Erneut siegte Macron gegen Le Pen. Oberflächlich betrachtet scheint es sich bei den Präsidentschaftswahlen im April 2022 um eine exakte Wiederholung des Wahlduells von 2017 zu handeln. Nun könnte in den kommenden Parlamentswahlen aber eine linke Mehrheit möglich sein. Manuel Lins wirft für uns einen Blick unter die Oberfläche.
Mit Macrons Wiederwahl konnte, aus Sicht der proeuropäischen Teile der französischen Bourgeoisie, eine Katastrophe knapp verhindert werden. Beim historischen Vergleich der Präsidentschaftswahlen 2002, 2017 und 2022 – als jeweils ein Mitglied der Le Pen-Familie gegen einen rechten oder zentristischen Kandidaten antrat – zeigt sich jedoch, dass die extreme Rechte immer weiter aufholen konnte und ihren Nimbus der Unwählbarkeit verloren hat. Gleichzeitig hat aber auch eine „Entdiabolisierung“ von Le Pen stattgefunden und es wird erkennbar, wie ihre Politik als Präsidentin im Kern ausgesehen hätte: Genauso wie jene von Macron in den vergangenen fünf Jahren. Sie hätte ebenso die Interessen der großen Unternehmen verteidigt, Konterreformen durchgesetzt; nur mit noch mehr rassistischer Demagogie.
Die vermeintliche Ähnlichkeit der beiden Wahlgänge verdeckt, wie sehr sich die Situation in Frankreich gewandelt hat und die Massen immer unzufriedener mit der gesamten herrschenden Klasse werden. Durch seine Attacken auf den Lebensstandard der Arbeiterklasse ist Macron extrem unbeliebt geworden, weshalb er von der Bewegung der Gelbwesten („Gilet Jaunes“) folgerichtig als „Präsident der Reichen“ bezeichnet wurde. Langanhaltende Massenbewegungen richteten sich 2018-2019 gegen die Erhöhung der Treibstoffkosten und wehrten ein Jahr später eine Erhöhung des Pensionsantrittsalters ab.
Wut und Polarisierung
Die Wut über die wachsende soziale Ungleichheit und die Arroganz der Herrschenden kam bei dieser Wahl klar zum Ausdruck. Einerseits war die Wahlenthaltung enorm hoch: Es gab 13,7 Millionen Nichtwähler (28%) und 3 Millionen ungültige Stimmen im 2. Wahlgang (8,6%). Damit haben nur 63,4% der Bevölkerung für einen der beiden Kandidaten gestimmt und das oft auch nur, um den Sieg des Gegners zu verhindern.
Andererseits erhielt Jean-Luc Mélenchon mit einem linksreformistischen Programm im 1. Wahlgang 22% der Stimmen. Damit verpasste er nur sehr knapp (es fehlten 1,2%) die Stichwahl, was in der französischen Jugend und weiten Teilen der Arbeiterklasse zu einer schweren Enttäuschung führte. Allein mit den Stimmen, die die Kandidaten der Kommunistischen Partei (PCF: 2,28%; sie verzichtete 2017 noch auf einen eigenen Antritt und unterstützte Mélenchon!) oder der Sozialistischen Partei (PS: 1,75%) erhielten, wäre Mélenchon in die zweite Runde gekommen. Diese und noch zwei weitere aussichtslose Kandidaturen führten schließlich aber zu einer Zersplitterung der Stimmen für die Linke und damit zu einer Stichwahl, in der sich das Wahlvolk zwischen „Pest“ und „Cholera“ entscheiden musste.
Die massive Ablehnung eines erneuten Duells zwischen Macron und Le Pen kam auch darin zum Ausdruck, dass nach dem Bekanntwerden der Ergebnisse der 1. Runde ein Universitätscampus an der Sorbonne unter dem Slogan „Ni l‘un, ni l‘autre!“ – „Weder der eine noch die andere!“ – besetzte wurde.
