In der bürgerlichen Demokratie liefern Wahlen eine zwar unvollständige, aber durchaus erhellende Momentaufnahme der gesellschaftlichen Stimmung zu einem bestimmten Zeitpunkt. Vor dem Hintergrund zunehmender Instabilität und Polarisierung finden dabei an der Wahlurne die gegenläufigen Tendenzen im Massenbewusstsein einen (wenn auch verzerrten) Ausdruck. Eine Analyse der Midterm Elections (Zwischenwahlen zum US-Kongress) von unseren amerikanischen Genossen John Peterson und Tom Trottier vom 11. November.
Dies gilt umso mehr, wenn die Arbeiterklasse in der Defensive ist und keine brauchbare politische Alternative zur Verfügung hat, die einen unabhängigen Klassenstandpunkt vertritt. CNN fasste am Wahltag die Stimmung in der Gesellschaft mit der folgenden Headline zusammen: „Eine deprimierte, von Krisen zermürbte Nation wählt heute.“
Experten auf beiden Seiten des politischen Mainstreams erwarteten sich einen mehr oder weniger typischen Ausgang der Midterms. Angesichts eines unpopulären Amtsinhabers im Weißen Haus und der grassierenden Inflation konnte man mit einer schweren Schlappe für jene Partei rechnen, die gerade an der Macht ist, also für die Demokraten. Eine republikanische „Welle“ schien eine ausgemachte Sache zu sein. Doch das Bild, das sich nach den Wahlen ergibt, ist alles andere als eindeutig. Auch wenn die Republikaner wahrscheinlich die Kontrolle im Abgeordnetenhaus erlangen werden, so ist ihr Sieg doch weit weniger deutlich ausgefallen, als man annehmen hätte können. Im Senat sind die Mehrheitsverhältnisse noch unklar, da in Arizona und Nevada die Entscheidung noch nicht feststeht, und es in Georgia am 6. Dezember eine Stichwahl geben wird.
Nach Jahrzehnten des Reallohnverlusts und stagnierenden Lebensstandards sind Millionen ArbeiterInnen verbittert und das Kleinbürgertum ist zutiefst empört. Beide Großparteien setzen voll auf Identitätspolitik, wobei die eine Seite gegen „Wokeness“ zu Felde zieht, während die andere vor der Gefahr des „Faschismus“ warnt. Mit den Themen Einwanderung, Rassismus, Kriminalität und Abtreibungsrecht wird auf zynische Art und Weise um Stimmen und Geld gebuhlt. Um aus der vorherrschenden Unzufriedenheit in der Gesellschaft Kapital zu schlagen, versuchen sowohl die Liberalen als auch die Konservativen mit ihren Propagandamaschinerien aus dem öffentlich ausgetragenen Kulturkampf WählerInnen zu mobilisieren. Dabei geht es um viel Geld und Macht, was auch erklärt, warum allein in diesem Wahlkampf unvorstellbare $16.7 Mrd. ausgegeben wurden.
Im vergangenen Sommer hat der Oberste Gerichtshof Roe versus Wade, seine Grundsatzentscheidung zum Abtreibungsrecht aus dem Jahre 1973, aufgehoben. Damit ist ein Grundrecht, das seit fast 50 Jahren Gültigkeit hat, in Gefahr. Nachdem die Demokraten jahrzehntelang nichts getan haben, um das Abtreibungsrecht in Form eines Gesetzes zu verbriefen, wagte es Präsident Biden auch noch folgende Stellungnahme abzugeben: „Heuer im Herbst steht Roe zur Wahl,“ als ob die Demokraten nach der Wahl auch nur irgendetwas unternehmen würden, um dieses Recht wieder durchzusetzen. Bei seiner Wahlkampftournee für demokratische Kandidaten setzte Obama noch eins drauf und argumentierte, dass nur seine Partei „für die Freiheit kämpfen wird.“
Auch wenn in der Gesellschaft gegenüber den Demokraten eine zynische Grundhaltung weit verbreitet ist, dürften diese Argumente aber scheinbar doch eine gewisse Wirkung gezeigt haben. Das wachsende Selbstvertrauen des rechtsextremen, offen demokratiefeindlichen Randes unter den Trump-Anhängern, einschließlich der TeilnehmerInnen an der Erstürmung des Kapitols am 6. Januar letzten Jahres löste eine Gegenreaktion aus, die verhinderte, dass das Pendel zu sehr zugunsten der Republikaner ausschlug. Millionen ArbeiterInnen verstehen instinktiv, was eine Neuauflage einer Trump-Präsidentschaft für sie bedeuten würde, und „die andere Partei“ profitierte davon in einem gewissen Maße. Wir sollten nicht den Fehler begehen und glauben, dass die Trump-Bewegung am Ende ist, aber Millionen AmerikanerInnen sind nicht bereit, zuzulassen, dass diese Verrückten, die die GOP („Grand old party“, Bezeichnung für die Republikaner) übernommen haben, das ganze Land regieren.
