Gehorsam und kreativ, sich unterordnend aber sich „was trauen“, innovative Köpfe und zahme Arbeitsmaschinen – die Anforderungen unseres Systems an SchülerInnen sind zahlreich und widersprüchlich. Was Bildung ist und wie man sie bekommt ist auch unter den Bürgerlichen ein umstrittenes Thema. Von Yola Kipcak.
Teile des Bürgertums vermitteln nach wie vor die romantische Vorstellung einer humanitären Bildung, die uns angeblich kritisches Denken und kulturelle Raffinesse beschert, oft sind dies die vehementen VerteidigerInnen der Gymnasien gegen die Gesamtschule. Dieses Bildungsideal war niemals für die breite Masse der Bevölkerung gedacht und hängt eng mit dem Begriff des „Bildungsbürgertums“ zusammen. In der Realität ist die Bildungspolitik der Wirtschaft untergeordnet, ein Trend, der sich bei einem schrumpfenden Arbeitsmarkt und in der Krise noch verschärft.
Auf der einen Seite braucht der Kapitalismus brave LohnarbeiterInnen, die gerade gebildet und diszipliniert genug sind, um den Anforderungen der Wirtschaft zu genügen. Nicht umsonst tritt die Industriellenvereinigung für eine Gesamtschule ein, fördern große Betriebe praxisnahe Ausbildungsstätten und will der Wissenschaftsminister Reinhold Mitterlehner mehr Studierende in Fachhochschulen, während die Finanzierung von Universitäten, insbesondere von „Orchideenfächern“, die nicht unmittelbar für Profit verwertbar sind, auf der Strecke bleibt. Andererseits braucht das Kapital auch eine gewisse Zahl an „kreativen Köpfen“, ein mittleres und oberes Management und WissenschaftlerInnen für Forschung u. ä., um im internationalen Wettbewerb mithalten zu können. Diese zwei Bereiche werden immer stärker voneinander getrennt, Kreativität und Kultur werden zunehmend zum Luxus. Zugleich gibt es Einsparungen bei Infrastruktur und Lehrpersonal, eine Ökonomisierung des Curriculums und wachsenden Leistungs- und Zeitdruck auf SchülerInnen.
Das österreichische Bildungssystem
In Österreich gibt es eine traditionell starke Trennung zwischen dem „akademischen” und dem Lebensweg der „ArbeiterInnen”. Durch die frühe Trennung in Haupt- und AHS-SchülerInnen wird die Zukunft für die meisten Kinder bereits im 11. Lebensjahr festgeschrieben. Im Vergleich zu anderen Ländern gibt es in Österreich nur wenige und geringe Schul- und Studiengebühren. Doch allein schon die Zahlen beweisen, dass damit bei Weitem noch nicht alle Probleme gelöst sind. Nur 4,5% der Kinder mit Eltern, die Pflichtschulabschluss haben, erwerben einen Universitätsabschluss, während 40,5% der Akademikerkinder selbst AkademikerInnen werden. Mit knapp 15% hat Österreich die drittniedrigste Akademikerquote aller OECD-Länder. Daran sieht man, dass „höhere” Bildung nach wie vor ein Privileg einer Minderheit ist.
Einer der Gründe dafür ist, dass unser Bildungssystem zeitintensive Vor- und Nachbereitung außerhalb der Schulzeiten erfordert. Ein Viertel der Eltern gibt an, sehr oder ziemlich gestresst zu sein, da Schulaufgaben innerhalb der Familie erledigt werden müssen, was insbesondere für Alleinerziehende und ArbeiterInnen eine teilweise unmöglich zu stemmende Zusatzbelastung ist. Wie ist es bei immer längeren Arbeitszeiten, höherem Arbeitsdruck, Flexibilisierung und sinkenden Reallöhnen möglich, dass sich Eltern mit den Hausaufgaben ihrer Kinder beschäftigen? Auch geben 25% an, externe Nachhilfe in Anspruch nehmen zu müssen. Bei Nachhilfepreisen von bis zu 45 Euro pro Stunde ist das nicht selten eine schulische Existenzfrage: Wer sich keine zusätzlichen Nachhilfestunden leisten kann, wird schnell aussortiert.
Dem wirtschaftlichen Druck zu entkommen, ist insgesamt extrem schwer. Wie viele Eltern können ihre Kinder nicht auf höhere Schulen schicken, weil sie es sich nicht leisten können, dass diese noch viele Jahre länger mitversorgt werden müssen, anstatt „auf eigenen Füßen zu stehen“? Wie viele Kinder von ArbeiterInnen müssen die Schule abbrechen oder verkürzen, um „Geld nach Hause zu bringen“? Wie viele fangen nie zu studieren an oder brechen das Studium ab, weil die Eltern sie nicht oder nicht mehr finanziell unterstützen können?
