Die Wirtschaftskrise, die die Türkei erfasst hat, hat die türkische herrschende Klasse in eine politische Krise gestürzt. In der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) und ihrem Koalitionspartner, der rechtsextremen MHP, zeichnen sich Spaltungen und Brüche ab. Diese Ereignisse sind ein Vorbote der Revolution. Von Cağla Günes.

Als Folge der Zuspitzung der Krise sinken die Umfragewerte der AKP immer schneller – jedoch steigen die Umfragewerte der Opposition nicht an. Das ist ein Ausdruck der tieften Radikalisierung der türkischen Gesellschaft sowie der Tatsache, dass die Massen einen Ausweg aus der Krise des Systems suchen, aber den bestehenden politischen Parteien kein Vertrauen mehr schenken.

In den frühen Tagen seiner Herrschaft konnte sich Erdoğan aufgrund des Wirtschaftswachstums bei seiner Wählerschaft Rückhalt verschaffen. Das hat ihm eine lange Serie an Wahlsiegen beschert. Doch diese Zeiten sind jetzt vorbei. Erdoğan sucht nun verzweifelt nach Wegen, um politisch zu überleben.

Die wichtigste Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP), erweist sich als unfähig, aus seiner Schwäche Kapital zu schlagen. Obwohl sie ein Bündnis aus sechs Parteien ins Leben gerufen hat, um Erdoğans fast 20-jähriger Herrschaft ein Ende zu setzen, fällt es ihr schwer, genügend WählerInnen zu mobilisieren, um die kommenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2023 zu gewinnen.

Seit Jahren taumelt der türkische Kapitalismus von einer Krise in die nächste. Nachdem die türkische Wirtschaft noch an den Folgen des Wirtschaftseinbruchs von 2018 litt, stand ihr gleich der nächste Schlag bevor: eine durch die COVID-19-Pandemie ausgelöste Weltwirtschaftskrise. Auf diese folgte wiederum der Krieg in der Ukraine.

Der Krieg in der Ukraine hat der türkischen Wirtschaft, die fast ihren gesamten Energiebedarf durch Importe deckt, einen schweren Schlag versetzt. Dies befeuert die schon hohe Inflation nur noch weiter. Während die offiziellen Inflationszahlen für Mai/Juni auf 60 Prozent geschätzt wurden, haben die steigenden Energiepreise die offizielle Inflation bereits über dieses Niveau hinausgetrieben. Das offizielle türkische Amt für Statistik (TÜİK) beziffert die Inflationsrate auf 69,97 Prozent. Die Inflation Research Group (ENAG), eine unabhängige Organisation, schätzt sie jedoch auf 156,86 Prozent. Wir haben bereits früher genauer über die Dynamik der wirtschaftlichen Situation in der Türkei berichtet.

Proteste

Der rasante Absturz des Lebensstandards hat in der gesamten Türkei Proteste gegen Preiserhöhungen ausgelöst. Die Wut gegen das Regime wächst und die Proteste umfassen immer breitere Teile der Gesellschaft.

Tatsächlich sind die meisten Proteste gegen die Preiserhöhungen spontan ausgebrochen, als die Massen in ihren Vierteln auf die Straße gingen. Andere wurden von Gewerkschaften und kommunalen Organisationen unter dem Slogan „Geçinemiyoruz" organisiert, was auf Türkisch „Wir kommen nicht zurecht" bedeutet. Im Rahmen der Proteste verbrannten viele ihre Energierechnung, die Massen skandierten dabei: „Wir werden nicht zahlen“ und „Cengiz kann die Rechnungen bezahlen“, eine Anspielung auf eines der Energieunternehmen, dem Milliarden an Steuern erlassen wurden.

Noch vor nicht allzu langer Zeit hatten die Menschen Angst davor, die Stimme gegen Erdoğan zu erheben – aus Angst vor rechtlichen Konsequenzen. Das Regime hatte eine Atmosphäre der Angst geschaffen, in der man für Erdoğan-feindliche Äußerungen in den sozialen Medien ins Gefängnis kommen konnte. Sogar Schulkinder wurden verhaftet, wenn sie etwa in der Mittagspause schlecht über den Präsidenten sprachen. Doch jetzt entlädt sich all dieser aufgestaute Zorn gegen Erdoğan und das AKP-Regime.