Bei Midterms ist die Wahlbeteiligung für gewöhnlich verschwindend gering. Die Partei, die den Präsidenten stellt, hat seit den 1930er Jahren mit nur zwei Ausnahmen (1996 und 2002) jedes Mal Sitze im Repräsentantenhaus verloren. In diesen beiden Jahren hatte der Präsident Zustimmungsraten von 60%. In der „roten Welle“ im Jahr 1994 verloren die Demokraten 54 Sitze, und 2010 sogar 63. In “normaleren” Jahren verlor die Partei, die im Weißen Haus residiert, rund 20 Sitze oder etwas mehr bei insgesamt 435 Abgeordneten im Repräsentantenhaus.
Der Ausgang der diesjährigen Midterms entsprach nicht diesem historischen Trend, und einige Staaten verzeichneten für Nichtpräsidentschaftswahlen eine im historischen Vergleich besonders hohe Wahlbeteiligung. Obwohl Biden Zustimmungsraten von nur knapp über 40 Prozent hat, dürften die Demokraten nicht einmal 10 Sitze verlieren. Dies ist vor allem auf die hohe Wahlbeteiligung unter Frauen und jungen WählerInnen zurückzuführen. Diese Wählergruppen versuchten an der Wahlurne für das Abtreibungsrecht und gegen die sogenannten MAGA-Republikaner (MAGA ist die Abkürzung für Trumps Slogan Make America Great Again; Anm.) zu kämpfen. Eine der großen Überraschungen der Wahlnacht war zum Beispiel, dass Lauren Boebert, ein Aushängeschild der MAGA-Republikaner, ihren „sicheren Sitz“ in Colorado verlor.
Der Podcast der New York Times, The Daily, befragte WählerInnen, inwiefern diese Wahlen anders waren als sonst. Ein Befragter antwortete: „Ich bin etwas verzweifelter jetzt, eine Art nervliche Verzweiflung, denn ich habe wirklich das Gefühl, dass sich nichts verändert, verstehen Sie…“. Auf die Frage, was bei diesen Wahlen auf dem Spiel steht, antwortete ein anderer: „Das Leben unserer Kinder.“ Ein junger Wähler meinte: „Als ein junger Mensch möchte ich Veränderung, aber ich bekomme immer nur dieselben alten Politiker… Ich hoffe wirklich, dass ich, bis ich 30 bin, einen Wandel miterleben werde.“
Erste Zahlen deuten darauf hin, dass die Wahlbeteiligung diesmal niedriger war als bei den Midterms 2018, als die Demokraten die Anti-Trump-Stimmung in den Vorstädten für sich nutzen konnten. Der Washington Post zufolge war die Wahlbeteiligung in Pennsylvania im Vergleich zu 2018 um 4% höher. Und in Wisconsin und Michigan gingen sechs von zehn Wahlberechtigten zur Wahl. „Doch in einigen Staaten sank die Wahlbegeisterung weit unter das Niveau von 2018 und glich eher den niedrigen Werten von 2014. In Mississippi und West Virginia nahmen weniger als 35% der Wahlberechtigten an der Wahl teil. In New Jersey und Maryland dürfte die Wahlbeteiligung 10% unter dem Wert von 2018 liegen.“
Und bei den jungen WählerInnen zwischen 18 und 29 Jahren lag die Wahlbeteiligung gar nur bei 27%. Die überwältigende Mehrheit der Jungen war also nicht dazu zu bewegen, ihre Stimme abzugeben. Millionen junge Menschen haben also keine Illusion in die Farce der amerikanischen Demokratie, in der Täuschung und Manipulation Gang und Gäbe sind und in der die beiden großen Parteien von den Superreichen kontrolliert werden. Massive Wahlenthaltung von diesem Ausmaß ist ein Ausdruck für das gewaltige Potential für eine neue Partei, die zum Sprachrohr der Interessen der Mehrheit in der Gesellschaft, der Arbeiterklasse werden kann.
