indien.

Schon 1987 gab es eine Massenrevolte gegen die indische Besatzungsmacht, die sogar die Form eines bewaffneten Aufstands annahm. Individueller Terror und Guerillakampf waren jedoch Wasser auf die Mühlen der indischen Armee, die mittels Staatsterror die Bewegung im Keim erstickten. 80000 Menschen fanden damals den Tod, unzählige Frauen wurden vergewaltigt, hunderte Häuser in Brand gesteckt, Tausende mussten flüchten. Die indische Armee regiert seither den Kaschmir mit uneingeschränkter Macht. Menschenunwürdige Körperkontrollen durch Militärs bei den allgegenwärtigen Checkpoints in Städten wie Srinagar stehen auf der Tagesordnung. Auf dem Land ist die Lage noch schlimmer. Proteste gegen diese Formen der Repression gehören zur täglichen Routine.

Die öffentliche Infrastruktur ist in den vergangenen beiden Jahrzehnten völlig erodiert. Die soziale Frage wird von der Bevölkerung als absolut zentral erkannt, wie der Bericht des britischen Thinktanks Chatham House aus dem Juni 2010 zeigt, wonach 83% der Menschen auf beiden Seiten der Kontrolllinie, die den Kaschmir teilt, die Arbeitslosigkeit als das größte Problem in der Region sehen. Viele Familien versuchen ihre Kinder aus der Region zu bringen und lassen sie in Indien Schulen und Universitäten besuchen. Doch auch dort sind sie einer offenen Diskriminierung ausgesetzt. Im öffentlichen Dienst bekommen Kaschmiris fast unmöglich Jobs, viele gingen daher als ArbeitsmigrantInnen nach Europa, in die USA oder in den Nahen Osten. Doch die Weltwirtschaftskrise hat auch diesen Ausweg weitgehend versperrt. Gerade junge Menschen sind daher besonders stark von der Arbeitslosigkeit betroffen. Sie sind die treibende Kraft der neuen Freiheitsbewegung, in die sie alle Hoffnungen zur Lösung auch und vor allem ihrer sozialen Probleme legen.

Dazu kommt, dass der offizielle “Friedensprozess” auf diplomatischem Weg keinerlei Ergebnisse bringt. Von „Frieden und Wohlstand“ ist keine Spur. Diese Erfahrung hat eine ganze Generation geprägt und radikalisiert. Die Illusionen in die alten Parteien sind weitgehend verpufft.

Die Jugend und die Bewegung

Die Jugend ist die treibende Kraft der neuen Protestbewegung. Sie setzt in diesem Kampf nicht mehr auf Terror oder Verhandlungen sondern voll und ganz auf kollektiven Widerstand und unterscheidet sich dadurch entschieden von den Freiheitsbewegungen der letzten 23 Jahre. Im Grunde ist das der Beginn einer großen antikapitalistischen Bewegung im Kaschmir.

Die politische Reife der Jugendlichen hat der bekannte indische Journalist Kaldip Nayyar in der Zeitung Dawn zum Ausdruck gebracht:
“Legt euch auf den Boden und horcht ganz genau hin. Ihr könnt neue Töne aus dem Kaschmir vernehmen. Die Stimmen, die von dort zu uns dringen, sind ganz andere als jene der üblichen All Parties Hurriyat Conference und sie unterscheiden sich grundlegend von der Rhetorik der People’s Democratic Party (PDP) von Mehbooba Mufti. Das ist der Aufschrei der Jugend, die nach dem Aufstand, nach 1989, geboren wurde. Diese Jugend ist gewaltsam in dem Sinne, dass sie Steine schmeißt, aber im Gegensatz zu früher nehmen sie keine Waffen von Pakistan. Und sie pflegen auch keine ‚Topkontakte’. Diese zornige, amorphe Kraft hat keine definierte Führung. Die Bewegung wird von einer neuen Generation geführt. Was sie zusammenbindet, ist der Zorn über das Establishment in Srinagar und in Delhi.”