Auf den Demonstrationen werden Anti-AKP-Parolen skandiert und die Massen rufen: „Wir haben die Nase voll von der AKP“. Die Angriffe auf den Lebensstandard führen auch dazu, dass das Wesen des Kapitalismus immer mehr Menschen bewusst wird. Die Massen marschieren mit Plakaten, auf denen zu lesen ist: „Diejenigen, die die Krise verursacht haben, sollen dafür zahlen“. Ein Demonstrant rief: „Entweder wir akzeptieren, in Kälte und Dunkelheit zu sitzen nur für die Profite einer Handvoll Unternehmen, die von uns erwarten die Krise zu bezahlen, oder wir werden diese Rechnungen zerreißen!“

Die Krise hat ein Erwachen der Arbeiterklasse mit sich gebracht. Tatsächlich erlebt das Land gerade die größte Streikwelle seit den 1970er Jahren, als sich die Türkei inmitten ihrer größten revolutionären Bewegung befand. Von Januar bis März schwappte durch das Land eine massive Streikwelle, an der sich ArbeiterInnen aus allen Wirtschaftszweigen beteiligten. In den ersten beiden Monaten des Jahres 2022 gab es mindestens 108 Streiks in der gesamten Türkei, auch in den Hochburgen der AKP.

In Gaziantep, einer AKP-Hochburg, gab es im Laufe von sechs Wochen mehr als 30 Streiks, an denen sich mehr als 12.000 Beschäftigte beteiligten. Die meisten dieser Streiks brachen spontan aus, ohne jegliche gewerkschaftliche Organisation.

Die ArbeiterInnen haben im Laufe ihres Kampfes viel gelernt: dass sie für den Produktionsprozess unverzichtbar sind; dass sie die Macht haben, ihre Arbeitsplätze und die Profite der Bosse lahm zu legen und dass ihre Stärke in ihrer Zahl und Einheit liegt.

Die ArbeiterInnen bündeln ihre Kämpfe in Kampagnen, und auch der Zustrom zu den Gewerkschaften hat sich beschleunigt, da sich die ArbeiterInnen gemeinsam organisieren wollen, um so die Angriffe abzuwehren. Während die Inflation weiter ansteigt, fordern die ArbeiterInnen neue Tarifverträge. Başaran Aksu, Koordinator der Gewerkschaft Umut-Sen, sagte in einem Interview:

„Selbst Arbeiter, die für die AKP und die MHP [Koalitionspartner der AKP] stimmen, schenken den Ankündigungen der TÜİK keinen Glauben, sondern eher dem, was in den Medien der Opposition gesagt wird. [...] Deshalb wollen die Arbeiter neue Verträge unterzeichnen und ihre Löhne neu bewertet haben. Andernfalls haben sie keine Chance, am Leben zu bleiben“.

Tatsächlich steht aktuell eine neue Runde an Tarifverhandlungen bevor, im Laufe derer es zu einer neuen Streikwelle kommen könnte, die die Alte nochmals in den Schatten stellen könnte.

Auch die Studierenden protestierten seit dem letzten Herbst letzten Herbst an der Universität gegen die steigenden Mietpreise und den Zugang zu öffentlichen Wohnheimen. Die Barınamıyoruz-Proteste („Wir finden keine Unterkunft“) begannen in Istanbul und breiteten sich schnell auf Universitäten im ganzen Land aus: von der westlichen Provinz Çanakkale bis zur südöstlichen kurdischen Provinz Diyarbakir. Das Regime reagierte mit Repressionen und verhaftete Tausende von Studenten. Dennoch ist es nicht gelungen, die Bewegung zu unterdrücken.

Im April marschierten PensionistInnen aus dem ganzen Land nach Ankara, der Hauptstadt, und forderten eine Erhöhung der Pensionen und die Rücknahme der Preiserhöhungen. PensionistInnen sind mehrfach zum Parlament marschiert und haben während der gesamten Krise Proteste organisiert. Unterwegs machten die PensionistInnen mit ihren Parolen ihrem Ärger über das Regime Luft: „Nehmt die untragbaren Teuerungen zurück! Preiserhöhungen, Folter, das ist die AKP! Wir werden nicht vor der AKP kapitulieren.“ Doch sie zeigten auch das wachsende Verständnis der Notwendigkeit einer Verbindung der Kämpfe mit der Arbeiterklasse: „Es lebe die Solidarität der Arbeiterklasse!“

Auch Proteste von Bauern sind im ganzen Land spontane ausgebrochen. Sie blockierten mit ihren Traktoren Autobahnen und Straßen, um gegen die Preiserhöhungen bei Energie- und Produktionskosten zu protestieren. Als die Proteste zunahmen, schlossen sich Bauern im ganzen Land zusammen und marschierten nach Ankara, um ihre Forderungen vorzubringen. Die meisten dieser Bauern stammen aus AKP-Hochburgen und sind meist konservativ eingestellt, doch ihre Lage führt zu einem Bewusstseinswandel. Ein Bauer in Gaziantep sprach mit einem Youtuber und sagte: „50 Kilogramm Dünger kosten mich 400 Millionen Lira. Ernährt uns die Religion? Wir sind alle Muslime, aber Religion ist eine Sache, Politik eine andere. [...] Ich folge dem Geld in meiner Tasche, nicht Tayyip, oder Kılıçdaroğlu. Die Menschen hungern, die Menschen leben in Armut“, und er beendete seine Rede mit: „Es lebe der Sozialismus, es lebe die Revolution".