Niemand bietet der Arbeiterklasse eine Lösung
Der Weltkapitalismus befindet sich in einer organischen Krise, in einer Phase des Niedergangs. Der US-Kapitalismus bildet da keine Ausnahme. Selbst zu seinen besten Zeiten erlebt dieses System immer wieder Wirtschaftskrisen. Jede von der herrschenden Klasse implementierte Politik zur Bekämpfung dieser periodischen Krisen wird nur dazu führen, dass die nächste Krise noch heftiger ausfallen wird. Egal ob unter Bush, Obama, Trump oder Biden, alle Regierungen der letzten zwanzig Jahre setzten auf staatliche Rettungspakete und geld- und fiskalpolitische Maßnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft. Doch diese Maßnahmen legten die Basis für einen Anstieg der Inflation, was durch die Folgen der Pandemie und der anarchischen Funktionsweise einer ungeplanten Wirtschaft noch verstärkt wurde. Verzweifelt versuchen sie nun eine Politik umzusetzen, mit der die Teuerung gezügelt werden soll. Doch das wird eine Rezession auslösen, was für die Arbeiterklasse noch massiveres Leid bedeuten wird.
Die Wahlen fanden vor diesem ökonomischen Hintergrund statt, und die Ergebnisse sind insofern zu relativieren, weil es keine Arbeiterpartei gibt, welche die fortgeschrittenen Teile der Klasse repräsentiert. Die Gewerkschaftsführer und die sogenannten „Sozialisten“ im Kongress zeigen keine Perspektive auf, wie die Arbeiterklasse einen eigenen, unabhängigen Klassenstandpunkt entwickeln könnte. Deshalb bleibt die Arbeiterklasse gespalten, und Millionen waren einmal mehr dazu gezwungen, sich zu überlegen, ob sie besser „gegen“ die Demokraten oder „gegen“ die Republikaner stimmen sollten.
Bei der Wahl 2020 gewannen die Demokraten die Präsidentschaft, sie verteidigten ihre Mehrheit im Repräsentantenhaus und eroberten die Kontrolle über den Senat, da Millionen gegen Trump stimmten.
Zwei Jahre lang kontrollierten sie die Exekutive und die Legislative. Was machten sie in dieser Zeit für die Arbeiterklasse? Erhoben sie Roe gegen Wade in den Gesetzesrang? Erhöhten sie den Mindestlohn, oder garantierten sie freien Zugang zu Gesundheit, Bildung und Kinderbetreuung für alle? Natürlich nicht. Unter ihrer Schirmherrschaft nahm die Inflation in nur 12 Monaten um 8,2% zu, während die Löhne nur um 4,7% anstiegen. Das macht unter dem Strich einen Kaufkraftverlust von 3,5% in einem einzigen Jahr.
Und dennoch gab es im Wahlkampf keine nennenswerten Debatten über diese oder andere Themen, die für die Arbeiterklasse zentral sind. Stattdessen schwärzten sich die Parteien für etwas an, was im Kern ein Problem des Kapitalismus an sich ist. Während alle die Stimmen der Arbeiterinnen und Arbeiter wollen, machte keine Partei Anstalten, die Kampagnen zur gewerkschaftlichen Organisierung bei Amazon oder Starbucks zu thematisieren. Niemand unterstützte den Bergarbeiterstreik in Alabama oder bezog sich positiv auf den möglichen Streik der Eisenbahner.
Es gab keine bundesweite Debatte über die Notwendigkeit, die Löhne zu erhöhen, eine gleitende Lohnskala einzuführen oder die Arbeitszeit zu verkürzen. Kein Wort wurde über den Kampf für eine allgemeine Gesundheitsfürsorge, das Recht auf Bildung oder die Notwendigkeit von erschwinglichen Mieten verloren. Die zunehmende Kriminalität war ein viel umstrittenes Thema, doch keine Partei spricht die Tatsache an, dass der Kapitalismus diesem und anderen sozialen Missständen zugrunde liegt. Stattdessen sind merkwürdige persönliche Attacken, Strohmannargumente und Angstmache die Norm.
