Deutschland. Wenn es nach den Massenmedien geht, ist Deutschland mit der gerade eben „geglückten“ Neuauflage der Großen Koalition noch einmal an einer politischen Katastrophe vorbeigeschlittert. Doch wenn man unter die Oberfläche sieht, wird deutlich, dass die wirklichen Erschütterungen noch bevorstehen. Von Florian Keller.


Eine der wichtigsten Grundlagen für die dominierende Rolle Deutschlands in Europa in den letzten Jahrzehnten war immer die politische Stabilität des Landes. Egal, ob die konservativ-bürgerliche CDU/CSU regierte oder die sozialdemokratische SPD; das deutsche Großkapital konnte sich immer sicher sein, dass das politische Spitzenpersonal seine Interessen mit aller Macht verteidigen würde. So wurde gerade unter der rot-grünen Regierung von Gerhard Schröder von 1998 bis 2005 mit massiven Kürzungen bei Sozialleistungen und der Schaffung von einem „der besten Niedriglohnsektoren […], den es in Europa gibt“ (Gerhard Schröder auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, 2005) die Basis dafür gelegt, dass die deutsche Wirtschaft „wettbewerbsfähig ist“ und „gut durch die Krise gekommen ist“. Soweit die Interpretation der Herren und Damen Experten.


Für das kleine Detail am Rande, dass mit „Deutschland“ natürlich die Gewinne von VW, Deutscher Bank und Co. gemeint sind, während die Arbeitsbedingungen für ArbeiterInnen immer schlechter werden und Altersarmut trotz jahrzehntelanger Arbeit ein normales Phänomen ist, bleibt da natürlich kein Platz. Die grausamen Reformen bedeuteten, dass unter der scheinbar ruhigen politischen Oberfläche Desillusionierung, Wut und Abscheu über die herrschende Politik in die Arbeiterklasse Einzug fand.

Platz an der Sonne?

Aber sie schafften auch tatsächlich die Grundlage für eine Situation, die einmalig ist in Europa: Die Industrie boomt, die Wirtschaft insgesamt wächst, der Staatshaushalt verzeichnet seit Jahren Überschüsse. Doch die Basis für die Stärke der deutschen Wirtschaft und vor allem der Industrie kann man nicht verstehen, indem man die langweiligen Stehsätze vom „Vorsprung durch Innovation“ nachbetet.


Konkret ist die Stärke der deutschen Industrie die kapitalintensive Produktion. Deutschland produzierte 2016 10,6% der Industriegüter der Welt, aber 15,8% im Sektor Maschinenbau, 19,9% in Luft- und Raumfahrtindustrie und sogar 20% in der Autoproduktion. Solche kapitalintensive Produktion rechnet sich aber nur bei entsprechen großen Verkäufen, und dafür braucht es entsprechend große Absatzmärkte: Deutschland alleine mit wenig mehr als 80 Millionen Einwohnern ist viel zu klein für seine eigene Industrie.


Zwischen 2003 und 2008 war Deutschland das Land auf der Erde, das am meisten exportierte, auch seither verzeichnet es auf Platz 2 hinter China massive Außenhandelsüberschüsse. Die Europäische Union ist daher als Absatzmarkt (und als verlängerte Werkbank) zentral für Deutschland – ein unkontrolliertes Auseinanderbrechen wäre das Ende der deutschen Exportindustrie.


Selbst die 500 Millionen Einwohner der europäischen Union sind noch wenig im Vergleich zu den Milliarden des Weltmarktes. Um bei den ganz Großen (USA und China) mitzuspielen, fehlt es Deutschland an direkten Machtmitteln. Und in einer Welt, in der Protektionismus und Außenhandelsbeschränkungen immer mehr zunehmen, wird das zu einem großen Problem. Es ist bezeichnend, dass die Antwort der EU auf Trumps angekündigte Strafzölle auf Stahl und Aluminium aus Strafzöllen auf Whiskey, Jeans und Erdnussbutter besteht. Auf dem Weltmarkt ist Deutschland nur ein Leichtgewicht, das in den letzten Jahren weit über seinem Gewicht geboxt hat. Es ist daher richtig, wenn die konservative deutsche Zeitung „Welt“ in Bezug auf China und die USA titelt: „Deutschland wird zwischen zwei Giganten zerrieben“. Es gilt der Ausspruch von Henry Kissinger: „Armes altes Deutschland: Zu groß für Europa, zu klein für die Welt“.