Die Grundlage von Erdoğans Herrschaft

Erdoğans Umgang mit der Wirtschaftskrise hat nur zu einer weiteren Aushöhlung seiner gesellschaftlichen Basis geführt. Die zahlreichen Zinssenkungen im Herbst verursachten einen rapiden Absturz der Währung. Die türkische Lira beendete das letzte Jahr mit einem Wertverlust von 45 Prozent. Erdoğan hat versucht, die Krise als „Unabhängigkeitskrieg“ darzustellen, und hat die Opposition, die Zinserhöhungen zur Bekämpfung der Inflation fordert, beschuldigt, „seine Regierung angreifen zu wollen“ und „Angst zu schüren“.

In Wahrheit versucht Erdoğan eine soziale Explosion zu verhindern. Eine Anhebung der Zinssätze in der hoch verschuldeten Wirtschaft würde massenhaft Insolvenzen auslösen, die wohl das Ende seiner Herrschaft bedeuten würden. Seit letztem Jahr gab es bereits über 25 Millionen Insolvenzen, 2,3 Millionen davon seit Anfang 2022. Aber die Zinsen niedrig zu halten, um die Wirtschaft über Wasser zu halten, schürt die Inflation und lässt damit die Löhne sinken. Dies hat über einen anderen Weg also ebenfalls zu Unruhen geführt, die nun das Regime bedrohen.

In der Zwischenzeit gelang es dem Erdoğan-Regime, die Lira zu stabilisieren. Dies geschah vor allem durch das Aufbrauchen der Devisenreserven in der Zentralbank, sowie dem Einführen von Einlagensicherungssystemen und dem Anvisieren des „Goldes unter der Matratze“ im Dezember und Jänner. Erdoğan hat auf billige türkische Exporte gesetzt, in der Hoffnung, dass diese genügend Einnahmen aus dem Ausland (auch aus dem Tourismus) generieren würden, um so das Leistungsbilanzdefizit des Landes auszugleichen. Das würde wiederum die Währung stabilisieren und die Inflation senken. Sein Plan war ohnehin nicht langfristig aufrecht zu erhalten.

Doch durch den Einmarsch Russlands in die Ukraine wurde ihm schlagartig die Grundlage entzogen – die Türkei hängt stark von Energie, Handel und Touristen aus Russland sowie von ukrainischem Getreide und ukrainischen Touristen ab. Alleine die Rechnung für die Gasimporte der Türkei wird in diesem Jahr voraussichtlich 40 Mrd. USD betragen, was die Nettoreserven der Zentralbank von 15,96 Mrd. USD weit in den Schatten stellt. Hinzu kommen die Öl- und Getreidepreise, die infolge des Krieges ebenfalls in die Höhe geschossen sind.

Erdoğan ist nun verzweifelt auf der Suche nach Bargeld und Investoren. Die Regierung zwingt jetzt Firmen, die exportieren, 40 Prozent ihrer Deviseneinnahmen an die Zentralbank zu verkaufen. Im Januar, als diese Maßnahme angekündigt wurde, waren es noch 25 Prozent. Die Maßnahme wurde auch auf den Tourismussektor ausgedehnt.

Das Regime steht mit erschöpften Devisenreserven und einer sehr hohen Auslandsverschuldung da. Darüber hinaus hat Erdoğans „unorthodoxe“ Zinspolitik zu einer Kapitalflucht geführt, die noch dadurch verschärft wird, dass die fortgeschrittenen Nationen angesichts der Weltwirtschaftskrise ihre Auslandsinvestitionen abziehen. So sehr er sich auch anstrengen mag, Erdoğan ist nicht über die Gesetze des Kapitalismus erhaben. Aber selbst, wenn er geht, wird derjenige, der ihn ersetzt, mit der gleichen Krise konfrontiert sein.

Trotz der Tatsache, dass das Land von Krisen geplagt wird, haben die für Juni 2023 angesetzten Wahlen keine Begeisterung für eine der politischen Optionen geweckt.

