Wirtschaft. Es gab im letzten Jahr eine scharfe Wendung in der Wirtschaftspolitik der Regierungen. Alessandro Giardiello analysiert diese Veränderung, erklärt, welche Rolle Inflation und Schulden spielen – und warum all das Ausdruck der Ausweglosigkeit des Kapitalismus ist.
Der Ausbruch der Pandemie verschärfte die 2008 begonnene Überproduktionskrise weiter, sodass die Widersprüche des kapitalistischen Systems in aller Deutlichkeit zu Tage treten. In Folge veränderte sich die Politik der herrschenden Klasse in den wichtigsten imperialistischen Staaten deutlich. Die Sparpolitik der letzten Jahre wurde vorübergehend beiseite geschoben. Ihre Fortführung wäre unter den derzeitigen Bedingungen wirtschaftlich und politisch untragbar gewesen.
Über Nacht hat die Bourgeoisie das Werkzeug der Staatsausgaben wieder für sich entdeckt. Unmengen öffentlichen Geldes stützen das wacklige kapitalistische System, dessen parasitärer Charakter entlarvt wird wie nie zuvor. Der Kapitalismus heute zeichnet ein Bild unerträglicher Ungerechtigkeit, in Verbindung mit eklatanter Ineffizienz in Produktion und Verteilung.
Die sogenannten „Wirtschaftsexperten” sind nicht nur bestürzt, sie stochern im wahrsten Sinne des Wortes im Dunkeln, wie die zuletzt getroffenen internationalen Entscheidungen bezeugen.
Die Tiefe der Krise bedeutet, dass alle Zurückhaltung, die der herrschenden Klasse einst den Anschein von Rationalität verlieh, wie weggeblasen ist. Wir befinden uns in einer neuen Phase der Tricks und Illusionen. Die „Lösungen”, die heute vorgeschlagen werden, sind zunehmend absurd und entspringen dem Reich der Fantasie, nicht der Wirklichkeit.
Bidens Plan
Bidens Maßnahmenpaket ist ein offenkundiges Beispiel davon. Es ist der erste Versuch seit mindestens vierzig Jahren, keynesianische Politik im großen Maßstab anzuwenden. Es ist eine Sache, wie in den vergangenen zehn Jahren finanzielle Hebel und das so genannte Quantitative Easing von den Zentralbanken zu nutzen, um billiges Geld in die Wirtschaft zu pumpen. Es ist jedoch eine völlig andere Sache, wenn dieses Geld verwendet wird, um gewisse Zugeständnisse an die Arbeiterklasse und das Kleinbürgertum zu machen, so wie es in Bidens Plan vorgesehen ist.
Es ist völlig klar, dass diese Maßnahmen nur vorübergehend sein können, auf lange Sicht sind sie völlig untragbar. Es ist auch anzuzweifeln, ob sie überhaupt vollständig realisierbar sind, insbesondere jene Abschnitte, die die Umverteilung von Vermögen vorsehen. Nichtsdestotrotz hat bereits die alleinige Ankündigung tiefgreifende politische Auswirkungen.
Treten wir jetzt in eine neue Ära des Reformismus und sozialen Friedens, wie nach dem zweiten Weltkrieg, ein?
Das ist nicht einmal ansatzweise der Fall. Die heutige Situation ist mit der damaligen nicht zu vergleichen. Der Krieg, der direkt Produktivkräfte und Überschusskapital vernichtet hat, konnte eine Epoche der kapitalistischen Stagnation beenden und legte die Bedingungen für einen neuen Expansionszyklus.
Heute ist das Gegenteil der Fall: Das massive Eingreifen des Staats wird die Probleme des fiktiven Kapitals [Kapital, das nicht durch reale Werte gedeckt ist] und der ungenutzten Produktionskapazitäten nur weiter verschärfen. Wir stehen nicht vor einer Boom-Phase, sondern einer zyklischen Erholung, die nur die logische und natürliche Konsequenz eines solchen Zusammenbruchs der Produktion, wie ihn die Pandemie ausgelöst hat, ist.
