Am 24. Juni hat der Oberste Gerichtshof (Supreme Court) in den USA den Grundsatzentscheid Roe v. Wade aufgehoben, der seit 1973 das Abtreibungsrecht verfassungsrechtlich schützt. Dies hat eine landesweite Protestbewegung ausgelöst. Martin Halder über die Bewegung und die Perspektive des Klassenkampfs.
Auf der Basis der höchstrichterlichen Entscheidung steht es den Bundesstaaten nun frei, Abtreibungen zu verbieten, Frauen, Ärzte und sogar Begleitpersonen zu kriminalisieren. Einige haben dies bereits gemacht, viele weitere werden in den nächsten Wochen und Monate folgen. Insgesamt soll in mindestens 26 Bundesstaaten die Abtreibung verboten werden. Der Strafrahmen für eine Abtreibung wird dabei etwa in Texas bei 5 bis 99 Jahren Haft liegen.
Millionen Frauen der Arbeiterklasse wird durch diesen Richterspruch die Kontrolle über ihren eigenen Körper und damit ihr Leben entzogen. Die Beendigung einer ungewollten Schwangerschaft bedeutet in Zukunft Kriminalität, unnötiges medizinisches Risiko für die eigene Gesundheit, das Leben und die Reproduktionsfähigkeit sowie hohe Kosten. Eine Demonstrantin erklärte wütend: „Und ich bin hier, um sicherzustellen, dass meine Töchter nicht 50 Jahre in die Zeit zurückversetzt werden, in der Abtreibungen in Hinterhöfen stattfanden.“
Abtreibungsbewegung
Mit dieser Entscheidung versucht der reaktionärste Flügel der herrschenden Klasse, die Unterdrückung der Frauen der Arbeiterklasse zu zementieren. Dies ist auch ein ideologischer Hebel, um die Arbeiterklasse zu spalten und die Macht der christlichen Fundamentalisten in der Gesellschaft zu stärken. Die Damen und Töchter der Bourgeoisie haben dabei noch immer und überall Möglichkeiten vorgefunden, eine ungewollte Schwangerschaft zu beenden, sofern dies im Interesse ihrer Familie lag.
Doch dieser Angriff der Konservativen sorgt jetzt für eine kräftige Gegenreaktion. In den letzten Wochen gab es mehrere nationale Protesttage mit Kundgebungen in jeder größeren Stadt der USA. Zehntausende gingen in vielen Bundesstaaten auf die Straße und sie trugen dabei grüne Halstücher in Anlehnung an die Massenbewegung in Argentinien, die in einem historischen Sieg 2020 eine Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs erreichen konnte.
Der Oberste Gerichtshof hat spätestens mit dieser Entscheidung seinen Ruf des „neutralen“ Schiedsrichters verloren. Das Vertrauen in diese Institution unter der Bevölkerung sank in den letzten Wochen rapide und liegt nun bei 25%. Dass sechs ernannte HöchstrichterInnen einen derart massiven Klassenkampf von oben führen können, ist eine neue Erfahrung für die amerikanische Arbeiterklasse – nicht alle Flügel der Herrschenden sind über diese brutale Offenbarung des Klassencharakters des Staates und seiner Institutionen erfreut.
Die Demokraten und der Klassenkampf
Die Demokraten sind die wichtigste politische Stütze des amerikanischen Kapitalismus. Sie sind gut darin geübt, Protestbewegungen zu vereinnahmen, repräsentieren aber (neben den Republikanern) nur einen der zwei Standbeine der Milliardärs-Klasse.