Die regierende AKP und ihr rechtsextremer Verbündeter, die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), liegen in den Umfragen in etwa bei 25 Prozent bzw. 5 Prozent. Das bedeutet, dass sie zusammen etwa 31 Prozent der Stimmen erhalten werden, was nicht annähernd ausreicht, um die für die Wahl des Präsidenten oder die für die Bildung einer Regierung im Parlament erforderliche Schwelle von 51 Prozent zu erreichen.

Spaltungen in der herrschenden Klasse

Erdoğan wandte sich das erste Mal 2015 an die MHP. Nachdem er seine Mehrheit im Parlament verloren hatte, begann er, die nationalistische Wählerbasis zu umwerben. Um an der Macht zu bleiben, wurde er jedoch schnell von ihrer Unterstützung abhängig.

Als Erdoğan 2002 mit einem Erdrutschsieg an die Macht kam, konnte er sich auf das Wachstum der türkischen Wirtschaft stützen, die angesichts des globalen Booms ebenfalls wuchs.
Die Türkei konnte die Weltwirtschaftskrise von 2008 überstehen, aber die türkische Wirtschaft wurde stark von spekulativem Wachstum abhängig, und 2013 kam die Abrechnung dafür.

Das Wirtschaftswachstum verlangsamte sich, Inflation und Arbeitslosigkeit begannen zu steigen und die Währung begann zu verfallen. Die Angriffe des Regimes auf den Lebensstandard der Massen im Verlauf dieser Krisen haben den Klassencharakter des Erdoğan-Regimes offengelegt und seine Basis stetig ausgehöhlt. Dieser Prozess wurde durch die Krise, die durch die COVID-19-Pandemie ausgelöst wurde, beschleunigt.

Während Millionen von Menschen in die Armut getrieben wurden, um für die Krise zu bezahlen, wurden zwischen November 2020 und November 2021 über 181.000 Menschen in der Türkei neue Millionäre. Das opulente Leben von Erdoğan und der herrschenden Klasse steht in scharfem Kontrast zur weit verbreiteten und wachsenden Armut. Dieser Widerspruch treibt die politische Polarisierung voran und verschärft den Zorn der Arbeiterklasse.

Im Laufe der Jahre ist Erdoğans Basis erodiert und sein Regime wurde immer mehr geschwächt. Daher musste er seine Kontrolle über den Staatsapparat verstärken, um so die politische Stabilität zu sichern. Er tat dies durch die Säuberung jedes Anzeichen von Opposition innerhalb seiner eigenen Partei. Auch die staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen wurden gesäubert und dort AKP-nahe Loyalisten installiert. Demokratische Rechte und Freiheiten wurden beschnitten, um das schwächelnde Erdoğan-Regime weiter zu stabilisieren.

Mit dem Verfassungsreferendum im Jahr 2017 hatte Erdoğan seine Macht weiter gefestigt. Tatsächlich ist das ein Zeichen seiner politischen Schwäche. In Wahrheit haben diese Maßnahmen seine Herrschaft nicht bestärkt, sondern untergraben, in dem sie dem Regime seine Legitimität entzogen haben.

Die Unzufriedenheit mit dem Kurs des Landes unter Erdoğan begann in die Partei selbst einzusickern. Zwei Gründungsmitglieder der AKP, Ahmet Davutoğlu und Ali Babacan, spalteten sich wegen des Kurses der Partei von der AKP ab und gründeten ihre eigenen Parteien - die Zukunftspartei (GP) und die Partei für Demokratie und Fortschritt (DEVA).

Die Verschärfung der Wirtschaftskrise übt Druck auf die verschiedenen Flügel der herrschenden Klasse aus, und diese Spannungen führen wiederum zu politischen Spaltungen und Auseinandersetzungen. Nach Angaben der Zeitung Yeniçağ befinden sich 40 amtierende AKP-Parlamentarier in Gesprächen mit der GP, ebenso wie 20 ehemalige AKP-Parlamentarier.

Der stellvertretende Vorsitzende der GP Selçuk Özdağ sagte aus, dass die Minister meinen, die AKP werde „schlecht gemanagt“. Es wird außerdem berichtet, dass die AKP „am Kochen ist“, da die Abgeordneten unter enormem Druck vonseiten ihrer Wählerschaft stehen. Anfang dieses Jahres verließen zwei AKP-Abgeordnete die AKP und wechselten zu Babacans DEVA-Partei.

Die Krise führt auch zu Spaltungen innerhalb der extremrechten Verbündeten der AKP, der MHP. Baki Ersoy, ein MHP-Abgeordneter, machte im April Schlagzeilen, nachdem er die offiziellen Inflationszahlen bestritten und sich gegen die Preiserhöhungen ausgesprochen hatte. Ersoy wurde suspendiert, trat aber während seiner Suspendierung aus der Partei aus. Am Tag nach Ersoys Suspendierung trat Sedat Bilinç, ein weiterer MHP-Abgeordneter, aus der Partei aus, nachdem er Ersoys Äußerungen unterstützt hatte und meinte, er habe von der Parteiführung „ähnliche Warnungen“ wegen seiner Kritik erhalten. Nun meldet sich auch ein dritter Abgeordneter zu Wort und unterstützt Ersoys Äußerungen.

