Hinter den wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland folgten Kulturboykotte prompt auf dem Fuß. Kaum eine Organisation in Sport, Kunst und Kultur hat es verpasst, sich „solidarisch“ mit der Ukraine zu zeigen und zum Beweis russische SportlerInnen oder Kunstschaffende auszuschließen. Von Raphael Lins.
Als „Geste der Solidarität“ wurden etwa Auftritte des Russischen Staatsballetts oder des Bolschoi Balletts in Großbritannien abgesagt, woraufhin die jeweiligen Tourneen gänzlich abgesagt werden mussten. Der Eurovision Song Contest und eine Reihe an Filmfestivals (Cannes, Glasgow, European Film Academy) schlossen jeweilige russische Beiträge aus. Viele KünstlerInnen, die sich nicht sofort gegen den Einmarsch Putins aussprachen, wurden mit einem de-facto Berufsverbot belegt und vor eine Entweder-oder-Wahl gestellt (Gergiew, Netrebko), einige sprachen sich sofort öffentlich gegen den Krieg aus (Petrenko, Levit) … warum? Weil sie russische Wurzeln haben und deshalb offenbar Erklärungsnot herrscht – bei den westlichen KollegInnen herrscht diese Erklärungsnot selbstverständlich nicht. Der Dirigent Sochijew schrieb: „In Europa zwingt man mich heute, eine Wahl zu treffen und ein Mitglied meiner musikalischen Familie dem anderen vorzuziehen“, und legte daraufhin beide seine Hauptämter beim Bolschoi-Theater Moskau und bei der Oper Toulouse in Frankreich zurück.
Der Mechanismus funktioniert übrigens auch umgekehrt – die Opernsängerin Netrebko wurde, kaum hatte sie sich „endlich“ gegen den Krieg ausgesprochen, von der Oper Nowosibirsk ausgeladen und indirekt als Verräterin bezeichnet. Aber sogar Künstler, die sich von Anfang an gegen den Krieg ausgesprochen haben, sind nicht vor den Boykotten sicher: der junge Pianist Alexander Malofejew wurde vom Montreal Symphony Orchestra ausgeladen, obwohl er sich distanziert hatte und Familie in der Ukraine hat.
Es trifft auch nicht nur die Lebenden. Das Cardiff Philharmonic Orchestra nahm Tschaikowski aus ihrem Programm (seit 130 Jahren tot, betrachtete die Ukraine aufgrund seines Großvaters als zweite Heimat und bearbeitete viele ukrainische Themen in seiner Musik) und die Universität Mailand-Bicocca „verschob“ ein Seminar über Dostojewski. Gräbt man tiefer, wird es noch absurder: russische AthletInnen wurden nicht nur von den paralympischen Spielen und anderen Turnieren ausgeschlossen, sondern auch deren virtuelle Pendants aus Computerspielen entfernt; russischen Katzen und Bäumen wird die Teilnahme an internationalen Wettbewerben verwehrt.
Symbolpolitik und Rassismus
Wohin führt das? Im Bewusstsein der russischen Bevölkerung entsteht der Eindruck eines regelrechten Belagerungszustandes – das wird sie nicht gegen Putin aufbringen, sondern wird es im Gegenteil der Kreml-Propaganda erleichtern, die nationale Einheit zu beschwören und Putin als ihren einzigen Verteidiger darzustellen. Am realen Kriegsverlauf ändert sich gar nichts, allerdings liefern solche ideologischen Offensiven wiederum das notwendige Unterfutter, um die Kriegsbegeisterung im Westen anzuheizen. Die logische Weiterführung dieses Boykottdenkens sind Russophobie, Rassismus und Hetzjagden gegen alles Russische, die weltweit bereits zu Übergriffen gegen russische Restaurants, Lebensmittelhändler, orthodoxe Kirchen usw. geführt haben.
Es ist eine Notwendigkeit für jede herrschende Klasse in jedem Krieg, die öffentliche Meinung im eigenen Land bei der Stange zu halten, und der Rassismus ist ein hervorragendes Werkzeug, genau wie das Bild des barbarischen, rückständigen russischen Volks perfekt in die westliche Propaganda passt.
Was können wir tun?
Bei vielen Menschen hat der Ukrainekrieg eine ehrliche und verständliche Entrüstung hervorgerufen, gepaart mit einem ohnmächtigen Gefühl, „doch etwas tun zu müssen“. Auch große Teile der antirussischen Hysterie sind Ergebnis dieser individuellen Hilflosigkeit – und es stimmt, individuell sind wir machtlos. Nur wenn sich die Arbeiterinnen und Arbeiter als Klasse organisieren, sind wir mächtig. Es waren die Revolutionen der russischen (1917) und deutschen (1918) Arbeiterklasse, die den 1. Weltkrieg beendeten.
Die russische Arbeiterklasse ist nicht unser Feind. Boykotte und Sanktionen schaden ihnen. Wir können uns mit ihnen solidarisch zeigen, indem wir unsere eigenen Imperialisten hier im Westen bekämpfen, und indem wir uns gegen Sanktionen, Boykotte, Diskriminierung und alles stellen, was die Arbeiterklassen der verschiedenen Nationen voneinander trennt.
(Funke Nr. 203/22.4.2022)