Nicola Sturgeon, die Vorsitzende der Scottish National Party und des Schottischen Parlaments, hielt diese Woche endlich jene Rede, die seit dem Brexit-Referendum im Juni 2016 unausweichlich schien. Durch die Ankündigung, ein zweites Unabhängigkeitsreferendum anzustreben, hat Sturgeon einen politischen Sturm entfacht. Dieser wird frühestens erst nach dem Referendum wieder abebben. Von Amy Dean
Großbritanniens Premierministerin Theresa May kam durch die Androhung des Referendums unter Druck der reaktionären Hinterbänkler ihrer eigenen Partei, der konservativen Tories. Sie steht nun vor der Wahl zwischen einem harten Brexit, was die Unterstützung für die schottische Unabhängigkeit stärken würde, oder die Brexit-UnterstützerInnen zu erzürnen, indem sie der SNP (Scottish National Party) nachgibt und das Referendum zulässt. Das eine trägt das Risiko in sich, die konservative Partei zu spalten, das andere würde das Vereinigte Königreich spalten. Beide Entscheidungen in diesem unlösbaren Dilemma bedeuten, dass eine Periode der Unruhe und des Aufruhrs bevorsteht.
Unschlüssigkeit
Die Ankündigung wurde in der Presse als Schachzug bezeichnet, der Theresa May auf dem falschen Fuß erwischen sollte. Tatsächlich war klar, dass eine solche Ankündigung früher oder später kommen würde. Die Frage der schottischen Unabhängigkeit verschwand seit dem ersten Referendum 2014 nie wirklich vom Tisch. Obwohl das Referendum abgelehnt wurde, konnte das Ja-Lager in den neun Monaten vor dem Referendum seine Unterstützung um rund 30% steigern.
Seither erhielt die SNP zunehmende Unterstützung. Bei der britischen Parlamentswahl 2015 gewann sie 47 von 50 Sitzen in Schottland. Bei der schottischen Parlamentswahl 2016 verlor sie knapp die Mehrheit aber vereinigte 46.5% der Stimmen in den Wahlkreisen. In einem Land mit fünf Millionen Einwohnern hat die Partei 120.000 Mitglieder.
Unmittelbar nach dem Brexit-Referendum schien die perfekte Chance für die SNP gekommen, sofort ein neues Referendum zu fordern. Der Austritt aus der EU bedeutet eine gewaltige Verfassungsänderung gegen den Willen der Mehrheit der schottischen Bevölkerung. Beim Referendum stimmte das Vereinigte Königreich als Ganzes mit 52% für den Austritt. In Schottland stimmten jedoch 62% für den Verbleib. Die schottische Regierung kündigte bereits am folgenden Morgen an, ein zweites Referendum sei „sehr wahrscheinlich.“ In den Meinungsumfragen schoss die Zustimmung für die Unabhängigkeit auf 56%, ebbte aber anschließend wieder auf knapp unter 50% ab.
In den folgenden Monaten gab es zwar vereinzelte Andeutungen, doch die Führung der SNP schien vor einer Abstimmung mit ungewissem Ausgang zurückzuschrecken. Auch wollten sie den WählerInnen zeigen, dass sie offen für Verhandlungen mit Westminster wären, wie beispielsweise bezüglich des Zugangs Schottlands zum EU-Binnenmarkt.
May vs. Sturgeon
In der letzten Periode wurde zunehmend klar, dass eine harte Umsetzung des Brexit – ohne Zugang zum Binnenmarkt oder Garantien für EU-BürgerInnen im Vereinigten Königreich – bevorsteht. Seitdem wurde ein zweites Referendum immer wahrscheinlicher. Mays Ignoranz gegenüber Sturgeons Appellen für eine alternative Vereinbarung für Schottland verschärften dies noch. Nach Sturgeons Ankündigung bleiben jedoch einige wichtige Fragen offen.
Erstens, wird es überhaupt zu einem Referendum kommen? Wenn ja, wann wird es abgehalten werden? Die Abstimmung im schottischen Parlament ist für nächste Woche angesetzt. Trotz lautstarker Opposition von Labour, den Liberaldemokraten und den Tories wird der Antrag angesichts einer Mehrheit von SNP und Grünen fast sicher angenommen. Diese Abstimmung wird jedoch nur dann ein rechtlich bindendes Referendum erwirken, wenn auch Westminster zustimmt.
Theresa May hat Sturgeon beschuldigt mit der Ankündigung einfach nur ‚Politik zu machen‘. Theoretisch könnten die Tories ein bindendes Referendum blockieren. Das wäre jedoch gefährlich für die Regierung und erweckt den Anschein, dass Westminster Schottland einmal mehr mit Füssen tritt. Zudem würde es nur die Popularität der SNP und der Unabhängigkeit stärken.