Deshalb haben auch alle bisherigen Versuche, „höhere“ Bildung für mehr Menschen zugänglich zu machen, die reale Situation nicht grundlegend verändert und können das unter den gegebenen Umständen auch nicht entscheidend. Die Möglichkeit, mittels Abendschule oder Lehre mit Matura Zugang zu Universitäten zu bekommen, wird oft als Königsweg der „Chancengleichheit“ in der „modernen Demokratie“ angeführt. Auch wenn sie zweifellos einen Fortschritt darstellt, sind die verschiedensten Möglichkeiten bei genauerer Betrachtung doch extrem abhängig von der Art der Arbeitsstelle, teilweise abhängig von der Kulanz der ArbeitgeberInnen, kosten- und zeitintensiv. Das bedeutet, dass sie nur für eine kleine Minderheit einen Weg nach vorn bieten können.
Zwischen unterschiedlichen Schultypen und auch Schulen gleichen Typs gibt es enorme Unterschiede, was das Bildungsniveau betrifft. Mit der Einführung der Zentralmatura wird nun „besser“ ausgesiebt. Die hohen Durchfallquoten je nach Schultyp, Ort, usw. zeigen, dass die Ungleichheit nur verdeckt, aber nicht gelöst worden ist.
Die Probleme fangen in Wahrheit schon sehr früh an. Die Familie als erster prägender Ort der Sozialisation legt den Grundstein für unsere zukünftige Entwicklung. Dabei spielt es eine enorme Rolle, wie viel Zeit und Energie Eltern aufwenden können, ihre Kinder schon im frühen Alter zu fördern. Vorlesen, gemeinsames Spielen und ein guter Spracherwerb spielen dabei eine wichtige Rolle.
Als ob das alles nicht schon genug wäre, ist die Art, wie gelernt und unterrichtet wird, nach aktuellen pädagogischen Standards völlig ungeeignet, Menschen in ihren Potenzialen und Fähigkeiten zu stärken. Von der Größe der Schülerklassen über die Anzahl der Lehrpersonen bis hin zur Tatsache, dass Unterricht strikt nach Fächern und Alter getrennt ist, widerspricht unsere Praxis in den Schulen den Erkenntnissen der modernen Pädagogik. Schulformen, die von diesem starren System abweichen, sind in den meisten Fällen nur privat und für viel Geld einer Minderheit zugänglich. Das ist nicht (nur) durch Unfähigkeit der Politik zu erklären: Schule im Kapitalismus soll Selbstbestimmung und kritisches Denken im Keim ersticken. Demokratische Mitbestimmungsrechte der SchülerInnen oder ihrer gewählten SchulsprecherInnen sind de facto nicht vorhanden, doch auch LehrerInnen können den Lehrplan so gut wie nicht beeinflussen.
Bildung für die Wirtschaft
Der Zusammenhang von Wirtschaft und Bildung ist keine Erfindung des Bürgertums, er existierte schon immer in der menschlichen Gesellschaft. Als Menschen sesshaft wurden und begannen, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben, konnten sie erstmals genug produzieren, entstand zum ersten Mal ein Überschuss, der es einer privilegierten Schicht ermöglichte, sich durch die Arbeit anderer ernähren zu lassen und sich so von der Arbeit freizustellen. Diese sich herausbildenden herrschenden Klassen hatten nun die Freiheit, zu philosophieren und die Wissenschaft voranzutreiben. Mit der Entstehung von Klassen entwickelte sich gleichzeitig eine Trennung von Hand- und Kopfarbeit: Nur eine Minderheit genoss das Privileg von Bildung, während diejenigen, die tatsächlich die Produktionsprozesse vollzogen, von den Erkenntnissen weitgehend ausgeschlossen blieben.
Erst mit der Entstehung des Kapitalismus und der damit einsetzenden enormen Entwicklung der Wirtschaft ergab sich auch die Notwendigkeit, nach einer mehr oder minder gebildeten Arbeiterschaft. Vorausblickende Bürgerliche, etwa der klassische Ökonom Adam Smith im 18. Jahrhundert, vertraten die Ansicht, dass eine allgemeine Grundbildung des Volkes positive Effekte auf die Wirtschaft habe. Die allgemeine Schulpflicht fällt zeitlich in den meisten Ländern mit den technischen Entwicklungen der neuen Produktionsweise des Kapitalismus zusammen. Dass die herrschende Klasse den ArbeiterInnen nicht aus reiner Güte Zugang zur Bildung verschafft, zeigt sich deutlich an den vielen Kämpfen, die – insbesondere von Frauen – um dieses Recht geführt werden mussten und immer noch müssen. Immer wieder beweist der Kapitalismus seine Unfähigkeit, eine ausgewogene, pädagogisch wertvolle Bildung für alle Menschen zur Verfügung zu stellen. In Zeiten der Krise fallen Schulen, Kindergärten und Universitäten neben anderen sozialen Errungenschaften als erste dem Sparzwang zum Opfer. In Ländern wie beispielsweise Nigeria, dem Sudan oder Pakistan, wo der Kapitalismus offen seine reaktionäre Rolle zeigt, liegt die Alphabetisierungsrate bei weit unter 50%.
