Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen am 1. November hat die islamisch-konservative AKP durch ein Klima der Angst die absolute Mehrheit zurück gewonnen. Eine Analyse von Florian Keller.

Insgesamt erreichte die Partei 49,5%, das sind 8,6% mehr als noch im Juni. Die größte Oppositionspartei, die CHP (Republikanische Volkspartei), blieb annähernd stabil bei 25.3%. Weiterhin im Parlament vertreten, aber mit Verlusten, ist die die nationalistische MHP (Partei der nationalistischen Bewegung) mit 11.9%. Auch die linke, aus der kurdischen Befreiungsbewegung entstandene HDP (Demokratische Partei der Völker), schaffte mit 10,8% noch einmal knapp den Sprung über die 10% Hürde.

Nach dem Verlust der absoluten Mehrheit bei den letzten Parlamentswahlen im Juni war das Kalkül von Erdogan klar: Er und seine Partei konnten und wollten die Macht auf keinen Fall teilen. Damit wäre das Spiel aus Korruption und Vetternwirtschaft aus gewesen, das einer ganzen Schicht an Geschäftsmännern und hohen Beamten über Jahre hinweg fette Gewinne beschert hat und Erdogan persönlich unter anderem einen Palast, der zehnmal so groß ist wie das weiße Haus in Washington.

Um das Ziel der Alleinherrschaft zu erreichen, hat die Regierung deswegen in den letzten Monaten einen „Krieg gegen den Terror“ vom Zaun gebrochen, der in Wirklichkeit ein Bürgerkrieg in den kurdisch bewohnten Gebieten des Landes ist, um damit ein Klima der Angst im ganzen Land zu schaffen und die Unterdrückten anhand nationaler Zugehörigkeiten zu spalten. Ganze Landstriche in den kurdisch besiedelten Gebieten wurden militarisiert, die Unterdrückungspolitik aus der Bürgerkriegszeit der 90er Jahre wieder aufgenommen und massive Bombenangriffe auf Stellungen der PKK (kurdische Arbeiterpartei) in der Türkei und im Irak geflogen, um sie so zu Gegenangriffen zu provozieren. Jeder tote Soldat wurde tagelang über die Fernsehbildschirme gezerrt. Gleichzeitig war die grausame Belagerung von Cizre, bei der die Stadt mit über hunderttausend EinwohnerInnen acht Tage lang von der Armee vom Zugang zu Nahrung, Wasser und Strom abgeschnitten wurde und viele Zivilisten starben, nur eine verzerrt dargestellte Randnotiz.

Gleichzeitig wurde unter dem Deckmantel des „Kampfes gegen den Terrorismus“ tausende AktivistInnen der Linken und der kurdischen Befreiungsbewegung festgenommen. Nach zwei verheerenden Anschlägen auf linke Demonstrationen, bei denen in Suruc im Juli und in Ankara im Oktober insgesamt mindestens 135 Menschen starben und hunderte verletzt wurden, machte der AKP – Ministerpräsident Davutoglu den IS, aber auch den syrischen Geheimdienst, die PKK und linke Terrorgruppen verantwortlich. Linke BeobachterInnen in der Türkei gehen davon aus, dass der Geheimdienst MIT von den Anschlägen zumindest gewusst hat, sie aber bewusst nicht verhindert hat.

Zusätzlich ging eine ganze Welle von Angriffen durch faschistische Mobs auf Parteibüros der HDP durch das Land, die oft von der Polizei gedeckt wurden. Der Druck gegen kritisch berichtende Medien wurde enorm erhöht, die AKP dominierte auf Geheiß von ganz oben die  Berichterstattung. In den Wochen vor der Wahl erhielten die AKP und Erdogan zusammen insgesamt 376 Stunden Sendezeit, die gesamte Opposition dagegen nur gut 1/7 davon! Aber selbst das war der Regierung zu wenig: Vier Tage vor der Wahl wurden zwei Erdogan kritisch gegenüberstehende Fernsehsender unter Einsatz der Polizei geschlossen. Am Wahltag selbst patrouillierten Armee und Polizei in den kurdischen Gebieten, teilweise sogar in den Wahllokalen. Es gab Berichte davon, dass Dorfälteste Vorladungen von der Polizei erhielten, bei denen ihnen klar gemacht wurde, sie sollten für eine Wahl der AKP sorgen. Es gibt auch Berichte von offenem Wahlbetrug in einigen Regionen. Das Gesamtbild ist klar: Erdogan hat dem Volk in der Türkei die Pistole auf die Brust gesetzt: Entweder ihr akzeptiert mich, oder ihr bekommt das Chaos. Und um sicherzustellen, dass diese Drohung auch funktioniert, hat er den gesamten Unterdrückungs- und Propagandaapparat des Staates mobilisiert. Von „freien Wahlen“, selbst im kapitalistischen Sinn, kann also nicht die Rede sein.