Gewalt ist ein unvermeidbares Element einer Bewegung, die unter den Bedingungen einer derartigen Repression ausbricht. In einer Region, wo es normal ist, dass friedliche Proteste wegen des Mangels an Gütern des täglichen Bedarfs, von der Polizei und der Armee mit Waffengewalt aufgelöst und beschossen werden, hat die Jugend keine andere Wahl als sich zur Wehr zu setzen. Angesichts der Geschichte und auch der gegenwärtigen Lage im Kaschmir ist das Werfen von Steinen jedoch eine ausgesprochen friedliche Protestform. Es wäre völlig falsch die Bewegung als „Steinewerfer“ zu brandmarken.

Ein Bericht auf der Homepage von BBC Urdu vom 17. Juli bringt den Standpunkt vieler Jugendlicher gut zum Ausdruck:
“Majid (15) wohnt in Maysmah, einem Bazaar von Srinagar. Sein enger Freund Abrar (17) wurde vor seinen Augen erschossen. Abrar machte seinen letzten Atemzug in Majids Armen. Nach diesem Zwischenfall gab Majid seine Ausbildung auf und schloss sich der Bewegung an. Majid sagt: ‚Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie die Polizisten absichtlich Abrar ermordeten. Ich habe jetzt die Schule verlassen und der einzig Weg für mich ist das Steine werfen.’ So wie er haben es Tausende gemacht, deren Herzen mit einer Leidenschaft für die Revolte gegen die Brutalität des Staates erfüllt sind. Die Jugendlichen im Kaschmir sagen: ‚(…) Das Schlimmste, was dir als Steinerwerfer passieren kann, ist, dass dich die Polizei prügelt, wenn du aber keiner bist, dann wird dich die Polizei so prügeln, dass du mit Sicherheit einer wirst.’“

Die Jugendrevolte ist aber mehr als zielloses Werfen von Steine. Die Bewegung ist gut organisiert. Dies zeigt sich auch in der Nacht, wo sich die Jugendlichen kollektiv gegen Verhaftungen wehren. In jedem Stadtteil haben Jugendliche auf Häuserdächern Stellung bezogen und schieben dort Wache. Dabei haben sie immer Blechdosen gefüllt mit Steinen mit. Sobald Polizei oder Armee unterwegs ist, schlagen sie mit den Blechdosen Alarm, außerdem hat der dabei entstehende Lärm eine sehr abschreckende Wirkung auf die Polizisten.

Die Bewegung hat außerdem eine Strategie im Umgang mit den politischen Parteien, vor allem der APHC (All Parties Hurriyat Conference) und anderen separatistischen Organisationen definiert. Sie verwehren sich gegen jede Einflussnahme oder potentielle Versuche seitens dieser Parteien die Bewegung beenden zu wollen. Die herkömmlichen Parteien genießen keinerlei Vertrauen in der Bewegung, egal ob sie religiöse Fundamentalisten sind, pro-indisch oder pro-pakistanisch orientiert sind oder aus der nationalen Befreiungsbewegung kommen. Die Regierung hat mittlerweile den Führer der Hardliner in der APHC, Syed Ali Shah Gillani, aus dem Hausarrest entlassen, weil sie ihm es zutraute politische Kontrolle über die Bewegung zu erlangen, in der Hoffnung dadurch endlich Kontrolle über dieses Phänomen zu bekommen. Ali Gillani fand jedoch für seinen Appell zum Gewaltverzicht keinerlei Unterstützung in der Bewegung.