Stabilität über alles

Umso mehr ist die Stabilität der EU für das deutsche Kapital eine Frage von Leben und Tod, ebenso die Dominanz Deutschlands innerhalb der europäischen Union, welche günstige Absatzbedingungen für die deutsche Industrie garantiert und einen Hebel nach außen bedeutet. Doch diese Dominanz hängt direkt davon ab, dass der deutsche Staat eine laute Stimme in Europa hat – das heißt eine stabile und starke Regierung, die die Interessen des deutschen Kapitals unzweifelhaft und direkt verteidigt. In einer Umgebung der politischen Krise, die die EU in den letzten Jahren darstellte, war die seit 2009 bestehende Große Koalition tatsächlich ein Hort der Stabilität und Stärke. So schrieb etwa Bloomberg kurz vor der Wahl: „Deutschlands langweilige politische Landschaft ist ein Zeichen für seltene Stärke“.


Diese politische Stärke garantierte dem Kapital drei Dinge: Friede, Freude, Eierkuchen. Doch die Bundestagswahl schlug in dieser Stimmung ein wie eine Bombe. Der Unmut, der jahrelang unter der Oberfläche geblieben war, entlud sich in einer krachenden Wahlniederlage für die beiden Parteien der großen Koalition. Sowohl die CDU/CSU als auch die SPD verloren massiv an Stimmen, zusammen fast 14%. Nachdem die Partei mit 20,5% ihr historisch schlechtestes Ergebnis in der Geschichte der Bundesrepublik einfuhr, kündigte der SPD-Vorsitzende Martin Schulz an, die SPD in die Opposition zu führen – aus Sicht der Parteispitze eine Notwendigkeit, um die Partei nicht völlig zu zerstören. Daraufhin gab es monatelange, zähe Verhandlungen zwischen der CDU/CSU, der liberalen FDP und den Grünen, die aber schließlich scheiterten.


Diese festgefahrene Situation musste aus Sicht des Kapitals durchbrochen werden. In deren Logik hätten vorgezogene Neuwahlen nur weitere Monate von Wahlkampf und legitimationsloser geschäftsführender Regierung bedeutet, und darüber hinaus auch kein grundlegend anderes Wahlergebnis gebracht. Also musste die „alte Tante SPD“ wieder ran: Über alle möglichen Kanäle wurde so Druck aufgebaut, die Maschinerie der „öffentlichen Meinung“ lief in einer massiven Kampagne an, sogar der sozialdemokratische Bundespräsident Steinmeier meldete sich zu Wort.


Der O-Ton war dabei: In dieser Situation sei eine große Koalition die einzige mögliche Option, die SPD müsse sich ihrer Verantwortung bewusst sein, etc. Schließlich trat Martin Schulz in einer Pressekonferenz vor die Medien und kündigte an, die SPD sei „für Deutschland und Europa“ (sprich: Für die Stellung des deutschen Kapitals in Europa) bereit, Verantwortung zu übernehmen und in Koalitionsgespräche zu treten.

Widerstand gegen GroKo

Schon bald nach dieser Ankündigung formierte sich Widerstand in der SPD gegen eine erneute große Koalition. Das ist wenig verwunderlich, denn für die Partei steht viel auf dem Spiel – letztendlich geht es jetzt um die Existenz der Partei als relevante politische Kraft. Der Leidensdruck innerhalb der Sozialdemokratie entlud sich so in einer Kampagne, deren Dynamik die GroKo fast platzen ließ.


