Am 23. Juni entscheiden die BürgerInnen Britanniens in einem Referendum über den „Brexit” aus der Europäischen Union. Das bürgerliche Lager ist gespalten; die Linke träumt von einer „sozialen, demokratischen“ EU.
Die Krise des kapitalistischen Systems führt zu politischer Instabilität. Auch innerhalb der britischen Regierungspartei, den Tories rumort es gewaltig. Während das Großkapital rund um David Cameron für einen EU-Verbleib ist, wurden an der konservativen Basis Stimmen für einen EU-Austritt laut: ein „unabhängiges“ Königreich könnte wirtschaftlich erfolgreicher sein. In diesen Refrain stimmt die rechtspopulistische UKIP ein und fügt hinzu, dass man nur so das „christliche Abendland“ beschützen könne. In der Realität wäre Großbritannien auch nach einem Austritt auf Handelsabkommen mit der EU angewiesen, und dabei in einer schlechteren Position seine Interessen am Kontinent durchzusetzen. Die City of London, die Finanzindustrie, steht daher klar für die EU, nur eine Minderheit des Kapitals befürwortet einen Austritt. Die konservativen Tories sind aber tief gespalten und gehen sich öffentlich an die Gurgel, und wünschen sich in Parlamentsdebatten sogar gegenseitig den Tod.
Seit den 1980er Jahren hat sich die Linke in der Frage der EU an den Rockzipfel des Kapitals gehängt. Die Labour Party mit Corbyn und fast alle Gewerkschaften, sprechen sich für ein „In“ aus. Zwar verweigern sie eine gemeinsame Kampagne mit den Tories, argumentieren aber ihrerseits damit, dass die EU Arbeitsrechte vor den Konservativen schützen würde. Weiter glauben sie, dass eine Demokratisierung der EU „von innen“ möglich sei, mit der man die EU zu einer „Sozialunion“ gestalten könnte. Diese Position wird prominent von sämtlichen (Links-)ReformistInnen vertreten, die meinen, mittels EU-Parlament oder gar einer EU-Verfassung die Austeritätspolitik der EZB und EU-Kommission beenden zu können. Für sie ist das Sparregime lediglich eine ideologische Wirrung, weil man der neoliberalen Idee auf den Leim gegangen sei. Doch wenn sowohl die Labour Party, als auch das Großkapital ihre Interessen in der EU vertreten sehen, muss einer von ihnen falsch liegen.
Der geeinte Markt
Die EU und ihre Entwicklung sind unzertrennlich mit der Entwicklung des Kapitalismus in Europa und weltweit verknüpft. Heute, da sich der Kapitalismus im Niedergang befindet, geht auch die EU raschen Schrittes auf eine Desintegration zu. Diese Perspektive vertraten wir schon 1999, als wir zur Euro-Einführung schrieben: „Sie (die gemeinsame Währung, Anm.) würde nicht zu einer stärkeren europäischen Integration führen, sondern ganz im Gegenteil die Spannungen und Konflikte zwischen den Nationalstaaten enorm verschärfen.“
Die Idee eines gemeinsamen europäischen Marktes setzte sich in der herrschenden Klasse Frankreichs und Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg durch. Aus dem Krieg waren die USA als die führende kapitalistische Weltmacht hervorgegangen. Daneben existierte aber auch eine gestärkte Sowjetunion, die auf Basis der Planwirtschaft ein rapides Wirtschaftswachstum durchlebte.
Zwischen diesen großen Wirtschaftsblöcken hatten die kleinen Ökonomien der europäischen Staaten keine Chance. Der Hauptgrund für die Bildung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Jahr 1957 war daher der Versuch, die engen Grenzen der europäischen Kleinstaaterei zu überwinden.
Nach Außen diente der gemeinsame Markt gegenüber den mächtigeren Wirtschaftsblöcken als Schutz, gegenüber den schwächeren Ländern der Dritten Welt als neue Möglichkeit der imperialistischen Ausbeutung: Kolonialmächte wie Frankreich und England haben nach dem Zweiten Weltkrieg sukzessive ihre Kolonien in Afrika verloren und begannen nun deren systematische Ausbeutung mittels Freihandel, Entwicklungshilfe und militärischer Interventionen umzuorganisieren. Die EU und ihre Vorgänger waren somit von Anfang an ein Projekt imperialistischer Nationen, die niemals „friedlich“ agierten. Ein gemeinsamer Standpunkt der europäischen Räubernationen ist aber gerade in der Außenpolitik schwer herzustellen. In den Kriegen am Balkan, im Irak und Libyen war die EU gespalten, heute gibt es starke Interessengegensätze in der Russlandpolitik.