Aber die Klassenwidersprüche verschwinden nicht einfach, und früher oder später finden sie einen Weg, durch den sie sich entladen können. So stimmten 56% der WählerInnen im traditionell republikanisch geführten Bundesstaat South Dakota für die Ausweitung von Medicaid. Und im „tiefroten“ Nebraska ging eine Abstimmung zur Erhöhung des Mindestlohns 60:40 aus. In Nevada bekam die Idee einer Erhöhung des Mindestlohns ebenfalls eine Mehrheit, und zusätzlich wurde das Prinzip „Gleiches Recht für Alle“ in die Verfassung des Bundesstaates aufgenommen. Eine Anti-Abtreibungsinitiative wurde bei einem Referendum in Mitch McConnel's Heimatstaat Kentucky besiegt, während in Michigan das Recht auf Abtreibung mehrheitlich angenommen wurde.
Umfragen zufolge genießen die Gewerkschaften angesichts der Organisierungsversuche bei Starbucks, Trader Joe’s, Apple und Amazon eine weitreichende Unterstützung in der Gesellschaft. All das zeigt, wie groß das Potenzial für eine sozialistische Arbeiterpartei wäre, die auf Basis der Bedürfnisse der Arbeiterinnen und Arbeiter die Perspektive einer Arbeiterregierung vertritt.
Das Establishment will die Republikaner unter seine Kontrolle bringen
Die US-Verfassung spricht konservativen, ländlichen Regionen mehr Gewicht zu als den Städten, in denen sich die Arbeiterklasse konzentriert. War dieses Prinzip einst ein Faktor, der für gesellschaftliche Stabilität sorgte, erweist es sich nun für die herrschende Klasse als Problem, da eben diese ländlichen Regionen Trumps wichtigste Bollwerke darstellen. Trump und eine kleine Gruppe von Kapitalisten rund um ihn sind de facto abtrünnig geworden. Trump ist zwar selbst ein Bourgeois, doch ihm geht es einzig und allein um seine eigenen egoistischen Interessen. Die Interessen der herrschenden Klasse und des US-Kapitalismus als Ganzes sind ihm völlig egal. Sein extremer Individualismus treibt die Wertvorstellungen des Kapitalismus völlig auf die Spitze.
Als Präsident und nun als Ex-Präsident hat Trump immens zur Instabilität des Systems beigetragen. Jetzt bei den Midterms verfolgte die herrschende Klasse nicht zuletzt das Ziel, einen Block aus Demokraten und traditionellen Republikanern zu bilden, der künftig als Schutzwall gegen die „MAGA-Republikaner“ dienen sollte. Diese Koalition aus Demokraten und dem Establishment verbundenen Republikanern wie Liz Cheney scheint zumindest teilweise auch erfolgreich gewesen zu sein. Gestärkt durch die jüngsten Wahlergebnisse werden sie versuchen, Trump weiter an den Rand zu drängen, denn dieser scheint sich schon auf seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2024 vorzubereiten.
Die Demokraten gewannen die Wahlen 2020 mit einem Anti-Trump-Wahlkampf. Jetzt werden sie aber für die hohe Inflation verantwortlich gemacht, und davon könnte Trump 2024 profitieren. Trump und seine Anhänger sind entschlossen, aggressiv und bereit für ihre düstere Weltvorstellung zu kämpfen, während die Demokraten sehr verhalten und schwach auftreten, ohne viel politischem Talent. Sie mussten sogar Barack Obama aus seinem Ruhestand holen, um die Moral ihrer Wählerschaft zu stärken. Entscheidend ist aber immer noch, dass sie ein System verwalten, welches in der Krise steckt. Deshalb werden sie, egal was sie versprechen, nicht in der Lage sein, Enthusiasmus und Zukunftshoffnung zu wecken.