Mélenchons Volksunion
Um die Chancen von La France Insoumise (LFI) bei den bevorstehenden Parlamentswahlen am 12. und 19. Juni zu erhöhen, hat Mélenchon mit den Spitzen nahezu aller anderen linken Formationen verhandelt. Eine Einigung wurde mit EELV (Grüne), PS und dem PCF erzielt und eine „ökologische und soziale Volksunion“ (NUPES) aus der Taufe gehoben. Aufgrund der Schwäche dieser Parteien bei den Präsidentschaftswahlen trägt das Programm die Handschrift von LFI, auch wenn einige Inhaltspunkte verwässert wurden, so ist etwa statt von einer „ökologischen Planung“ der Wirtschaft nur mehr von der „Absicht ökologischer Planung“ die Rede. Die Führung des PS will nach der beschämenden Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen vor allem ihre eigenen Mandate retten und nicht wirklich den früheren Erzfeind Mélenchon fördern.
Diese Wahlallianz mit diskreditierten Parteien bringt mehr Schaden als Nutzen und untergräbt zudem das Vertrauen der kämpferischen Teile der französischen Arbeiterklasse und Jugend in Mélenchon. Insbesondere in Wahlkreisen, die den Kandidaten des völlig verhassten PS oder der Grünen zugeteilt wurden, werfen jugendliche Aktivisten das Handtuch und werden inaktiv.
Trotzdem ist NUPES in den Augen der Massen das derzeit beste Vehikel, um einen Wahlsieg gegen die Rechte zu erringen. Das drückt sich auch in den Umfragen aus, die das Bündnis mehrheitlich noch vor Macrons Partei am ersten Platz (um die 30 %) verorten. Damit ist aber (u.a. wegen dem Wahlkreissystem) nicht gesagt, dass sie auch die meisten Abgeordneten stellen werden. Überhaupt ist ein linker Sieg noch keine ausgemachte Sache – es ist schwer vorherzusehen, wie viele enttäuschte ArbeiterInnen und Jugendliche bei der Wahl zuhause bleiben oder ihre Stimme gar den rechten Demagogen geben werden.
Ein Wahlsieg wäre in jedem Fall auch nur der erste Schritt. Käme es zu einer Regierung unter der Führung von Mélenchon würde sie sofort vor die Entscheidung gestellt werden: Kapitulation vor den Forderungen der Bürgerlichen oder Kampf gegen das kapitalistische System selbst, das so tief in der Krise steckt, dass es keine progressiven Reformen mehr zulässt. Ein Bündnis mit dem rechten Flügel des Reformismus wird dabei zur Achillesferse, da sich dessen Politik stets innerhalb der Grenzen des Kapitalismus bewegt und den Wünschen des Kapitals unterordnet. Eine Parlamentsmehrheit auf dieser Basis würde immer wieder von den rechten Abgeordneten in den eigenen Reihen in Frage gestellt werden.
Welcher Weg nach vorne?
Angesichts sinkender Reallöhne, jenseitiger Lebenskosten und einer täglich steigenden Inflation sind soziale Kämpfe und Klassenauseinandersetzungen vorprogrammiert. Der Unmut und Zorn der Massen wird notfalls an den bremsenden Organisationen der Arbeiterklasse vorbei einen Ausdruck finden, etwa in spontanen Streiks, Unibesetzungen oder Massendemonstrationen. Aufgabe der Führung unserer Klasse wäre es, diese Energie und Kampfkraft zu bündeln, die französische Arbeiterklasse und Jugend gegen jede Form reaktionärer Politik zu mobilisieren, egal ob es sich um Macron oder Le Pen handelt, und sich nicht ausschließlich auf das nächste Wahlergebnis zu fokussieren. Die „Gilet Jaunes“ und andere Bewegungen der letzten Jahre haben gezeigt, welche Kraft die Arbeiterklasse in Frankreich entfalten kann, egal wie viele Steine ihr in den Weg gelegt werden.
(Funke Nr. 204/31.5.2022)