Foto: Gage Skidmore, wikicommons
Kommunistische und sozialistische AktivistInnen dürfen sich keinesfalls von den Auswirkungen, die diese Politik auf die BürokratInnen der Arbeiterbewegung und die Bevölkerung in den USA wie international hat, täuschen lassen.
Lula - der wahrscheinlich der Kandidat der PT (der brasilianischen Arbeiterpartei) in der nächsten Präsidentschaftswahl sein wird - bezeichnete Bidens Pläne als eine „Welle der Demokratie für die Welt”. Die Republikaner in den USA gehen sogar noch weiter. Sie bezeichnen die Pläne als „Wandel zum Sozialismus”. Biden selbst nannte seinen Vorschlag einen „Arbeitsplan für die Arbeiter zum Aufbau Amerikas”. Die Wahrheit sieht natürlich anders aus.
Im Angesicht eines nie dagewesenen Booms in der Nachkriegszeit keynesianische Politik zu verfolgen, war eine Sache. Es ist eine völlig andere, jetzt die Geldhähne zu öffnen, in einer Zeit, in der der Schuldenstand der USA explodiert. In den vier Jahren von Trumps Präsidentschaft stieg das Budget-Defizit um 7 Billionen USD an und erreicht damit 21,6 Billionen USD - mehr als 100% des BIP. Der öffentliche Schuldenstand ist jetzt mit Ländern wie Griechenland oder Italien vergleichbar.
Weiters steht die globale Verschuldung (dh. Haushalts-, Unternehmens- und Staatsverschuldung zusammen) gegenwärtig bei 350% des weltweiten BIP. Sogar Länder wie China, deren Wirtschaft oberflächlich robust erscheint, haben in wenigen Jahren so hohe Schuldenberge angehäuft, wie die historischen imperialistischen Länder in dreißig Jahren.
Diese Politik ist bestimmt von Verzweiflung. Dennoch hat sie eine eigene Logik. Trotz des Versuchs der herrschenden Klasse, die Widersprüche des kapitalistischen Systems zu umschiffen, werden diese mittel- und langfristig weiter verschärft. Die Auswirkungen haben das Potenzial, tatsächlich unkontrollierbar zu werden.
Ist die Inflation zurück?
Die ernsthaftesten Vertreter der herrschenden Klasse beginnen das zu begreifen. Michael Burry, der 2007 den Kollaps am Immobilienmarkt vorhersagte (und dabei einen beträchtlichen Gewinn einstrich), behauptet heute, es braue sich eine „Hyperinflation in Weimarer Manier” zusammen.
Während Burry zur Übertreibung neigt, ist es dennoch bemerkenswert, dass auch andere Vertreter der herrschenden Klasse ähnlich denken. Michael Hartnett, Chef-Investmentstratege der Bank of America, brachte kürzlich seine Bedenken über die „Geldflut in die USA, die Bilanzierung von Rücklagen, das Pandemie-Konjunkturpaket und die monatlichen Ankäufe der Fed” zum Ausdruck.
Hartnett kommt zum selben Schluss wie Burry und beschreibt die Situation damals in der deutschen Weimarer Republik als „das epischste, extremste Beispiel von rasender Geschwindigkeit und Inflation wegen dem Ende der Kriegspsychologie, der angestauten Ersparnisse und dem fehlenden Vertrauen in die Währung sowie in die Behörden.”
Um Panik am Markt zu vermeiden, spielte Bidens Finanzministerin Janet Yellen das Problem Anfang Mai herunter: „Es könnte sein, dass die Zinsraten geringfügig ansteigen müssen, um sicherzustellen, dass unsere Wirtschaft nicht überhitzt.” Nur wenige Stunden später widersprach sie sich selbst mit der Aussage sie „sehe kein Inflationsproblem”.