Joe Biden, der sich selbst oft genug für Verschärfungen bei der Abtreibung eingesetzt hat, stellt sich in Worten auf die Seite der Proteste. Doch seine einzige Lösung ist, bei den nächsten „midterm“-Wahlen im November seine Partei zu wählen („Um Himmelswillen, es gibt eine Wahl im November!“). Dies stößt bei den Demonstranten auf Skepsis, hat die demokratische Partei doch jedes einzige Wahlversprechen von Obama und Biden gebrochen: kein Klimaschutz, keine liberalere Migrationspolitik, kein Ende der Schuldknechtschaft von Studierenden, keine Verteidigung demokratischer Rechte. Die Zustimmung zum Präsidenten ist daher bereits zu seiner Halbzeit niedriger als jene von Trump am Ende seiner Präsidentschaft. Die Desillusionierung mit Biden ist so groß, dass selbst regimetreue Medien die Amtsfähigkeit von Biden offen in Frage stellen. So etwa CNN: „Top-Demokraten beschweren sich, dass der Präsident nicht mit der Dringlichkeit handelt, die der Moment erfordert – oder vielleicht sogar gar nicht dazu in der Lage ist.“
Der Druck, bei den vergangenen Präsidentenwahlen „das geringere Übel“ zu wählen, war nach den Erfahrungen mit Trumps Präsidentschaft so stark wie nie zuvor, jetzt offenbart sich diese Strategie als jene Sackgasse, vor der die US-amerikanischen MarxistInnen die Arbeiterbewegung immer warnten.
Der einzige verlässliche Hebel für das Zurückerkämpfen des Abtreibungsrechts ist die Arbeiterbewegung. Es ist die Verantwortung der größten Dachgewerkschaft, der AFL-CIO, die sich bereits mehrfach gegen die Entscheidung des Obersten Gerichtshof positioniert hat, mit ihren über 12 Millionen Mitgliedern gegen diese reaktionäre Politik zu kämpfen. Es braucht die Methoden der Arbeiterbewegung – Massendemonstrationen und Streiks – um diesen Angriff abzuwehren. Dabei geht es um mehr als nur um das Recht über den eigenen Körper zu bestimmen: Es benötigt ebenfalls den Ausbau des Gesundheits- und Sozialsystems, um dieses Recht kostenlos und sicher wahrnehmen zu können, sowie eine grundlegende Verbesserung der Lebensbedingungen, so dass niemand gezwungen ist, eine Abtreibung durchzuführen.
Die Lehren von NYC: Aufs Ganze gehen
Der Kampf um das Recht auf Abtreibung wird seinen stärksten Verbündeten in den radikalen Arbeitskämpfen und gewerkschaftlichen Organisierungsprozessen finden. Dies zeigt auch der Arbeitskampf bei Amazon, als am 1. April in New York City (NYC) der erste US-Standort gewerkschaftlich organisiert wurde. Erste Organisierungsversuche bei Amazon, wie im Verteilungszentrum Bessemer (Alabama), sind gescheitert, weil die Gewerkschaft nur sanfte bzw. keine Forderungen aufgestellt hat, um bei späteren Verhandlungen genügend „Spielraum“ zu haben. Der Gewerkschaftserfolg in NYC hingegen war möglich, weil die Führung, wie der charismatische Chris Smalls, klare und sinnvolle Forderungen, wie ein 30 US$ Mindeststundenlohn und längere Pausen, formulierte. Dies ist eine wichtige Lehre: Nur mit großen Forderungen und der Bereitschaft, diese durchzufechten, kann der Kampfgeist der KollegInnen geweckt werden.
Revolution am Horizont
Die Krise der bürgerlichen Institutionen, das Misstrauen und die Verachtung gegenüber den bürgerlichen Institutionen, dem Zwei-Parteien-System und selbst den Demokraten sind wichtige Indikatoren für eine herannahende Revolution. 52% der US-Bevölkerung meinen, Wahlen repräsentieren den Volkswillen nur geringfügig bis gar nicht. Dies sind wichtige Erfahrungen, die zeigen, dass die großen sozialen Fragen nicht mit einem einzelnen Gesetz oder einer Wahl gelöst werden, sondern nur mit der Überwindung des gesamten kapitalistischen Systems, und dass die arbeitenden Massen eine eigene Partei benötigen, die bereit ist, diesen Kampf aufzunehmen. „Socialist Revolution“, unsere US-amerikanischen GenossInnen, stehen gegen jede Unterstützung für die Demokraten, sondern für eine unabhängige Massenpartei der Arbeiterklasse als Vorbedingung für den „Sozialismus zu unseren Lebzeiten“.
(Funke Nr. 205/13.7.2022)