Eine historische Ausnahme
In den letzten 70 Jahren bildete sich keine einheitliche europäische Kapitalklasse heraus, daher gibt es zwischen den herrschenden Klassen Europas große Widersprüche. Noch immer stehen deutsches, französisches, britisches usw. Kapital in Konkurrenz. Die bisher erreichte Integration war nur in einer langen Phase des Wirtschaftsaufschwunges möglich. Aufgrund einer Reihe historischer Ereignisse konnte das Wirtschaftswachstum über eine lange Zeit erhalten bleiben und so die Ungleichheiten innerhalb der EU verstecken: Zunächst der Nachkriegsboom durch Investitionsmöglichkeiten im Wiederaufbau, dann die Wiedervereinigung Deutschlands und die Restauration des Kapitalismus in der ehemaligen Sowjetunion, wodurch neue kapitalistische Märkte entstanden. Insbesondere Osteuropa war eine Spielwiese für den österreichischen Imperialismus.
In dieser Phase fühlten sich die Bourgeoisien selbstbewusst genug, um die Integration extrem zu intensivieren: Mit supranationalen Gremien wie der EU-Kommission, dem EU-„Parlament“ und einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ist die EU ein Gebilde zwischen Bündnis und Staat. Entscheidend sind jedoch die konkreten Schritte der wirtschaftlichen Integration, in erster Linie die Einführung des Euros (2002). Mit dem Schengener Abkommen war schon ab 1995 freier Personen- und Warenverkehr in Europa möglich. Mit der Ostexpansion ab 2004 wurde die EU ausgedehnt und holte sich Niedriglohnländer in den gemeinsamen Markt herein.
In Zeiten des Wachstums dienten diese Maßnahmen zum Vorteil aller nationalen Bourgeoisien und in mancher Hinsicht auch der Arbeiterklasse, deren Lebensstandard stieg: Für starke Industrien, v.a. jene Deutschlands, war ein Exportmarkt geschaffen, der ohne Zollhindernisse und Grenzkontrollen optimal genutzt werden konnte. Schwächere Industrien wie jene Griechenlands waren nicht konkurrenzfähig, doch profitierte die dortige Volkswirtschaft von billigen Euro-Krediten.
Doch hinter dieser Fassade intensivierten sich die Widersprüche: Während Deutschland mittels der EU das schaffte, woran es in zwei Weltkriegen gescheitert war – die Dominanz über Europa – konnte kaum eine andere Volkswirtschaft mithalten. Die britische Industrie schrumpfte in den letzten 30 Jahren um zwei Drittel und macht heute lediglich 10% des BIP aus, die von 2,5 Mio. ArbeiterInnen (vs. 7 Mio. 1979) erwirtschaftet werden. Auch in Griechenland sind Dienstleistungen mit 82,8% der größte Sektor, allein von 2009 auf 2010 schrumpfte die Industrie um 13,4%. Demgegenüber macht die die Industrie in Deutschland 29,1% der Wirtschaftsleistung aus und ist weltweit der führende Exporteur, und die deutschen Banken sind der weltweit drittgrößte Kapitalexporteur.
Angesichts der industriellen und finanziellen Übermacht Deutschlands blieb den schwächeren europäischen Bourgeoisien ökonomisch wenig Spielraum, sie nahmen massiv Schulden auf und investierten massiv in spekulative Anlagen wie den Immobilenmarkt. Vor der Euro-Einführung kompensierten schwächere europäische Volkswirtschaften ihre mangelnde Konkurrenzfähigkeit durch Abwertung ihrer Währungen. Mit der Einheitswährung war dies unmöglich, dafür sanken in diesen Ländern die Zinsen. Mit dem Aufbrechen der Krise bestärkt diese Vorgeschichte die aktuelle Tendenz des wirtschaftlichen und politischen Auseinanderdriftens der EU.