Die Republikaner wiederum tragen öffentlich einen Konflikt um die Zukunft der Partei aus. Angenommen sie erlangen die Kontrolle über das Repräsentantenhaus, dann wird Trumps Gefolgsmann Kevin McCarthy wahrscheinlich der nächste Sprecher werden. Mit einer winzigen Mehrheit und einer Partei, die zwischen der MAGA-Fraktion, denen, die aus opportunistischen Gründen Trump unterstützen, und einigen wenigen Establishment-Republikanern gespalten ist, wird es sicher nicht einfach, die Kontrolle über den republikanischen Klub zu behalten. Die Tage, als es einen starken, diktatorischen Sprecher des Repräsentantenhauses gab, sind gezählt, denn dafür sind die politischen Rahmenbedingungen mittlerweile viel zu instabil.
Nichtsdestotrotz, wir sollten nicht den Einfluss unterschätzen, den Trump noch immer über die Partei hat. Soziopathen wie Marjorie Taylor Greene (MTG) mögen immer noch Ausnahmen in der Bevölkerung sein, aber mit der sich verschärfenden Krise des Systems haben sich diese Kräfte einen festen Platz in der republikanischen Partei gesichert und wurden zum Sprachrohr der wütenden Parteibasis. Selbst mit einer kleinen Mehrheit, würden die Republikaner den Ton vorgeben, und mit ihrer Basis als Rammbock könnte sich „MTG“ vermutlich einige mächtige Positionen in den Ausschüssen sichern.
Trumpismus ohne Trump?
Die ganze Situation ist ohnedies schon äußerst chaotisch, doch nun kommt ein weiterer Faktor hinzu: Es gibt den Versuch, einen Trumpismus ohne Trump aufzubauen. Federführend dabei ist der Gouverneur des Bundesstaates Florida Ron DeSantis. Er steht für dieselben politischen Inhalte wie Trump („Kulturkampf“ gegen alles Liberale, Kritik am Status quo), will aber die Schwächen, welche den ursprünglichen Trumpismus auszeichnen, überwinden. DeSantis und seine Unterstützer bauen darauf, dass genügend Menschen Trump den Rücken zukehren würden, wenn es einen „sauberen“ und „verlässlicheren“ Vertreter derselben Ideen gäbe. Trumps Ego lässt solch eine Vorstellung natürlich nicht zu, und er hat deswegen mit seinem ehemaligen Verbündeten schon öffentlich gebrochen. Die Bühne ist also frei für eine Schlammschlacht bei den Vorwahlen um den republikanischen Präsidentschaftskandidaten für 2024.
Trotz einiger Erfolge von Trump-nahen Kandidaten gab es doch einige sehr beachtliche Niederlagen wie in Pennsylvania und Pyrrhussiege in Georgia, Arizona und anderswo, was Wasser auf die Mühlen von DeSantis ist. In seiner typischen Manier erklärte der Ex-Präsident: „Ich denke, wenn (Kandidaten, die ich unterstützte) gewinnen, sollte man es mir anrechnen, und falls sie verlieren, sollte man mir nicht die Schuld dafür geben. Wahrscheinlich wird es allerdings genau umgekehrt sein.“ Währenddessen konnte DeSantis seinen Bekanntheitsgrad erhöhen, nachdem er mit 59% der Stimmen wiedergewählt wurde, und das ohne Trumps Unterstützung.
Viele Trump-Anhänger verlassen bereits das sinkende Schiff und schließen sich DeSantis an. Nach den Midterms erklärte Geoff Duncan, der republikanische Vizegouverneur von Georgia, gegenüber CNN: „Es ist unbestritten, dass Donald Trump bei dieser Wahl eine Absage erteilt bekommen hat. (…) Ron DeSantis wird dafür belohnt, dass er bei den Republikanern einen Umdenkprozess angestoßen hat und für solide Führungsqualitäten steht.“
Rupert Murdochs Medienimperium hat ebenfalls mit Trump gebrochen und unterstützt mit seinem mächtigen Propagandaapparat eigene Kandidaten. Die New York Post titelte mit „DeFUTURE“, zusammen mit einem Foto von DeSantis und seiner Familie, wie sie seinen Sieg feierten. Wie der ehemalige Sprecher des Repräsentationshauses Newt Gingrich bei Fox&Friends sagte: „Ich denke, dass Gouverneur DeSantis der große Sieger dieser Nacht ist. Er wird nahezu sicher der Referenzpunkt für all jene bei den Republikanern, die von Trump genug haben.“
Nichtsdestotrotz genießt Trump immer noch die Unterstützung großer Teile der Parteibasis und seiner Spender. Alles hat ein Ablaufdatum und Trump selbst wird irgendwann seinen Einfluss verlieren. Trotzdem darf man ihn nicht einfach abschreiben. Egal ob er gewinnt oder verliert, er kann massiv für Unruhe sorgen. Er würde mit Sicherheit keine Gewissensbisse haben, wenn es darum ginge, seine eigene Partei mit in den Abgrund zu reißen, solange es seiner eigenen Marke nützt.