Wahrscheinlich werden die Tories versuchen, den Zeitrahmen und die Abstimmungsfrage zu kontrollieren. Sturgeon sprach von einem Zeitraum zwischen Herbst 2018 und Frühjahr 2019, noch vor dem Abschluss der Brexit-Verhandlungen. Aber die Tories werden dies nicht zulassen, da dies für sie eine gewaltige Ablenkung darstellen würde. Das Letzte, was May und ihr Kabinett gebrauchen können, ist ein Zweifrontenkrieg gegen die unnachgiebige EU einerseits und die schottische Regierung andererseits.
Unabhängigkeit
Eine weitere entscheidende Frage ist, ob die Unabhängigkeit beim zweiten Referendum eine Mehrheit findet. Eine Umfrage vom 15. März offenbarte mit 46% einen historischen Höchststand an Unterstützung für die Unabhängigkeit. Umfragen ergeben eine Unterstützung von knapp unter 50%, bei Jugendlichen zwischen 16 und 24 sogar 72%. Damit kann eine Zustimmung zur Unabhängigkeit nicht ausgeschlossen werden. Insbesondere da die Unterstützung auf dem Rücken einer bitteren, bissigen und bevormundenden Nein-Kampagne steigen könnte.
Beim letzten Referendum konnte die widerliche „Besser gemeinsam“ Kampagne mit dem Union Jack (der Nationalflagge Großbritanniens, Anm.) als Symbol kaum mit der Hoffnungsbotschaft der Ja-Kampagne mithalten. Der dramatische Zuwachs des Ja-Lagers verwundert also kaum. Dieser kam insbesondere von ArbeiterInnen und Jugendlichen, welche zum ersten Mal politisiert wurden. Viele dieser WählerInnen wurden durch die Linke in der Kampagne wie z.B. der Radical Independence Campaign inspiriert.
Dieses Mal scheint es jedoch so, als wählte die SNP als führende Kraft für die Unabhängigkeit eine andere Taktik. Mit einer Kampagne rund um die EU-Mitgliedschaft stünde die SNP an der Spitze einer pro-Establishment Kampagne. Die EU ist im Wesentlichen ein Club des europäischen Kapitals. Um diesem Club beizutreten müsste ein unabhängiges Schottland kapitalistischen Qualitäten, ein tiefes Lohnniveau und eine deregulierte Wirtschaft vorweisen. Dies ist kaum eine verheißungsvolle Perspektive für ArbeiterInnen und Jugendliche.
Diese Feststellung soll umgekehrt dem pro-Brexit Lager jedoch keinen progressiven Deckmantel geben. Dieses basiert größtenteils auf klar rassistischer Reaktion. Die Idee eines Britischen Imperiums 2.0 und eine Erneuerung der „speziellen Beziehungen“ zur Regierung Trump sind in den Augen der schottischen Bevölkerung klar weniger attraktiv als die EU. Tatsächlich hätte die SNP wahrscheinlich alleine aufgrund der Ablehnung des Rassismus und der Austerität der May-Regierung eine gewisse Unterstützung.
Für ein sozialistisches Schottland! Für eine sozialistische Welt!
Um die politische Massenbewegung zu erneuern und ein Referendum zu gewinnen, muss die Botschaft der Hoffnung und der Veränderung erneuert werden. Das bedeutet, weit über die Versprechen einer EU-Mitgliedschaft hinauszugehen.
Dies ist insbesondere für die Linke wichtig. Angesichts der Vision der SNP Führung kann sie nicht einfach für ein Ja werben. Die Illusion, dass die Unabhängigkeit an und für sich die Probleme der gewöhnlichen Bevölkerung Schottlands löst, darf nicht gesät werden. Vielmehr muss betont werden, dass ein grundlegender Wandel der Wirtschaft und der Gesellschaft im Interesse der ArbeiterInnen und der Jugend ganz Schottlands – und ganz Europas – ist.
Unser Kampf ist nicht für ein unabhängiges kapitalistisches Schottland, sondern für ein sozialistisches Schottland als Teil eines sozialistischen Europa – für eine Gesellschaft, in der das Eigentum der Banken und der Großkonzerne aus den Händen der reichen Elite in die Hände der ArbeiterInnen gelegt wird. Nur so lässt sich die Wirtschaft rational und demokratisch planen, nach den Bedürfnissen der Mehrheit statt den Profiten der Minderheit. Dies ist die revolutionäre Veränderung, für die die ArbeiterInnen und die Jugend aller Länder kämpfen müssen.