Einem ehemaligen MHP-Abgeordneten zufolge könnte die „Büchse der Pandora“ in der MHP geöffnet worden sein, da die Partei nun innerlich gespalten ist: „Bahçelis [Vorsitzender der MHP] bedingungslose Unterstützung für Erdoğan sorgt für große Unzufriedenheit innerhalb der MHP.“

Eine weitere Bruchlinie in der herrschenden Klasse ist im Türkischen Industrie- und Unternehmerverband (TÜSİAD) zu beobachten, der traditionell mit der kemalistischen Bourgeoisie und der oppositionellen CHP verbunden ist. Die TÜSİAD ist von den zurückhaltenden Warnungen abgerückt, mit denen sie im Oktober und Dezember die „Unabhängigkeit der Regulierungs- und Aufsichtsbehörden" und die Einhaltung der „Regeln der Wirtschaftswissenschaft“ durch das AKP-Regime gefordert hatte, nachdem Erdoğans Zinssenkungen die Lira in den freien Fall geschickt hatten. Im Zuge der Massenproteste, die die Krise im ganzen Land ausgelöst hat, hat der Unternehmerverband ein „Programm“ vorgelegt.

Auf der Generalversammlung am 29. März hielt der ehemalige Präsident und Vorstandsmitglied Tuncay Özilhan die erste Rede, in der er direkt auf Erdoğans Behauptungen antwortete, dass „die Wirtschaftslage sich verbessern wird“:

„Wir können uns nicht den Luxus leisten, von der Annahme auszugehen, dass es keine neue Krise geben kann (..) Krise, Unvorhersehbarkeit und Instabilität (sind) zu unserer neuen Normalität geworden.“

Özilhan fügte dann hinzu:

„Die Kritik, die wir üben, ist nicht persönlich, sondern politisch.“

Mit anderen Worten lautete ihre Botschaft an Erdoğan: „Das ist nur ein Geschäft - und du bist leider zu einer Bedrohung für unser System geworden.“

Die landesweiten Proteste gegen die Preiserhöhungen und vor allem die Streikwelle, die das gesamte Land betreffen, sind eine äußerst alarmierende Entwicklung für die Bourgeoisie. Sie kommt allmählich zu dem Schluss, dass sie Erdoğan loswerden muss - oder mit einer Revolution rechnen muss.

In dem Maße, in dem sich die Krise verschärft, wird der Druck von unten diese Spaltungen an der Spitze noch verstärken. Die Spannungen innerhalb der herrschenden Klasse werden immer deutlicher, während die Bourgeoisie darum ringt, mit der Arbeiterklasse fertig zu werden und ihr System zu retten.

Die Opposition (bzw. ihr Fehlen)

Trotz der Tatsache, dass die Unterstützung für die AKP sinkt und die Partei schwächer wird, steigt die Unterstützung für die Opposition nicht an.

Die wichtigste Oppositionspartei - die kemalistische CHP - hat angesichts dieser Krise einmal mehr ihren Bankrott und ihre Ohnmacht bewiesen. Die Führung hat nicht einmal den Versuch unternommen, der AKP eine echte Opposition entgegenzusetzen. Als Lösung für die Wirtschaftskrise hat sie lediglich die Beendigung der „Ein-Mann-Herrschaft“ Erdoğans und die „Rückkehr zum parlamentarischen System“ anzubieten.

Tatsächlich ist die CHP immer weiter nach rechts gerückt. Die Partei hat rechtsnationale und religiöse Kandidaten aufgestellt und sogar eine islamische Rhetorik übernommen und sich damit von ihren „säkularen" kemalistischen Wurzeln entfernt, um Erdoğans Basis anzusprechen. Ihre Verbündete bei den Wahlen ist die İyi Parti („Gute Partei“- İYİ), die eine Abspaltung der rechtsextremen MHP ist, die Saadet Parti („Partei der Glückseligkeit“ - SP), eine islamistische Gruppierung, und die konservative „Demokratische Partei“ (DP).

Selbst wenn die beiden Abspaltungen der AKP, die DEVA und die GP, hinzukommen sollten, könnte das Parteienbündnis nicht genügend Stimmen aufbringen, um zu gewinnen. Diese sechs Parteien liegen derzeit in den Umfragen zusammen bei etwa 40 Prozent der Stimmen – auch wenn sich bis 2023 noch viel ändern kann.