Das kleinere Übel – oder: Gibt es einen progressiven Flügel der herrschenden Klasse?
Bei den Wahlen 2016 und 2020 wurde Bernie Sanders mit seinem Aufruf zu einer „politischen Revolution gegen die Milliardärsklasse“ sehr populär. Anstatt diese Wahlkämpfe für den Aufbau einer sozialistischen Arbeitermassenpartei zu nutzen, unterstützte er letzten Endes aber Hillary Clinton und Joe Biden. Indem sie sich mit der Rolle eines linken Anhängsels einer inexistenten „progressive Bourgeoisie“ zufriedengaben, spielten Sanders, Alexandra Ocasio-Cortez und die anderen Vertreterinnen des „Squads“ und die DSA alles andere als eine positive Rolle. Sie sind nicht in Opposition zur jetzigen Biden-Administration, sondern unterstützen sie und geben ihr eine linke Flankendeckung. Seit Jahren verfolgen sie diese Strategie, und es drängt sich die Frage auf: Welchen Beitrag haben sie mit ihrer apologetischen Haltung gegenüber dem „kleineren Übel“ zur Stärkung der sozialistischen Bewegung geleistet?
Das kapitalistische System kann der Menschheit keinen Fortschritt mehr garantieren. Das historische Verdienst des Kapitalismus bestand in der Weiterentwicklung der Produktivkräfte, in der Hebung der Arbeitsproduktivität und der Herausbildung eines modernen Proletariats, d.h. der Arbeiterklasse. Nach Jahrhunderten der Ausbeutung und der Unterdrückung wurden dadurch die Grundlagen für den Sozialismus gelegt, der der Ausbeutung und nationalen Konflikten ein für alle Mal ein Ende setzen wird. Das wird die Menschheit in neue Höhen emporheben.
Im Kampf gegen vorkapitalistische Produktionsweisen und den dazu gehörigen Überbau gab es im bürgerlichen Lager auch progressive Kräfte. Lincolns Rolle im Bürgerkrieg und bei der Aufhebung der Sklaverei war mit Sicherheit progressiv. Doch die Tage einer fortschrittlichen Bourgeoisie endeten spätestens mit dem höchsten Stadium des Kapitalismus, dem Imperialismus.
Die vielen Missstände, denen die Arbeiterklasse ausgesetzt ist, sind nicht die Folge der Politik des „reaktionären Flügels“ der bürgerlichen Klasse, sondern Nebenprodukte der grundsätzlichen Widersprüche eines Systems, das in seiner Gesamtheit im Niedergang begriffen ist. Und selbst wenn es so etwas wie einen „progressiven Flügel“ geben würde, könnte dieser nicht die Widersprüche des Systems auflösen, weil es dazu die Beseitigung des Kapitalismus braucht.
Nicht wenige argumentieren, dass es zwar in der Wirtschaftspolitik wenig Unterschied zwischen Republikanern und Demokraten geben mag, dass aber in gesellschaftspolitischen Fragen zwischen den beiden Parteien wichtige Differenzen bestehen. Doch wenn diese Fragen Politikern und der Justiz anvertraut werden, kommt für die Arbeiterklasse unter dem Strich mit Sicherheit nichts Positives raus. Echte SozialistInnen dürfen keine Illusionen in die Demokraten schüren, da diese unfähig sind, die soziale Frage und Fragen der Unterdrückung auf eine sinnvolle Weise zu lösen. Wirkliche Reformen bekommt man nicht durch die Wahl des „kleineren Übels“, sondern als Nebenprodukt großer Klassenkämpfe. Die Geschichte zeigt dies immer wieder.