In dieser Hysterie gelang es der AKP, ehemalige WählerInnen der nationalistischen MHP sowie einer kleineren islamistischen Partei im Rausch der „nationalen Einheit“ zu gewinnen. Außerdem trieb die Angst vor dem Bürgerkrieg eine Schicht konservativer kurdischer WählerInnen zurück zur AKP, die das letzte mal die HDP gewählt hatten. In dieser Situation ist das überschreiten der 10%-Hürde durch die HDP in gewisser Weise als Erfolg zu werten und zeugt davon, dass viele sich nicht mehr einschüchtern lassen und bereit sind, für ihre Rechte zu kämpfen.

Doch das alleine kann den Wahlsieg der AKP nicht erklären. Selbst durch die Hysterie in der Wahlkampfzeit hindurch wurde klar, dass sich Erdogan und die AKP durch ihre Spaltungspolitik in Wirklichkeit gesellschaftlich immer weiter isolierten. Bei Begräbniszeremonien von Soldaten kam es immer wieder zu Wutausbrüchen gegenüber der Regierung und Demonstrationen, undenkbar in „normalen“ Zeiten. Die AKP konnte nicht zuletzt deswegen gewinnen, weil sie es schaffte, neben nationaler Hysterie auch die wirtschaftliche Entwicklung des Landes im öffentlichen Bewusstsein mit einer Mehrheit für die Regierung zu verknüpfen – nur so gäbe es Stabilität als Grundlage für eine positive wirtschaftliche Entwicklung.

In dieser Situation hätte nur eine offensive Thematisierung der sozialen Frage von links die Spaltungsversuche von Erdogan zunichte machen und damit den AKP-Sieg verhindern können. Die Demonstration in Ankara, die so tragisch endete, war ein guter Ansatzpunkt dafür: Sie wurde von der HDP und Gewerkschaften gleichermaßen ausgerufen, um gegen die Gewalt des Staates im Bürgerkrieg und gegen die Gewalt des Kapitals an den Arbeitsplätzen, wo es extrem viele vermeidbare tödliche Arbeitsunfälle gibt, gleichermaßen zu demonstrieren. Diese Verknüpfung ist richtig: Beides ist nur ein Ausdruck der kapitalistischen Ausbeutung, die in einem von wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krisen zerrissenen Land wie der Türkei nicht anders als durch das Blut der ArbeiterInnen fortgesetzt werden kann. Auf Basis dieser Erkenntnis könnte die Spaltung in KurdInnen und TürkInnen, in SunnitInnen und AlevitInnen in der Praxis überwunden werden, was einen schweren Schlag für Erdogan bedeutet hätte.

Deswegen war die Demonstration auch so gefährlich für die Reaktionären und die Regierung, deswegen wurde sie angegriffen. Aus unserer Sicht war es ein Fehler der HDP, daraufhin alle Wahlkampfkundgebungen abzusagen und sich auf ein Beklagen von fehlender Demokratie zu beschränken. Dieser Rückzug ermunterte Erdogan nur zu neuen Unterdrückungsmaßnahmen und erschütterte das Selbstbewusstsein derjenigen, die zum Widerstand bereit waren und sind.

Der zweitägige Generalstreik nach dem Anschlag von Ankara hätte der Auftakt für eine Kampagne der Arbeiterbewegung und der Linken in den Betrieben, Schulen und Universitäten sein können, in dem die eine zentrale Wahrheit aufgezeigt wird: Es wird weiterhin Krieg geben und soziale Lage aller ArbeiterInnen und Jugendlichen schlechter werden, solange das Kapital herrscht. Erdogan und die AKP beschützen diese Herrschaft des Kapitals, wenn nötig mit blutigem Terror und Unterdrückung. Eine klare sozialistische Perspektive, verknüpft mit einer Widerstandsbewegung auf den Straßen und in den Betrieben, hätte in dieser Situation die AKP und Erdogan besiegen können.

Letztendlich hat sich Erdogan mit Terror den Wahlsieg erzwungen. Doch die Widersprüche in der Gesellschaft, der Hass auf die zunehmende Unterdrückung, Ausbeutung und Bevormundung, wird dadurch nicht geringer werden. Im Gegenteil: Die Regierung wird versuchen, ihre neu gewonnene Mehrheit in Kürzungen bei den Sozialleistungen, in neue unterdrückerische Gesetze und eine Festigung ihrer Macht umzusetzen. Das wird eine neue Welle von Widerstand auslösen, indem sich wirklich zeigen wird: Der Thron des Sultans scheint stabil, aber unter einer dünnen Schicht Farbe wackelt er gewaltig. Wenn die Unterdrückten einig sind, werden sie gewinnen.

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