Getragen wurde diese „No GroKo“- Kampagne vor allem von der Parteijugend, den Jusos, und deren Vorsitzendem Kevin Kühnert, und fand in der aktiven Parteibasis ein breites Echo. Auf der Gegenseite stand praktisch die gesamte Parteiführung, von „links“ (Andrea Nahles) bis rechts, inklusive der Vorsitzenden der wichtigen Landesparteien und der Gewerkschaftsspitze, bis hin zu Altvorsitzenden wie Rudolf Scharping und Gerhard Schröder, die wieder ausgegraben wurden, um die GroKo durchzuboxen. Trotz dieser ungleichen Kräfteverhältnisse schrammte die Parteispitze auf einem Sonderparteitag Ende Jänner nur knapp an einer Niederlage vorbei, als sich nur 53% der Delegierten für eine Koalition aussprachen. In einem Mitgliederentscheid sprachen sich dann schließlich 66% für eine Koalition aus. Das zeigt, dass sich auch viele einfache Parteimitglieder die SPD nur noch als staats- und systemtragende Partei mitsamt ihrer Posten und Pöstchen im Staatsapparat vorstellen können. Deutschland bekommt also eine neue Große Koalition.

Der lange Abstieg der SPD

Das heißt auf keinen Fall, dass alles so weiterläuft, wie bisher. Nach Jahren der Sozialkürzungen unter rot-grün und zwei Wahlperioden seit 2005 als Juniorpartner und Erfüllungsgehilfe der CDU/CSU in der großen Koalition ist das politische Kapital der einst mächtigen Arbeiterpartei SPD weitgehend aufgebraucht, das Vertrauen der Arbeiterschaft in die Partei auf einem Tiefpunkt. Der Eintritt in eine neue GroKo wird diesen Trend nur noch verstärken – in einigen Umfragen ist die SPD auf 16% gefallen und liegt Kopf an Kopf mit der rechten AfD!


Vor genau 20 Jahren wählten noch über 40% die SPD, in absoluten Zahlen sanken die Zahlen von über 20 Mio. Stimmen auf nur mehr 9,5 Mio. bei den Wahlen 2017. Auch die Mitgliederzahl hat sich seit 1995 von knapp 850.000 auf 463.000 fast halbiert, von denen wiederrum nur knapp 380.000 in der Schicksalsfrage der Großen Koalition überhaupt abstimmten. Dass von ihnen 2/3 für eine erneute Große Koalition gestimmt haben, wird das Vertrauen in die Partei bei den unzufriedenen ArbeiterInnen sicherlich nicht heben. Es kann also erwartet werden, dass in der nächsten Periode die „Abstimmung mit den Füßen“ weitergehen wird und die Partei weiter an Unterstützung verlieren wird.


Das wird dadurch noch verstärkt, dass auch die Gegner einer GroKo in der Partei um Juso-Chef Kühnert die Dynamik der letzten Wochen nicht nützen, um eine klar sichtbare innerparteiliche Opposition aufzubauen, sondern sich de Facto dem scheinbar Unvermeidlichen fügen. So sagte Kühnert nach dem Mitgliederentscheid in einem Interview: „Ich muss mit dem arbeiten, was die Mehrheit beschlossen hat. So ist Demokratie. Die SPD muss grundlegend anders auftreten als in der letzten Großen Koalition. Das wird nicht so einfach, weil die Voraussetzungen denkbar ungünstig sind. Aber wir Jusos werden unseren Beitrag leisten, damit die SPD als eigenständige Kraft erkennbar bleibt. Uns bleibt ja nichts anderes übrig.“

Das letzte Aufgebot der GroKo

So sind die Aussichten für die SPD schlecht und der Boden ist bereitet für eine politische Chaotisierung des Landes, wie wir es schon in vielen anderen europäischen Ländern gesehen haben. Die neue Regierung wird nicht beliebter sein als die letzte, rechts mit der AfD und Links mit der Linkspartei stehen Parteien bereit, die sie unter großen Druck bringen können. Durch die politische Schwäche der Linkspartei, die sich oft selbst als Juniorpartner der SPD versteht, anstatt eine klare sozialistische Alternative zu formulieren, passiert das im Moment vor allem durch die AfD. Der Unmut bricht aber immer wieder auch in betrieblichen Klassenkämpfen durch, etwa mit einem großen Streik im Metallbereich (siehe Seite 5). Die wirtschaftliche Stabilität steht auf sehr wackeligen Beinen. Die nächste Krise kann so das ganze wackelige politische Gebäude, das seit 60 jahren das Land geprägt hat, zum Einsturz bringen. So stehen Deutschland nicht etwa ruhige, sondern stürmische Zeiten bevor: Die Dynamik, die in den letzten Jahren ganz Europa erfasst hat, ist auch in Deutschland angekommen!


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