Spanischer Staat. Am 1. Oktober versuchte die spanische Zentralregierung eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit mit brutaler Gewalt zu verhindern. In weiterer Folge wurde die katalanische Regierung von der Regierung in Madrid abgesetzt und Neuwahlen in Katalonien verkündet. Von Sandro Tsipouras.
Wochenlang hatte sich die PDeCAT, die bürgerliche Partei, die Katalonien regiert, geziert und gezögert. Erst als klar war, dass der Druck von der Straße ebenso wenig nachlassen würde wie absolute Härte Madrids, rang sich die katalanische Regierung am 27. Oktober zu der Unabhängigkeitserklärung durch, die eigentlich für den 3. Oktober angekündigt gewesen war. Als die spanische Zentralregierung daraufhin gestützt auf Verfassungsartikel 155 die katalanische Regierung entlassen ließ, ihre führenden Mitglieder wegen „Aufruhrs“ und „Volksverhetzung“ zur Anzeige brachte und ihnen jahrzehntelange Haftstrafen in Aussicht stellte, flohen der katalanische Präsident Carles Puigdemont und seine Getreuen nach Belgien, wo sie sich bis zum jetzigen Zeitpunkt aufhalten. Am 7. November wurden die in Katalonien verbliebenen Mitglieder der Regierung verhaftet.
Katalonien wird nun von Madrid aus regiert. Die bürgerliche katalanische Regierung hat zu keinem Zeitpunkt etwas getan, um die Unabhängigkeit zu verteidigen, die sie proklamierte. Nach der „Unabhängigkeitserklärung“ wehten weiterhin spanische Fahnen auf den Amtsgebäuden. Die katalanischen Parteien, die in Katalonien für die Unabhängigkeit gestimmt hatten, beließen ihre Abgeordneten im spanischen Parlament, anstatt sich zu Spanien konsequenterweise wie zu einem fremden Staat zu verhalten. Es wurde keinerlei Versuch unternommen, einen zivilen Ungehorsam gegen die direkte Verwaltung Kataloniens durch den spanischen Staatsapparat zu organisieren.
Hier finden wir die Worte Leo Trotzkis bestätigt, dass die Massen immer tausendmal revolutionärer sind als ihre Führung. Die PDeCAT hat niemals eine Initiative ergriffen, niemals einen Weg nach vorn aufgezeigt, sondern hat sich blind und ängstlich zappelnd von den Massen nach vorne stoßen lassen und schließlich bei der ersten Gelegenheit die Flucht ergriffen.
Die Massen betreten die Bühne
Nicht so die Menschen, die seit dem Referendum am 1. Oktober spontan und massenhaft aktiv geworden sind und in ganz Katalonien hunderte Komitees zur Verteidigung des Referendums bzw. der Republik (CDR) aufgebaut haben. Die CDR haben für die Durchführung des Referendums gegen den Willen der Polizei gesorgt, mehrere Generalstreiks und Demonstrationen organisiert, um für die Unabhängigkeit, gegen den Artikel 155 und gegen die Verhaftung der Regierung auf die Straße zu gehen. Am 8. November organisierten sie Blockaden der zentralen Bahnhöfe und Autobahnen. Hätte Puigdemont nach seiner Unabhängigkeitsregierung dazu aufgerufen, die spanische Flagge von den Amtsgebäuden zu nehmen, die katalanische Regierung vor der Festnahme zu schützen und die spanische Polizei zu vertreiben, wenn sie versucht hätte gegen die neue Republik vorzugehen, wären die Massen diesem Aufruf mit überwältigender Begeisterung gefolgt. Und wie sich gezeigt hat, wäre das auch die einzige Möglichkeit gewesen: Die Ausübung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung ist in Katalonien auch heute eine revolutionäre Aufgabe, die nicht im Rahmen der Verfassung des spanischen Staates durchgesetzt werden kann.
Stattdessen sehen sich auch die nationalistischen katalanischen Parteien nun gezwungen, sich am 21. Dezember an einer Wahl zu beteiligen, die Madrid für Katalonien verordnet hat. Die Hilflosigkeit und Unzuverlässigkeit der bürgerlich-kleinbürgerlichen Führung der Unabhängigkeitsbewegung ist damit restlos nachgewiesen.
So wird die PDeCAT wohl einen Großteil ihrer Stimmen an ihre bisherige Koalitionspartnerin, die etwas linkere ERC, verlieren. Die antikapitalistische PUC, die den Impuls zum Aufbau der Komitees gegeben hat, hat ihre bisherige Strategie der Zusammenarbeit mit den Bürgerlichen zur Erreichung der Unabhängigkeit aufgegeben, was einen politischen Fortschritt darstellt.
Im Anti-Unabhängigkeitslager befinden sich die liberalen Ciudadanos, die konservative Partido Popular und die sozialdemokratische PSC. Die katalanische Sektion der spanischen Linkspartei Podemos nimmt eine „neutrale“ Position ein – gegen die Unabhängigkeit und gegen den Artikel 155.
Alles in allem wird das Parlament, das als Ergebnis der Wahlen zusammentritt, wohl ähnlich zusammengesetzt sein wie das letzte, das die spanische Regierung aufgelöst hat: Die bürgerlich geführte Unabhängigkeitsbewegung wird darin wohl die stärkste Kraft sein. Umso entscheidender ist, dass sich die Massen zu Herzen nehmen, was ihnen die vergangenen zwei Monate gezeigt haben: Nur sie selbst können sich helfen. Wenn sie sich auf die eigenen Kräfte stützen, sind sie unbesiegbar. Wenn sie ihr Schicksal in die Hände der Bürgerlichen legen, wird man sie verraten und hintergehen.
Nur wenn die CDRs selbstbewusst eine führende Rolle in der Bewegung einnehmen, werden sie außerdem in die Unabhängigkeitsbewegung die sozialen Forderungen einbringen können, die es braucht, um die Unterstützung des spanischsprachigen Teils der katalanischen Arbeiterklasse und der Arbeiterklasse Spaniens zu bekommen. Diese Menschen stehen der Bewegung bislang überwiegend skeptisch gegenüber, machen aber einen wichtigen Teil der katalanischen und spanischen Gesellschaft aus. Nur als Bewegung gegen die barbarische Kürzungspolitik des spanischen Staates, als Bewegung für höhere Löhne, sichere Arbeit, einen sicheren Sozialstaat und gegen die Massenarbeitslosigkeit und als Bewegung gegen Korruption und Monarchie wird die katalanische Unabhängigkeitsbewegung siegen können.