Seit Präsident Macron die Wiederaufnahme seiner reaktionären Pensionsreform angekündigt hat, steht Frankreich auf dem Kopf. Eine Analyse von Manuel Lins.

Wenngleich Frankreich in seiner Geschichte wie kein anderes Land Schauplatz diverser Revolutionen und Protestbewegungen war, so sticht die derzeitige unter allen Bewegungen der letzten zwanzig bis dreißig Jahre hervor. Die Auseinandersetzung zwischen der Macron-Regierung und der französischen Arbeiterklasse, welche die geplante Erhöhung des Pensionsalters von 62 auf 64 Jahre mit allen Mitteln bekämpft, hat einen Siedepunkt erreicht.

Rückblickend wirken die Bewegungen der letzten Jahre – „Nuit debout“ im Jahr 2016, die „Gelbwesten“ 2018/19 sowie die erste Protestwelle gegen Macrons Pensionsreformen 2020/21 – nur wie ein Vorspiel für die gewaltige Protestbewegung, die Frankreich derzeit erschüttert.

Entgegen allen Beteuerungen bürgerlicher Kommentatoren, die einen Niedergang der Bewegung voraussagten, war der Aktionstag am 7. März, an welchem Frankreich „zum Stillstand“ gebracht werden sollte, ein voller Erfolg. Etwa 3,5 Millionen Demonstrierende beteiligten sich an den landesweit über 300 Kundgebungen, wobei Arbeiter des Energiesektors, Volksschullehrer und Eisenbahner besonders stark am Streik beteiligt waren. Auch wurden alle sieben Ölraffinieren des Landes bestreikt.

Die Arbeiterklasse beginnt, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen

Seit sich die Müllabfuhr-Mitarbeiter der Streikbewegung angeschlossen haben, beginnt sich in Paris der Abfall meterhoch auf den Straßen zu türmen, was jedoch von der Bevölkerung trotz der damit verbundenen Unannehmlichkeiten akzeptiert wird. Teilweise werden die Mitarbeiter der Müllabfuhr sogar als „Helden“ der Streikbewegung gefeiert.

Viele Arbeiter, die sich an den Schaltstellen der Gesellschaft befinden, sind sich ihrer potentiellen Macht bewusst. Ein Elektriker des AKW Tricastin drosselt gemeinsam mit seinen Kollegen seit einigen Wochen absichtlich die Stromproduktion, um gegen Macrons arbeiterfeindliche Politik zu protestieren, wobei er selbständig die Produktion halbieren und so dem Energiekonzern EDF Schäden in Millionenhöhe zufügen kann.

Frankreich wird von einer ganzen Reihe an Krisen heimgesucht. Derzeit leidet Frankreich an einer Winterdürre, da es wochenlang nicht geregnet hat, was Schlimmes für den kommenden Sommer erahnen lässt. Auf außenpolitischer Ebene ist der französische Imperialismus mit zunehmenden Rückschlägen konfrontiert, wobei dies insbesondere die traditionelle Einflusszone im subsaharischen Afrika betrifft. Einige jener Länder, die zur „Françafrique“ gezählt werden, haben offen mit Paris gebrochen und sich mit dem russischen Imperialismus verbündet, was einer öffentlichen Demütigung gleichkommt. Um zu retten, was zu retten ist, kämpfte sich Macron nur wenige Tage vor dem großen Streiktag durch kongolesische Nachtclubs. Diese „Tour d‘Afrique“ wird den Bedeutungsverlust des französischen Imperialismus in der Region jedoch nicht aufhalten können.

Macron wurde 2017 von verschiedenen Kapitalfraktionen und den liberalen Medien zu jenem edlen Ritter auserkoren, welcher Kraft seiner Vernunftbegabung und seines jugendlichen Charmes der „populistischen Welle“ Einhalt gebieten sollte. Diese drohte Marine Le Pen in den Élysée-Palast zu tragen. Von seinem früheren Nimbus ist heute selbst in den bürgerlichen Medien wenig übrig. Macron scheint das Kunststück vollbracht zu haben, ähnlich unpopulär wie sein Vorgänger Hollande zu sein.