Oder nehmen wir die Frage der Außenpolitik, die nichts anderes als eine Fortsetzung der Innenpolitik ist und die Durchsetzung der Interessen der herrschenden Klasse garantieren soll. Es kann dabei Differenzen unter den Herrschenden geben, das heißt aber noch lange nicht, dass eine der beiden Seiten eine arbeiterfreundliche Linie vertritt. Wir sehen dies derzeit im Ukrainekrieg oder in den jüngsten Debatten über eine Militärintervention auf Haiti. Die US-amerikanische Arbeiterklasse hat kein Interesse daran, die reaktionäre Rolle des US-Imperialismus zu unterstützen. Wir haben deshalb die Pflicht, die Politik der herrschenden Klasse auf allen Ebenen abzulehnen.
Auch der sogenannte „Progressive Caucus“ der Demokraten, der von der Kongressabgeordneten Jayapal angeführt wird, spielt auf diesem Gebiet eine durch und durch reaktionäre Rolle. Sie unterstützten anfangs Bidens Kriegspolitik ohne Wenn und Aber, und als sie mit der Zeit handzahme Kritik äußerten, verstummten sie sehr schnell wieder, um die „Einheit“ der Partei nicht zu gefährden. Doch die einzige Einheit, die dadurch zur Geltung kommt, ist die Einheit der Kapitalisten gegen die Arbeiterklasse im eigenen Land und die ArbeiterInnen der ganzen Welt.
Die Demokraten werden gestützt auf die Wahlergebnisse der Midterms damit argumentieren, dass sie die einzigen sind, die den Trumpismus stoppen können — auch wenn es gerade ihr politisches Versagen war, das dieses Monster nährte. Die Demokraten haben gerade noch eine Wahlschlappe abwenden können, weil viele Menschen trotz der Enttäuschung über Präsident Biden noch einmal mit zugehaltener Nase sie gewählt haben. Bidens Reaktion nach der Wahl war ein Aufruf zu noch mehr Kompromissen mit den Republikanern, „wo es Sinn macht“, das heißt dort, wo es aus der Sicht der Kapitalinteressen Sinn macht. Darin besteht der eigentliche Charakter der US-Regierung, die nichts als eine „Koalition der Bürgerlichen“ ist. Wie Marx schon vor langer Zeit dargelegt hat, ist die „moderne Staatsgewalt nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet.“
Den Status quo zu erhalten, ist aber alles andere als eine Zukunftsvision, die irgendjemand vor dem Ofen hervorholen wird. Mit einem unpopulären Präsidenten und einem gespaltenen Kongress werden die Demokraten im Vorfeld der Wahlen von 2024 noch ohnmächtiger erscheinen. Die Politik befindet sich wie das ganze System in einer Sackgasse. Das kann nur Demoralisierung auslösen. Doch eine zunehmende Schicht der Bevölkerung, speziell der Jugend, ist offen für die Ideen des Marxismus und sieht im Kommunismus eine Alternative. Das ist der Anknüpfungspunkt für den weiteren Aufbau der International Marxist Tendency (IMT) in der Zukunft.
Die kommenden Kämpfe und der Weg vorwärts
Es gibt keinen einfachen Ausweg aus der weltweiten Krise des Kapitalismus, und in Zukunft wird unser Leben in einem kapitalistischen Amerika sehr turbulent werden. Wie einst Großbritannien waren die USA lange Zeit der Stützpfeiler der weltweiten Stabilität des Kapitalismus, doch dies hat sich nun in sein Gegenteil verkehrt. Auf dieser Grundlage kann es zukünftig für die ArbeiterInnen keine dauerhafte ökonomische, soziale und politische Stabilität oder so etwas wie Sicherheit geben. Das kapitalistische System verlangt Austerität, einschließlich Angriffe auf die sozialen Sicherungssysteme und die öffentliche Gesundheitsversorgung. Die Arbeiterklasse wird keine andere Wahl haben, als in den Betrieben und auf der Straße und in weiterer Folge in Form einer eigenen politischen Massenpartei dagegen anzukämpfen.
Angriffe gegen Minderheiten, MigrantInnen, Frauen und die LGBTQ-Community werden sich häufen. Der Anstieg in den Kriminalitätszahlen wird dafür herangezogen, noch härter gegen die Armen vorzugehen, was eng verknüpft ist mit dem rassistischen Backlash, den wir nach dem vorläufigen Scheitern der Black Lives Matter-Bewegung erleben. Und die sich verschlimmernde Klimakatastrophe wird in zunehmendem Ausmaß die moderne Gesellschaft bedrohen.