Andere Wirtschaftsanalysten eilten zu Yellens Verteidigung. Im Lichte der steigenden Inflationsindizes in den USA für März, April und Mai (respektive +2.6%, +4.2% and +5%), die von allen nationalen Indikatoren, allen voran Deutschland, bestätigt werden, wird die Debatte jedoch immer nervöser.
Tatsächlich hat die Fed (US-Zentralbank) ihre Haltung zur Inflation bereits angepasst. Das Mantra der vergangenen Jahre, die Inflation unter 2% zu halten, wurde aufgegeben und die Fed erwartet nun, dass eine „etwas” höhere Inflation akzeptiert werden müsse.
Gleichzeitig will Powell, der Präsident der Fed, die Zinsraten niedrig halten und kauft weiterhin „Ramsch”-Anleihen im Wert von 120 Mrd. USD monatlich. Das wird die Inflation weiter befeuern, mit dem ernsthaften Risiko, dass die Fed erst dann auf die Preissteigerungen reagieren wird, wenn die Situation bereits außer Kontrolle ist.
Bidens Maßnahmenpaket, das aus 2 Bio. USD Wirtschaftshilfen gegen den Lockdown, 2,2 Bio. USD für Infrastruktur und 1,8 Bio. für Familien besteht, wird auf dem Papier zusätzlich 6 Bio. USD in Umlauf bringen. Das ist siebenmal so viel, wie die Erholungsmaßnahmen der Europäischen Union vorsehen. Das alles wird verstärkt durch die Freisetzung der „angestauten” Nachfrage in Folge der COVID-19-Lockdowns. [Wenn viele Leute ihr angespartes Geld ausgeben, steigt die Nachfrage, wodurch die Produktpreise in die Höhe gehen.]
Amerikaner, traditionell keine fleißigen Sparer, haben im vergangenen Jahr insgesamt 1,8 Billionen USD angespart und mit der Lockerung der COVID-Maßnahmen kommen zusätzliche 8 Billionen USD in die Wirtschaft. In Europa ist ein ähnliches Phänomen zu beobachten. Die Haushaltsverschuldung in Italien fiel von 29% im Jahr 1980 auf nur mehr 8% 2019. Im vergangen Jahr jedoch sprang sie zurück auf 15%. All das wird zweifellos eine Inflationsspirale in Gang setzen. Wie stark sie sein wird, hängt von vielen Faktoren ab und kann nicht genau vorhergesagt werden - auf jeden Fall aber wird sie signifikant sein.
Aufgrund der Zulieferstörungen wegen der Pandemie steigen auch die Güterpreise. Der Bloomberg Rohstoffindex stieg von 60,24 Ende April 2020 auf 90,36 Ende April 2021. Der Mangel an mineralischen Rohstoffen wird verstärkt, weil verschiedene Länder, darunter China, diese horten, um ihre Produktion vor zukünftiger Angebotsknappheit zu schützen. Dazu kommt noch ein Mangel an Halbleitermaterialien.
Die protektionistische Politik der USA endete nicht mit Trumps Präsidentschaft. Im Gegenteil nimmt sie sogar an Fahrt auf, mit Zollerhöhungen auf der ganzen Welt, wobei der Hauptkonflikt mit China besteht. Doch überall stürzen Lockdowns, Konflikte zwischen Staaten und Zollgebühren den Welthandel in die Krise, ein Trend der mindestens schon seit 2009 besteht. Die sogenannte Globalisierung ist nichts als eine blasse Erinnerung aus der Vergangenheit.
Die Rückkehr des Nationalstaats
Wie Lenin schon im „Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ vorhergesehen hatte, gibt es unter solchen Bedingungen eine allgemeine Tendenz zur Stärkung der wirtschaftlichen Rolle, die der Nationalstaat spielt. Dies zeigt wieder einmal die Hohlheit der Neo-Kautskyanischen Ideen, die bei einigen Reformisten und Post-Operaisten, wie Negri-Hardt, in den Jahren der „Globalisierung“ Anklang gefunden haben[1].