Umschlag ins Gegenteil
Der Ausbruch der Krise 2008 war ein Wendepunkt für die EU. Alle Mittel, die zuvor das Wachstum befördert hatten, wandelten sich nun in ihr Gegenteil: Die ausstehenden Kredite wurden zu einem unbezahlbaren Schuldenberg, für deren Bedienung die SteuerzahlerInnen herangezogen werden. Die EU wurde dabei unter der Knute der deutschen Bundesregierung zum Inbegriff eines europaweit verhassten Austeritäts-Regimes. Die Außerkraftsetzung von Schengen ab 2015 ist ein weiterer Rückschlag für die „Integration“. Die exportorientierten, „europäisch“ gesinnten VertreterInnen wie Jean-Claude Juncker und Alexander Van der Bellen warnen vor den ungeheuren Kosten, die Grenzkontrollen der Wirtschaft verursachen.
Während die schwächeren Nationalstaaten ihre Interessen mit wachsender Vehemenz einfordern und Merkel es nicht schafft, diese Dynamik zu kontrollieren, steht die EU als solches auch unter wachsendem Druck der anderen großen Wirtschaftsblöcke. Im Kampf um Absatzmärkte überflutet China die Welt mit seinen billigen Produkten. Die EU leitete bereits ein Antidumpingverfahren gegen chinesischen Stahl ein und verhängte Strafzölle.
Weit davon entfernt, die Demokratie und Arbeiterrechte in Europa zu schützen, offenbart die EU in der Krise als das was sie ist: Ein Werkzeug des Kapitals. Wer glaubt, sie auf demokratischem Weg zu einer „Sozialunion“ zu machen, träumt. Dafür genügt ein Blick nach Griechenland (siehe Artikel S. 7). „Demokratie“ wird nur solange akzeptiert, als dass sie fundamentalen Kapitalinteressen nicht widerspricht.
Was ReformistInnen wie Corbyn, Varoufakis und Pablo Iglesias dem „Sparzwang“ entgegnen, sind keynesianische Investitionsprogramme, um so Jobs zu schaffen und die Wirtschaft anzukurbeln. Sie hoffen, nicht mit dem System und seiner herrschenden Klasse brechen zu müssen. Doch das ist Utopie. Der Markt ist gesättigt, weswegen KapitalistInnen nicht in die produzierende Wirtschaft investieren. Die meisten Staaten fahren eine Kombination von neoliberaler und keynesianistischer Wirtschaftspolitik – ohne nachhaltigen Erfolg. Die Übersättigung der Märkte und die daraus resultierende Profitschwäche, kann im Kapitalismus nur durch neue Märkte oder die Zerstörung von Überschusskapazitäten erreicht werden. In Wahrheit haben die KapitalistInnen bereits alle ihre Mittel, um Krisen zu lösen, verbraucht. Das Ergebnis ist minimales Wachstum in wenigen Welt-Regionen mit der Aussicht auf eine massive Inflation, (Handels-)kriege und die nächste Rezession in naher Zukunft.
Die einzige Lösung
Auf kapitalistischer Basis ist die „europäische Einigung“ in der Realität eine reaktionäre Utopie. Diese Perspektive stellte Lenin bereits im Ersten Weltkrieg auf. Während des Wirtschaftsaufschwunges schien diese Aussage verneint worden zu sein. Heute aber ist klar sichtbar: keine EU ohne Sparzwang zur Bankenfinanzierung, keine EU ohne Grenzabschottung mit tausenden Toten, keine EU ohne Herrschaft der großen Kapitalgruppen.
Im Zuge der sozialen Auseinandersetzungen in Europa wird die EU auseinanderbrechen, da sie nur eine minimale soziale Basis in den Gesellschaften besitzt. Trägerin einer genuinen europäischen Einheit kann nur die Arbeiterklasse, die den Kapitalismus überwunden hat sein. Auf Basis der sozialen Revolution in den europäischen Ländern wird es möglich sein aus diesen Kontinent in ein grenzenloses Paradies auf Erden zu errichten. Nein zur EU, für die Vereinigten sozialistischen Staaten Europas!