Für SozialistInnen hat die Bildung einen zentralen Stellenwert. Denn um eine klassenlose, demokratische Gesellschaft aufzubauen, in der es keine Ausbeutung gibt, ist es unumgänglich, dass jedeR ArbeiterIn die Fähigkeit hat, kritisch zu denken und die notwendigen Aufgaben einer Gesellschaft zu erfüllen. So stellte die schlechte Bildung im rückständigen Russland nach der Oktoberrevolution 1917 ein großes Problem dar: Um die technischen und administrativen Aufgaben erfüllen zu können, waren die Bolschewiki anfangs in vielen Fällen dazu gezwungen, ExpertInnen und BürokratInnen aus dem alten zaristischen Staat zu Rate zu ziehen. Trotz der enormen Probleme waren viele Reformen im Erziehungs- und Bildungsbereich dem wirtschaftlich viel entwickelteren Westen um Jahrzehnte voraus. Der Kampf richtete sich zu Beginn vor allem gegen die Analphabetenrate von über 70% – eine Erbschaft des Zarenreichs. Aber es wurden auch flächendeckend stark subventionierte Kindertagesstätten und -gärten eingerichtet und reformpädagogische Projekte erprobt, um nur wenige Beispiele zu nennen.
Aber selbst heute noch stehen wir immer wieder vor ähnlichen Problemen. ArbeiterInnen haben in der Regel viel weniger Zeit und Möglichkeit, sich zu bilden. Gleichzeitig wäre es unvergleichlich viel effizienter, wenn die Menschen, die eng mit den Werkzeugen, Techniken und Arbeitsschritten in der Praxis vertraut sind, auch die demokratische Kontrolle über den gesamten Produktionsprozess innehätten. Das große Potenzial von selbstverwalteten Arbeiterbetrieben zeigt sich immer dort, wo ArbeiterInnen nach einer (Streik-)Bewegung die Fabriken übernehmen, so wie das beispielsweise in Lateinamerika mit der Bewegung der besetzten Betriebe oder auch in Griechenland im Zuge der Krise und zur Verhinderung von Betriebsschließungen der Fall war.
Bildung im Sozialismus
Eine der zentralsten Forderungen von Marx und Engels war daher die Aufhebung der Trennung von Hand- und Kopfarbeit, das heißt, sie waren für eine allgemeine, polytechnische Ausbildung. Bereits im Kommunistischen Manifest fordern sie die „öffentliche und unentgeltliche Erziehung aller Kinder” und die „Vereinigung der Erziehung mit der materiellen Produktion”.
Gleichzeitig wäre es enorm wichtig, dass SchülerInnen und LehrerInnen die Möglichkeit bekommen, das Bildungssystem mitzugestalten. Dazu braucht es demokratische Strukturen, die auch wirklich Entscheidungen treffen können. Es braucht ein Bildungssystem, in dem sich die Menschen tatsächlich selbst verwirklichen und ihre Potenziale entfalten können. Dass dies möglich ist, zeigen bereits heute Projekte wie „Summerhill“, eine der ältesten demokratischen Schulen, in der SchülerInnen und LehrerInnen wichtige Fragen des Schulalltags gleichberechtigt regeln. Doch wie alle „Freiräume“ im Kapitalismus bleiben solche Experimente in der heutigen Gesellschaft isolierte Randphänomene.
Um solche Schulen für alle möglich zu machen, benötigt es natürlich ein ausreichend finanziertes Bildungssystem, in dem nicht ständig versucht wird, alles effizienter, billiger und schneller zu gestalten. Schon das wird innerhalb eines Kapitalismus in der Krise zu einer Utopie. Darüber hinaus ist ein Bildungssystem, das die tatsächlichen Fähigkeiten aller Menschen zur Geltung bringt, im jetzigen Gesellschaftssystem völlig undenkbar. Kein Mensch wird einfach nur dumm geboren, natürlich gibt es Unterschiede dahingehend, wie schnell oder gerne jemand lernt oder welche Interessen man hat. Aber das momentane System schürt lediglich den Hass auf Schule und Lernen und weckt weder Interesse an Neuem noch motiviert es uns zu lernen. Was es aber braucht, ist eine Förderung der freien Entwicklung des Individuums und all seiner Potenziale. Diese individuelle Entwicklung steht dabei auch nicht im Widerspruch zur Gesellschaft, ganz im Gegenteil. Denn nur die demokratische gesellschaftliche Planung, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, ist dazu fähig, optimal auf die individuellen Bedürfnisse einzugehen.