Der imperialistische Hauptkonflikt verläuft zwischen den USA und China. Die Europäische Union ist eine drittklassige Macht, die versucht, zwischen den Hauptgegnern zu balancieren. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird sie dabei jedoch nur zwischen ihnen zerquetscht werden.
Foto: US Dpt. of Agriculture, public domain
Dieser Konflikt ist teilweise verantwortlich für die Tendenz der Machtzentralisierung innerhalb der Staaten. Der „Economist“ erklärt, dass „die Beziehung zwischen den Zentralbanken und Finanzministern während der Pandemie besonders innig geworden ist“ und dass die Unabhängigkeit der Zentralbanken in vielen Teilen der Welt zurückgegangen ist. Die Staatsapparate rückten enger zusammen, zentralisierten Entscheidungen und planten ihre Politik – wie es in der Geschichte in allen für den Kapitalismus kritischen Phasen passiert ist.
Diese relativ neuen Phänomene vermischen sich mit anderen, langfristigen. In den letzten Jahren gab es große Verwunderung, warum die Politik des Quantitative Easing – mit der die Geldmenge extrem erhöht wurde – nicht zu Inflation geführt hat.
Entgegenwirkende Faktoren, die in der Vergangenheit die Preise niedrig gehalten haben, waren neben dem Wachstum des Welthandels zum Beispiel neue Technologien (Internet, Kybernetik, künstliche Intelligenz etc.) und die Ausbeutung von billigen Arbeitskräften in Ländern der sogenannten „Dritten Welt“. Nachdem diese Faktoren für 30 Jahre eine wichtige Rolle gespielt haben, ist ihre Wirkung in letzter Zeit jedoch aufgebraucht. Die Einführung neuer Technologien hat zu einer bedeutsamen Reduktion der Produktionskosten geführt, aber dieser Weg ist ausgeschöpft.
Der Lohnanstieg in Ländern wie Brasilien, China oder der Türkei hat dazu geführt, dass ein Arbeiter in Sao Paulo oder Guandong nicht signifikant weniger verdient als etwa ein Arbeiter in den süditalienischen Fiat-Werken (Pomigliano oder Melfi), oder ein Arbeiter in Griechenland, Portugal oder Spanien.
Es ist kein Zufall, dass alle Statistiken auf einen Trend des „Reshoring“ hindeuten, also eine Rückkehr der Produktion in die kapitalistischen Länder ihres Ursprungs. Diese Tendenz behauptet sich einerseits spontan durch die strategischen Entscheidungen der multinationalen Konzerne, wird aber auch durch protektionistische Maßnahmen von Trump und anderen imperialistischen Regierungen bestärkt.
In jedem Fall bedeutete die Quantitative-Easing-Politik nach der 2008er Krise eine Ausdehnung des Kredits bei gleichzeitigen Sparmaßnahmen. Das ist heute anders. Die alte Politik war hauptsächlich auf die Rettung des Kapitals ausgerichtet. Das Geld wurde zur Rettung von Banken, Versicherungen und Unternehmen kurz vorm Bankrott verwendet. Ansonsten wurde das Geld in den Aktienmarkt und in Immobilienspekulation gesteckt. Wichtig festzuhalten ist jedoch, dass es nicht für eine signifikante Ausweitung des Massenkonsums verwendet wurde.
Die Ausweitung des Kredits führte zu einer Art „Aktienmarkt-Aufblähung“. Das heißt, dass es ein abnormales Wachstum von Spekulationsblasen gab, bei dem Werte von Aktien und Immobilien völlig von der Realwirtschaft losgelöst wurden. Doch die Konsumentenpreise wurden nicht bedeutsam beeinflusst. Sie wurden durch die Rezession und die Sparpolitik niedrig gehalten.
Heute haben wir eine andere Situation. Der kombinierte Effekt von all den neuen Trends bedeutet, dass eine Inflation näher rückt und es stellt sich eine Reihe von extrem wichtigen Fragen – Fragen, die auch in den hohen Kreisen der herrschenden Klasse diskutiert werden.