Die Krise des US-Kapitalismus wird auch auf der politischen Ebene einen Ausdruck finden, und 2024 verspricht schon jetzt ein sehr bewegtes und turbulentes Jahr zu werden, und zwar unabhängig vom konkreten Wahlausgang. Jetzt nach den Midterms wird de facto der Wahlkampf für die nächsten Präsidentschaftswahlen eröffnet. Und auch wenn die Ergebnisse der Midterms Licht auf einige politische Prozesse werfen, so sind die politischen Gewässer in vielerlei Hinsicht trüber denn je.
Doch eins ist absolut klar: Solange die US-amerikanischen ArbeiterInnen keine eigene Arbeiterpartei aufbauen, wird das demoralisierende Pingpong zwischen dem demokratischen und dem republikanischen Lager weitergehen. Es ist die Aufgabe der MarxistInnen, eine Kraft aufzubauen, die für diese künftige Arbeiterpartei die notwendigen Ideen und ein mutiges revolutionäres Programm entwickelt.
Die Sorge um die Zukunft des Landes ist weit verbreitet, doch wir müssen uns eine Frage konkret stellen: Für welche Art von Zukunft wollen wir kämpfen? Für ein Land, das von einer Handvoll superreicher Schmarotzer dominiert wird? Oder für ein Land, in der die arbeitende Mehrheit die Gesellschaft in demokratischer Art und Weise und im Interesse aller regiert? In letzter Instanz geht es darum, ob der Kapitalismus in der nächsten geschichtlichen Periode bestehen kann oder nicht. Dieses System ist viel zu instabil und voller Widersprüche und kann nicht mehr so weitermachen wie in der Vergangenheit. Das erklärt auch die Spaltung an der Spitze der Gesellschaft und die Polarisierung in der Arbeiterklasse.
Trotz der hohen Wahlenthaltung und der vielen Zweifel gegenüber beiden Seiten haben diese Midterms gezeigt, dass Millionen Menschen mitentscheiden wollen, wie es mit diesem Land weitergehen soll. Der bürgerliche Wahlprozess verstärkt nur die Idee, dass wir als Individuen eine Wirkung entfalten können. In Wirklichkeit liegt die reale Macht aber bei jenen, die über einen unvorstellbaren Reichtum verfügen, während die einzelnen ArbeiterInnen für sich allein keinen Einfluss geltend machen können. Das schaffen wir nur im Kollektiv.
Die Wahlen haben auch gezeigt, dass die Arbeiterklasse allein aufgrund ihrer Masse eine Kraft darstellt, die man nicht vernachlässigen darf. Doch diese Masse muss organisiert werden und braucht einen bewussten politischen Ausdruck. Dann kann sie von nichts und niemandem aufgehalten werden. Nur eine Arbeitermassenpartei und eine Arbeiterregierung können den Massen die Möglichkeit geben, über unser aller Zukunft zu entscheiden. Im Jahr 2021 produzierten die ArbeiterInnen im Durchschnitt pro Kopf rund $208,000 an Gütern und Dienstleistungen, doch der Großteil dieses Reichtums landete in den Taschen der reichsten 10%. Eine Arbeiterregierung würde diesen Reichtum, der durch die Arbeiterklasse produziert wird, hernehmen und ihn zur Befriedigung der Bedürfnisse von uns allen einsetzen.
Ob wir es wollen oder nicht, die revolutionäre Linke ist heute noch nicht stark genug, Massenunterstützung zu bekommen. Wir müssen die Kluft zwischen dem offensichtlichen Potential für eine Arbeiterpartei und den kleinen Kräften des Marxismus überwinden. Wir müssen der Arbeiterklasse die Wahrheit sagen: Es gibt auf einer kapitalistischen Grundlage keine Lösung für unsere Probleme, und die Arbeiterklasse kann nur sich selbst vertrauen. Zum jetzigen Zeitpunkt handelt es sich dabei in erster Linie um einen Kampf der Ideen, doch diese Ideen spiegeln die Erfahrungen der Arbeiterklasse wider, und unsere Ideen werden mit der Zeit mehr und mehr Unterstützung bekommen. Mit einer stärkeren organisierten Präsenz werden wir früher oder später Einfluss auf das reale Geschehen nehmen können.