Repression, Reformen und die Bewegung

Die Regierung hat also mit extremer Brutalität die staatliche Unterdrückungsmaschinerie eingesetzt und versucht die Bewegung zu zerschlagen. 150.000 Polizisten, 40.000 Mitglieder paramilitärischer Einheiten konnten die Jugendproteste aber nicht unter Kontrolle bekommen. Daraufhin setzte die Regierung ab dem 6. Juli zusätzlich 30.000 Soldaten ein. Die Jugendlichen haben darin sogar ein Zeichen ihres Erfolgs gesehen, was der Bewegung noch mehr Auftrieb gegeben hat. Die Armee ging aber noch brutaler vor als die Polizei. Am 7. Juli wurde der Notstand ausgerufen, die Medien wurden unter Kuratel gestellt. Journalisten wurden ebenfalls der Ausgangssperre unterworfen. Es war auch nicht mehr möglich SMS zu verschicken. Es kam zu Massenverhaftungen von 1500 Jugendlichen (viele davon waren nicht älter als 13, 14 Jahre) basierend auf Videos von vergangenen Demos.

Doch selbst die verschärfte Repression seitens des indischen Staatsapparats reichte nicht aus, um die Jugendbewegung zu zerschlagen. Seit Mitte August versucht es die indische Regierung wieder verstärkt mit Reformen. Der Premierminister Manmohan Singh rief die Jugend im Kaschmir dazu auf gemeinsam an einem Neubeginn mitzuwirken. Dies ist nicht vielmehr als ein klares Eingeständnis der Schwäche.

Doch nicht nur Jugendproteste erschütterten den Kaschmir in diesem Sommer. In einer Reihe von Städten kam es auch zu großen Frauendemos.

Auch die ArbeiterInnenklasse hat im letzten Jahr die Bühne betreten. Nach der Ankündigung das Pensionsantrittsalter im Kaschmir erhöhen zu wollen, streikten rund 500.000 Arbeiter im April 2009 für rund eine Woche. Außerdem forderten sie dabei deutliche Lohnerhöhungen. Der Streik wurde ausgesetzt nachdem die lokale Regierung ein Versprechen gab bei der Bundesregierung um zusätzliche Geldmittel anzusuchen. Im März 2010 streikten 650.000 Arbeiter fünf Tage lang, im April legten dann noch einmal 500.000 Arbeiter die Arbeit nieder.

Auch gegen die Streikbewegungen ging der Staat mit extremer Brutalität vor. Es kam zu Verhaftungen, politisch motivierten Entlassungen usw. Diese Häufung an Generalstreiks, die immer eine Woche lang andauerten, zeigen sehr gut, dass sich die Klassenwidersprüche im Kaschmir verschärfen.

Perspektiven der Bewegung

Eines ist klar: Diese Bewegung zeichnet sich durch eine hohe Entschlossenheit und ein starkes politisches Bewusstsein aus. Die Führung dieser Bewegung mag keine berühmten Persönlichkeiten umfassen, aber sie setzt sich zweifelsohne aus sehr mutigen und ernsthaften jungen Menschen zusammen. Sie verfügen über die politischen Fähigkeiten diese Bewegung voranzubringen und basierend auf den gemachten Erfahrungen weiterzuentwickeln.

Unter dem Joch der brutalen indischen Besatzung ist jede Bewegung der Jugend und der ArbeiterInnenklasse zuerst einmal damit konfrontiert, dass sie die staatliche Unterdrückung bekämpfen muss. Deshalb hat die Losung nach Freiheit vom indischen Staat auch eine so große Bedeutung im Kaschmir. Der Charakter einer jeden Bewegung wird aber dadurch bestimmt, was sie unter diesem Slogan konkret versteht.