Was würde passieren, wenn die Inflation die Gewinne von Regierungsanleihen überträfe? Vor allem: Was würde passieren, wenn die Zentralbanken die Zinsen anheben und aufhören würden, Ramschanleihen vom Markt aufzukaufen?
Diese Diskussion startete am 23. März 2020, als die Märkte aufhörten, sich um Deflation zu sorgen und bemerkten, dass die Inflation in Schwung kommt. An jenem Tag versprach die Fed unbegrenzte Geldhilfen sowohl für Konsumenten als auch für Unternehmen bereitzustellen und der Dollar verlor an Wert.
Überall Schulden
Das Problem mit faulen Krediten wird wieder akut. Obwohl es in der Periode zwischen 2015 und 2019 teilweise zurückgegangen war, drängt es sich jetzt umso machtvoller auf und zwar nicht nur in den USA, sondern auch in Europa. Wir stehen am Beginn einer neuen Periode der Kreditknappheit, und das zu einer Zeit, in der internationale Banken ein gefährliches Schuldenniveau haben.
Das betrifft u.a. die Deutsche Bank, Société Generale, Credit Agricole, ganz zu schweigen von den italienischen Banken, die (zumindest in der EU) zu jenen im schlechtesten Zustand zählen.
In Wahrheit sind die Handelsbanken weltweit schwer verschuldet. Eine Krise des Bankensystems wäre heute weitaus ernster als die Lehman Brothers Krise von 2008-2009. Sie wäre der Startschuss für eine weitergehende Finanzmarktkrise. Das wiederum würde zu einer zunehmenden Entwertung der Dollar-Kaufkraft führen, deren Stabilität jedoch wichtig für das Vertrauen des Marktes in die Fähigkeit der USA, ihr Budgetdefizit zu finanzieren, ist. Zudem bestimmt das Schicksal des Dollars auch die Zukunft all jener Währungen, die an ihn gekoppelt sind.
In der EU übt die „Inflationspanik“ wachsenden Druck auf die EZB aus, wieder weniger großzügig zu Italien und Spanien zu sein. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung appellierte an die EZB, ihr „barmherziges Samariter-Syndrom“ beiseitezulegen, d.h. sie solle ihren Wiederaufbaufonds und die massiven Hilfspakete, die die EU in den letzten Jahren über Wasser gehalten haben, beenden.
Doch diese Meinung wird kaum Gehör finden. Denn die Umsetzung dieser Forderungen würde unausweichlich zu einem Bruch und der Auflösung der EU führen – ein Risiko, das die deutsche Bourgeoisie noch nicht bereit ist, einzugehen, insbesondere, weil sie die EU als Schutzschild gegen die Gefahr des chinesischen Kapitals benötigt.
Die Wirtschaftspolitik Europas geht in die entgegengesetzte Richtung. Es wird von der Finanzierung von Infrastrukturprojekten geredet, von groß angelegter Unterstützung für erneuerbare Energie und die „grüne Wirtschaft“, und sogar vom Drucken von Geld, das dann (wie bei Biden) direkt an die Bürger überwiesen werden soll.
Das würde weit über Keynes hinausgehen. Keynesianismus bedeutet, dass der Staat massive Schulden ansammelt, indem er Anleihen aufkauft. Was heute jedoch diskutiert wird, ist ein qualitativer Sprung darüber hinaus: nämlich die verrückten Vorschläge der „Modern Monetary Theory“ (MMT) – d.h. das unbegrenzte Drucken von Geld.
Bei aller Verrücktheit hat diese Politik jedoch Methode. Ein Anstieg der Inflation und der Preise würde nämlich die öffentlichen Schulden entwerten. Inflation war auch das Mittel, mit dem die Bourgeoisie effektiv Lohnerhöhungen, die von den Arbeitern in den 1970er und -80er Jahren erkämpft wurden, entwertet hat. Es ist ein Instrument, das sie in der Vergangenheit genutzt haben und wahrscheinlich abermals einsetzen wollen.