Kemal Kılıçdaroğlu Image mynetiz pixabayDie Oppositionspartei CHP kann von der Schwäche der AKP nicht profitieren. Foto: CHP-Vorsitzender Kılıçdaroğlu (pixabay)

Das Bündnis der Nation (der Name des von der CHP geführten Zusammenschlusses) hat eine 48-seitige Vereinbarung verabschiedet, die jedoch nirgends eine Lösung für die Wirtschaftskrise enthält, die die Massen erdrückt. Darin heißt es, dass, sobald „die von jeder Partei durchgeführten Studien zum Wirtschaftsprogramm abgeschlossen sind“, die „Experten“ jeder Partei „zusammenkommen und auf der Grundlage dieser Studien ein gemeinsames Wirtschaftsprogramm ausarbeiten werden“.

Welch hohle Worte für die Millionen von Menschen, die unter Hunger, Armut und Arbeitslosigkeit leiden! Dieses Dokument zeigt, wie sehr sie vom wahren Leid der Massen isoliert sind.

Mitten in der Währungskrise im Herbst wurde die CHP dazu gedrängt, die Massen zu mobilisieren, und kündigte so eine Reihe von Demonstrationen an. Zur Überraschung der CHP selbst kamen schon zur ersten Kundgebung bereits mehr als 20.000 Menschen. Doch die Aussicht, Tausende von Menschen zu einer Massenmobilisierung zu bewegen, war für die CHP so erschreckend, dass sie direkt davon abließ, weitere Kundgebungen abzuhalten. Kılıçdaroğlu erklärte, man werde sich „mehr auf Treffen mit Berufsverbänden, Meinungsführern, Nichtregierungsorganisationen und jungen Menschen konzentrieren“.

Die CHP versucht, die Wut der Massen in sichere Kanäle zu lenken. Kılıçdaroğlu (der CHP-Vorsitzende) ruft dazu auf, „nicht auf der Straße zu protestieren“, „die Bürger“ sollen stattdessen „zur Wahl zu gehen, um die Regierungspartei auszuwechseln“.

Die CHP mag zwar mit Erdoğans Politik nicht einverstanden sein, aber sie hat mehr Angst davor, eine Bewegung auszulösen, die sich ihrer Kontrolle entziehen und zu einer Bedrohung für ihr System werden könnte. Tatsächlich ist die Wirtschaftskrise in der Türkei weder auf das Präsidialsystem noch auf eine Ein-Mann-Herrschaft zurückzuführen - sondern auf die Krise des türkischen Kapitalismus.

Der Grund, warum die CHP und die anderen Oppositionsparteien die schwache AKP nicht besiegen können, ist, dass sie das Vertrauen der Massen verloren haben. Viele AKP-Anhänger haben sich zwar gegen Erdoğan gewandt, finden aber keine Alternative, der sie sich zuwenden könnten. Ein Bauer, der aus Aksaray zu der Kundgebung angereist war, sagte der Tageszeitung Evrensel: „Es geht nicht mehr um die AKP, CHP oder die İyi Parti. Von heute an geht es um die Brotpartei. Ich werde jeden wählen, der mich vor dem Hunger rettet. Dafür würde ich sogar die HDP wählen“.

Die HDP

In diesem politischen Klima hat die Demokratische Volkspartei (HDP), die linke Partei mit ihrer starken Basis unter der kurdischen Bevölkerung, das Potenzial, eine realistische Opposition zu werden. Die Partei hat ein drittes Bündnis mit anderen linken und linksradikalen Parteien initiiert. Eine wahre Einheitsfront auf Basis eines echten sozialistischen Programms würde die Massen elektrisieren.

Die HDP hat wichtige demokratische Grundforderungen erhoben: für nationale und religiöse Freiheiten, für den Kampf gegen die Frauenunterdrückung, für Gerechtigkeit und Frieden usw. Sie hat auch eine Reihe von Gesetzentwürfen ins Parlament eingebracht, mit denen wirtschaftliche Probleme angegangen werden sollen: Die Erhöhung des Mindestlohns alle drei Monate, 250 kW kostenlosen Strom an jeden Haushalt, die Beseitigung der Schulden aus Studienbeiträgen sowie die Erhöhung von Stipendien auf 2.500 TL; dass die Regierung die Hälfte der Diesel- und Düngemittelkosten für Bauern übernimmt und dass die Mindestpension auf 5.000 TL festgesetzt wird (ein Betrag, der allerdings kaum über dem Mindestlohn und sogar noch unter der „Hungergrenze“ liegt).

hdp rally Image HDP Twitter

Die Partei hat sogar Gesetzesentwürfe für die Verstaatlichung der Energieunternehmen und ein Gesetz zur Prüfung von Politikern und anderen Personen eingebracht, um eine gerechte Bezahlung und die Zahlung von Steuern zu gewährleisten.