In einem Akt der Verzweiflung hat Macron am 16.03. – als klar wurde, dass er keine parlamentarische Mehrheit zustande bringen würde – den Artikel 49.3 aktiviert und das Gesetz so in Kraft gesetzt. Dieser Artikel sieht vor, das Parlament bei der Gesetzesverabschiedung zu umgehen und mittels Präsidialdekret regieren zu können. Die gewählte Vorgangsweise wurde massiv kritisiert und hat noch am gleichen Tag Massenproteste in Paris und anderen Städten hervorgerufen. Die politische Opposition zu Macron – insbesondere La France Insoumise, die linksreformistische Partei Jean-Luc Mélenchons – hat zwei Misstrauensvoten im Parlament eingebracht, von denen einem nur neun Stimmen fehlten, um die Regierung zu stürzen und Neuwahlen herbeizuführen. Nicht weniger als zwei Drittel der Bevölkerung hofften darauf, was die Ablehnung von Macrons Politik klar zum Ausdruck bringt.

Die Frage der Führung

Im Unterschied zu den „Gelbwesten“ verfügt die derzeitige Bewegung über eine klare Führung, was zugleich ihre Stärke und ihre Schwäche darstellt.

Jean-Luc Mélenchon, Chef von La France Insoumise, der wichtigsten linken Oppositionspartei, beschränkt sich vor allem auf die Solidarisierung mit der Bewegung und Manöver innerhalb des parlamentarischen Systems, anstatt die notwendige politische Schlussfolgerung zu argumentieren: den Sturz von Macron.

Aufgrund massiven Drucks der Basis haben sich die französischen Gewerkschaften, insbesondere die CGT und die CFDT, auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt. Die Mobilisierungen werden gut durchgeführt, die Bewegung jedoch durch das Festhalten an der Strategie einzelner Streiktage unnötig geschwächt und ausgebremst. Die Führung der CGT hat Angst, von der Bewegung links überholt zu werden, was in einem an Präsident Macron adressierten offenen Brief gut zum Ausdruck kommt. In diesem Brief warnt die CGT davor, dass die Situation „explosiv“ werden und ihnen entgleiten könnte. Schon jetzt gibt es Differenzierungsprozesse in der CGT mit einer linken Opposition, die durch die derzeitige Bewegung noch verstärkt werden.

Die Gewerkschaftsführung steht von allen Seiten unter Druck und hat offensichtlich ähnlich große Angst vor einer unkontrollierbaren sozialen Explosion wie die Regierung selbst. Trotz des unglaublichen Mobilisierungspotentials der Bewegung ist es nicht ausgeschlossen, dass die Regierung einen Sieg davonträgt. Eine Niederlage wäre keinesfalls Produkt fehlenden Bewusstseins oder mangelnder Kampfbereitschaft der arbeitenden Bevölkerung, sondern nur die Konsequenz der falschen Politik ihrer Führung.

Doch zu Redaktionsschluss stehen die Zeichen weiterhin auf Sturm. In einer Reihe von Städten finden sich tausende zu spontanen Demonstrationen zusammen. Der nächste konkrete Schritt für die Bewegung muss in einem möglichst breiten und unbegrenzten Generalstreik bestehen. Nach dem Rückgriff auf den Artikel 49.3 der Verfassung wird die Auseinandersetzung nur durch entschiedenen Klassenkampf auf der Straße, keinesfalls jedoch durch parlamentarische Manöver und Verhandlungen entschieden werden. Macron hat allen Grund zu zittern: So oder so ist es nur eine Frage der Zeit, bis die revolutionären Traditionen der französischen Arbeiterklasse an die Oberfläche brechen werden.

(Funke Nr. 212/21.3.2023)


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