Anfang Januar hat Präsident Macron eine Pensionsreform angekündigt. Seither spitzt sich die Lage in Frankreich stetig zu: Doch trotz ihrer Stärke bedeuten die Proteste nicht automatisch einen Sieg der Bewegung. Von Manuel Lins.

In den vergangenen Wochen hat sich die gesellschaftliche Auseinandersetzung zwischen der liberalen Regierung von Staatspräsident Macron und weiten Teilen der französischen Arbeiterklasse massiv verschärft und an Dynamik gewonnen. Die bisher fünf Aktionstage im Januar und Februar sahen teilweise über 2 Millionen Streikende auf den Straßen. Stets vorne mit dabei waren Lehrkräfte, Krankenpfleger, Arbeiter im Energiesektor, Schüler, Studenten und Arbeiter des Transportbereichs, insbesondere die kämpferischen Eisenbahner. Dabei haben sich nicht nur die großen Städte, sondern auch die Bevölkerung in kleinen, oft vernachlässigten Orten beteiligt, teilweise sogar über ein Zehntel der gesamten Einwohnerschaft. Umfragen zufolge lehnen nicht weniger als 67% aller Franzosen die Reform ab. Nicht weniger als 81% aller unter 35-Jährigen sprechen sich gegen die sozialen Angriffe aus. Das Reformprojekt findet im Wesentlichen nur in der Oberschicht und bei jenen Unterstützung, die von einer Reform nichts mehr zu befürchten haben.

Warum riskiert die französische Bourgeoisie eine soziale Revolte?

Trotz dieser überwältigenden Ablehnung und dem überall hochkochenden Volkszorn weigert sich Macron, in irgendeiner Weise gegenüber den Demonstranten nachzugeben und beharrt auf der Erhöhung des Antrittsalters von 62 auf 64 Jahre. Schließlich stehen die Zukunft des französischen Kapitalismus und die Profitmargen der großen Unternehmen auf dem Spiel.

Einerseits soll die Konterreform bedeutsame Einsparungen (natürlich auf Kosten der Arbeiter) ermöglichen, andererseits soll sie die Entwicklung privater Pensionsversicherungen begünstigen, ein potentiell milliardenschwerer Markt für französische Unternehmen. Dass die angeblich notwendigen Einsparungen nur vorgeschobene Argumente sind, kann daran abgelesen werden, dass Macron nahezu zeitgleich zur Pensionsreform angekündigt hat, das Militärbudget massiv auszuweiten. Konkret sind nicht weniger als 400 Milliarden Euro (!) dafür reserviert, die französischen Streitkräfte bis 2030 aufzurüsten und kriegsbereit zu machen. Im Hinblick auf die fortdauernde Auseinandersetzung zwischen dem westlichen und dem russischen Imperialismus in der Ukraine waren sich der französische Verteidigungsminister und Macron selbst nicht zu schade, von der „Notwendigkeit“ einer „Kriegswirtschaft“ zu reden.

Die Strategie der Aktionstage ist gescheitert – Welcher Weg führt nach vorne?

Auch wenn es sich zweifellos um die größte Protestbewegung seit der Pensionsreform 1995 handelt und ein „Hauch von 1968“ in der Luft liegt, scheint all dies Macron nicht besonders zu irritieren. Dies liegt vor allem an der zögerlichen Herangehensweise der Führung der Arbeiterklasse, konkret den Gewerkschaften CGT und CFDT sowie der linksreformistischen Partei La France Insoumise (LFI). So halten die Gewerkschaften nach wie vor an der gescheiterten Praxis fest, auf einzelne Streiktage zu setzen. Es wurde beispielsweise für den 7. März angekündigt, ganz Frankreich „zum Stillstand“ bringen zu wollen, was einem eintägigen Generalstreik gleichkommt. Auch wenn dieser Aktionstag wahrscheinlich den vorläufigen Höhepunkt der Mobilisierung bedeuten wird, wird er dennoch nicht erlauben, die reaktionäre Regierung in die Knie zu zwingen, was nur durch einen unbefristeten Generalstreik möglich wäre.

Bedeutsam für den langfristigen Erfolg von Streikbewegungen in Frankreich wird der Kongress der CGT (die wichtigste Gewerkschaft) Ende März sein, bei welchem die derzeitige Führung von einer linken Opposition («Unité CGT») herausgefordert wird. An ihrer Spitze steht Olivier Mateu, der sich um die Position des Generalsekretärs bewirbt und ein wesentlich radikaleres Programm formuliert hat. Er spricht vom „Bruch mit der kapitalistischen Produktionsweise“ und der „Enteignung der Großbourgeoisie“. Aber auch er stellt reformistische Forderungen (z.B. Begrenzung der Profite großer Konzerne), die nicht mit den erwähnten Enteignungen verknüpft sind. Auch wird die falsche Strategie der Aktionstage, wenn auch in ausgeweiteter Form, beibehalten und nicht offensiv genug für die Demokratisierung der CGT gekämpft. Will die CGT auf Dauer Erfolg haben, wird sie nicht um die Entwicklung eines konsequent revolutionären Programms herumkommen.

Mélenchons Partei La France Insoumise macht ebenfalls diverse Fehler. Sie sollte auf die Gewerkschaften zugehen und gemeinsam mit ihnen den Kampf gegen die Pensionsreform und Macrons Regierung an sich führen, anstatt sich darauf zu beschränken, eigene Demos zu organisieren und ansonsten vor allem den parlamentarischen Weg zu suchen. Das Einbringen von über 13.000 (!) Abänderungsanträgen im Parlament kann zwar die Debatte verzögern, wird Macron ansonsten aber allenfalls ein hämisches Grinsen ins Gesicht zaubern. Die Lösung kann nur in einem unbegrenzten Generalstreik liegen, der zur Zurücknahme der Reform führt und gleichzeitig auch das Potential hätte, die Regierung zu stürzen. Durch einen solchen Erfolg können sich die französischen Arbeiterinnen und Arbeiter ihrer eigenen Macht bewusst werden und das Vertrauen darin erlangen, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.

(Funke Nr. 211/21.02.2023)


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