Doch während die HDP diese (wenn auch bescheidenen) Vorschläge für Reformen, die der Arbeiterklasse zugutekämen, dem Parlament vorgelegt hat, hat sie gleichzeitig ihre öffentliche Entrüstung darüber kundgetan – dass sie sich nicht am Bündnis der Nation beteiligen darf!

Tatsächlich hat die HDP immer wieder betont, dass sie bereit sei, den Präsidentschaftskandidaten dieses Bündnisses zu unterstützen, sofern mit dieser eine „prinzipielle Einigkeit“ erzielt werden kann.

Ein solches Bündnis wäre jedoch ein Bündnis mit dem Klassenfeind. Tatsächlich hat sich unter HDP-Mitgliedern bereits eine scharfe Gegenreaktion angesichts dieser Überlegungen der Führung herauskristallisiert. Einigen wurden angeblich bereits klargemacht, dass sie zu schweigen hätten, weil sie sich zuvor gegen die mögliche Zusammenarbeit mit der CHP in der Kurdenfrage ausgesprochen haben.

Es ist klar: Wenn die HDP diesen Weg der Zusammenarbeit mit dem so genannten liberalen Flügel der Bourgeoisie fortsetzt, wird die Führung die radikalsten und fortschrittlichsten Schichten von der Partei abstoßen.

Es besteht der Verdacht, dass die HDP in der Kurdenfrage ein Abkommen mit einem Teil der herrschenden Klasse anstrebt. Eine Absprache mit der CHP hätte jedoch fatale Folgen. Der einzige Grund, weshalb die CHP überhaupt zu einem temporären Kompromiss bereit wäre, ist die Perspektive, die Unterstützung der HDP in wirtschaftlichen und sozialen Fragen zu bekommen. Doch sobald sie für die politische Unterstützung der HDP keine Verwendung mehr hätte, würde sie sich gegen sie wenden und sie und die KurdInnen verraten. Das kurdische Volk hat diese bittere Erfahrung bereits gemacht. Erdogan selbst hat die Kurdenfrage politisch genutzt, nur um dann eine 180 Grad-Wende zu vollziehen.

Die Tatsache, dass es der HDP nicht gelungen ist, die massive Streikwelle, die das Land erfasst hat, anzuführen, scheint zu bestätigen, dass ihre Führer dem Denken der „parlamentarischer Absprachen“ verhaftet bleiben. Während Tausende von ArbeiterInnen die Fabriken verließen, beschränkte sich die HDP darauf, im Parlament einen Gesetzentwurf einzubringen, der eine dreimonatliche Überprüfung des Mindestlohns forderte.

Anstatt auf parlamentarische Manöver zu setzen, sollte die HDP eine klassenbasierte Politik verfolgen und die volle Kraft der Arbeiter auf der Straße mobilisieren!

Als MarxistInnen sind wir nicht dagegen, unsere Ideen im Parlament zu vertreten. Es kann eine nützliche Tribüne sein, um die Aufmerksamkeit der Massen zu wecken und zu mobilisieren. Aber wenn die Massen in Bewegung sind, kann die ausschließliche Konzentration auf parlamentarische Spiele die Massen verwirren und demobilisieren.

Hinter der parlamentarischen Demokratie steht die Macht der Bosse und Bankiers, und keine parlamentarischen Manöver können diese überwinden. Der einzige Weg, um sowohl die demokratischen als auch die wirtschaftlichen Forderungen zu erreichen, die die HDP vorschlägt, ist die Mobilisierung der Massen für den Kampf zum Sturz des Kapitalismus - für eine Revolution.

Sollte die HDP nun zu einem Anziehungspunkt für die radikalsten und fortschrittlichsten Schichten der Gesellschaft werden, dann trotz dieser Einschränkungen ihrer Führung. Würde die HDP ein klassenbasiertes Programm annehmen - das den Kampf für die täglichen Forderungen der Arbeiter mit dem Kampf für den Sozialismus verbindet - könnte sie leicht nationale Grenzen überwinden, die türkische und kurdische Arbeiterklasse vereinen und dabei alle anderen Parteien wegfegen.

Keine der von der HDP erhobenen demokratischen Forderungen ist in einem System, in dem die wirtschaftlichen Hebel der Macht in den Händen einer Minderheit verbleiben, ernsthaft durchführbar.