Die derzeitige Bewegung zeichnet sich durch große Radikalität aus. Doch es fehlt eine glaubwürdige und sichtbare linke Alternative im Kaschmir. Dabei stehen die Chancen zur Herausbildung einer solchen nicht schlecht, sind doch die religiösen und nationalistischen Parteien selbst in einer Legitimationskrise. Die stärkste linke Kraft im Kaschmir stellt die CPI(M) dar. Die Führung dieser Partei ist aber immer noch einer Zwei-Etappen-Theorie verbunden, sieht ihr Ziel in der Durchführung der sogenannten „national-demokratischen Revolution“ und nimmt somit die Rolle eines Anhängsels des bürgerlichen Nationalismus. Die Alternative wäre eine Politik in der nationalen Frage, die sich in der leninistischen Tradition versteht, und den Kampf um die nationale Befreiung untrennbar mit der sozialen Frage und der Perspektive einer sozialistischen Revolution verknüpft. Der Kampf im Kaschmir müsste insofern zusammengeführt werden mit dem Klassenkampf des indischen Proletariats. Nur so könnte der Staatsapparat in die Knie gezwungen werden. Solch eine Bewegung könnte eine revolutionäre Erhebung in ganz Südasien einleiten. Von einer solchen Perspektive ist die CPI(M) jedoch weit entfernt, was auch erklärt, warum sie kaum Unterstützung in der aktuellen Protestbewegung gewinnen konnte.

Keine Bewegung, so dynamisch sie auch sein mag, kann ewig weitergehen. Jede Bewegung hat einen Anfang, einen Höhepunkt und ihre Ende. Die Protestbewegung der Jugend in diesem Sommer war erst der Beginn einer neuen allgemeinen Bewegung im Kaschmir. Sie wird sich aber nicht geradlinig entfalten. Die herrschenden Klassen, der Staat und die Medien werden versuchen Persönlichkeiten an die Spitze dieses Prozesses zu heben, die die Bewegung in geordnete, kontrollierbare Bahnen lenken soll.

Das werden wichtige Erfahrungen sein, welche die fortgeschrittensten Teile der Bewegung dazu verhelfen werden, wichtige politische Schlüsse zu ziehen. Sie werden ein Verständnis entwickeln für die Notwendigkeit die ideologischen, organisatorischen und strategischen Schwächen ihrer Bewegung zu überwinden. Kurzum, sie werden daran gehen sich eine korrekte wissenschaftliche Ideologie und Programmatik anzueignen und eine organisierte revolutionäre Partei und Führung aufbauen. Unter diesen Bedingungen werden sie aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen Richtung revolutionärem Sozialismus gehen. Ein entscheidender Faktor wird dabei auch sein, dass die marxistische Strömung auf der anderen Seite der Kontrolllinie, im von Pakistan besetzten Teil des Kaschmir, sich zu einem wichtigen Referenzpunkt für die ArbeiterInnen und Jugendlichen im gesamten Kaschmir wird.

Diese Bewegung wird aber umgekehrt auch einen großen Einfluss auf die Bevölkerung im von Pakistan besetzten Teil des Kaschmir haben. Dort verfügt die marxistische Strömung über wachsende Unterstützung vor allem in der Jugend. Die JKNSF wurde auf der Grundlage eines revolutionären Programms zu einer echten Massenorganisation. Ihre Losung für den Kaschmir lautet: “Freiheit ist unser Ziel, Sozialismus ist unser Schicksal”. In den letzten Wochen hat die JKNSF auch eine Reihe von Solidaritätskundgebungen mit der Jugendbewegung auf der anderen Seite der Kontrolllinie organisiert (siehe den Bericht und Fotos auf In Defence of Marxism).

Eine erfolgreiche Revolution im Kaschmir würde nicht an den eigenen Grenzen stehen bleiben. In der Tat, ohne die aktive Solidarität der arbeitenden Massen in Pakistan und Indien könnte die Revolution in dieser Region gar nicht überleben, die Revolution müsste sich zwangsläufig auf diese beiden Staaten ausweiten. Was wir jetzt im Kaschmir erleben, könnte das Vorspiel zu einer gewaltigen revolutionären Erschütterung auf dem gesamten indischen Subkontinent sein. Nur so können nationale Unterdrückung, Ausbeutung und Armut in dieser Region gelöst werden. Die Jugend im Kaschmir könnte zum Wegbereiter für eine derartige Entwicklung werden.


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