Die Bedrohung einer vereinten Arbeiterklasse

Während sein Regime zunehmend schwächer wird, sucht Erdoğan verzweifelt nach Möglichkeiten, sich an der Macht zu halten.

In einem verzweifelten Schachzug hat das Regime das Verfahren zum Verbot der HDP wieder aufgenommen. Dies würde dazu dienen, die antikurdische Stimmung zu schüren und die 6 Millionen HDP-WählerInnen zu spalten. Eine Partei, die potenziell die türkische und kurdische Arbeiterklasse vereinen kann, ist ein gefährliches Szenario für den türkischen Kapitalismus.

Ein weiteres Zeichen der Verzweiflung ist der Versuch des Regimes, sich durch Manöver im Wahlrecht über Wasser zu halten. Da die AKP und die MHP zu verlieren drohen, haben die Koalitionspartner vor kurzem Wahlreformen durchgesetzt, die die Hürde für den Einzug einer Partei ins Parlament von 10 Prozent auf 7 Prozent senken. Dies würde nicht nur ihr eigenes Überleben sichern, sondern auch dazu dienen, das Bündnis der Opposition zu spalten und zu schwächen, insbesondere die beiden AKP-Abspaltungen, die ihre Stimmen aus seiner Basis bekommen.

Hinter dem Image des starken Mannes verbirgt sich ein verzweifelter Mann mit einem sehr schwachen Regime, dem sowohl Zeit als auch Möglichkeiten ausgehen. Erdoğan und das AKP-Regime können leicht gestürzt werden, aber bis jetzt gibt es keine Alternative.

Die Krise in der Türkei beginnt außer Kontrolle zu geraten. Eine Mehrheit der Bevölkerung wurde in tiefe Armut gestürzt, damit eine Minderheit der Reichen ihre Profite sichern und ihren Reichtum vergrößern kann. Es gibt keine Lösungen für die Probleme, mit denen die Massen im Kapitalismus konfrontiert sind. Die einzige Perspektive im System ist mehr Leid. Die Massen können nicht bis zum Jahr 2023 warten.

Die türkische Arbeiterklasse gerät gerade in Bewegung und immer breitere Teile der Gesellschaft gehen auf die Straße, um sich gegen die Angriffe der herrschenden Klasse zu wehren. In dem Maße, wie sich der Klassenkampf verschärft, werden noch mehr ArbeiterInnen in die Aktion hineingezogen werden. In Ermangelung einer politischen Alternative werden sich die Arbeiter wahrscheinlich an die Gewerkschaften wenden und versuchen, sie in kämpferische Organisationen umzuwandeln. Aber durch die einzelnen Kämpfe, die ausbrechen werden, werden die ArbeiterInnen immer mehr revolutionäre Schlüsse ziehen.

Es ist notwendig, diesem aufkommenden, instinktiven Verständnis einen bewussten Ausdruck zu verleihen. Das ist die Aufgabe einer revolutionären Partei, deren Aufbau heute die dringendste Frage in der Türkei ist. Wir müssen eine Partei aufbauen, die sich aus den klassenbewusstesten Elementen zusammensetzt und die erklären kann, dass die einzige Lösung für die Probleme der Arbeiterklasse darin besteht, die Energieunternehmen, die großen Monopole und die Banken aus den Händen einer Minderheit von Reichen in ihre eigenen Hände zu nehmen. Kurz gesagt, nur durch den Sturz des Kapitalismus können wir die Probleme lösen, vor denen die Massen in der Türkei heute stehen.

Die Frage ist nicht, ob, sondern wann wir eine revolutionäre Explosion in der Türkei erleben werden. Die Situation in Sri Lanka ist ein Vorgeschmack auf die Zukunft der Türkei. Die Massen sind gegen die unerträglichen Bedingungen auf die Straße gegangen. Die gleichen Bedingungen werden in der Türkei vorbereitet. Aber wenn eine solche Situation entsteht, ohne dass eine revolutionäre Organisation mit einem klaren Programm vorhanden ist, um sie zu führen, kann sich die Energie der Massen verflüchtigen – sowie sich der Dampf in der Luft verflüchtigt, wenn er nicht von einem Kolben aufgefangen wird.

Die türkische Arbeiterklasse, die die größte und mächtigste Arbeiterklasse im Nahen Osten ist, hat die Bühne betreten und bereitet einen gewaltigen Gegenschlag vor. Sie braucht allerdings eine Führung, die sie zum Sieg führen kann. Durch ein revolutionäres Programm können die Arbeiter die Mittelschicht, die Studenten, die Bauern und die Armen miteinbeziehen und die Kapitalisten und ihr System in den Müllhaufen der Geschichte werfen. Das ist unsere dringende Aufgabe.

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