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Der „Economist“ widmete ein Titelblatt seiner Wochenzeitung diesem Thema und erklärte, dass Regierungen und Zentralbanken Inflation immer mehr tolerieren. In Wahrheit tolerieren sie sie nicht nur: sie beginnen die Inflation sogar als die Lösung all ihrer Probleme zu sehen.
Es lohnt sich, einen Blick auf die MMT zu werfen, die stolze AnhängerInnen in- und außerhalb der USA hat. Stephanie Kelton ist eine der führenden Exponentinnen dieser Theorie und ehemalige Wirtschaftsberaterin von Bernie Sanders. Heute besetzt sie den Posten der Chefökonomin im Budgetkomitee der Demokratischen Minderheit im US-Senat. Sie führt die Wirtschafts-Task-Force von Biden an.
MMT ist in den Augen der Reformisten weltweit ausgesprochen attraktiv. Sie scheint eine theoretische Rechtfertigung für deren Ideen liefern, wonach man Staatsausgaben finanziert, indem die Zentralbanken frisches Geld herausgeben. Außerdem wirbt diese Theorie für die Idee, dass das Staatsschulden-Problem gelöst werden kann, indem man noch mehr öffentliche Gelder für Infrastrukturprojekte, Joberschaffung und Industrie ausgibt.
Doch wie Marx erklärte, muss Geld eine materielle Basis in Form von Waren- und Produktaustausch haben. Regierungen und Zentralbanken können eine Überproduktionskrise nicht umgehen, indem sie die Geldzufuhr erhöhen. Nach Marx ist Geld Ausdruck von Werten und daher auch von Mehrwert. Geld repräsentiert gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, die für Produktion verausgabt wird. Ein Staat kann sich auf eine gemeinsame Währung einigen und diese rechtsgültig machen. Doch er kann Geld nicht aus der Luft zaubern.
Fakt ist, dass das „Quantitative Easing“ die Bilanzen der Zentralbanken zwar massiv aufgeblasen hat, doch es haben sich weder die Kreditvergabe der Banken, noch das reale BIP (d.h. die Summe aller Güter, Waren und Dienstleistungen) erhöht.
Wenn die Kreditwürdigkeit eines Staates ernsthaft in Frage gestellt wird, brechen die Werte von nationalen Währungen tendenziell ein. Es gibt dann eine höhere Nachfrage nach realen Werten, üblicherweise Gold. In den letzten Jahren ist der Preis von Gold auch wirklich in die Höhe geschossen.
Die herrschende Klasse glaubt, dass sie die schlimmste Überproduktionskrise in der Geschichte des Kapitalismus mit „Zirkulationskunststücken “, wie Marx es nannte, umgehen kann.
Die Tatsache, dass einer komplett irrationalen Theorie wie MMT das Privileg zukommt, die wirtschaftlichen Entscheidungen der wichtigsten imperialistischen Macht der Welt nicht nur zu beeinflussen, sondern sogar zu bestimmen, ist wahrlich ein neuer qualitativer Sprung in der Krise des kapitalistischen Systems!
Von den USA in den Rest der Welt
Das Problem beschränkt sich jedoch nicht nur auf die USA. Das Beschriebene ist heute ein weltweiter Trend. Der ehemalige Vize-Präsident der Bank of Japan (BOJ), Kikuo Iwata, argumentierte kürzlich dafür, dass Japan seine Staatsausgaben erhöhen müsse, indem die Zentralbank-finanzierten Staatsschulden erhöht werden. Schon vor der Pandemie befand sich Japan in einer langen Stagnation. Das BIP-Wachstum seit den 1980er Jahren betrug durchschnittlich 1-2%.
Iwata war der ursprüngliche Architekt des massiven BOJ Anleihen-Kaufprogramms, das „Quantitatives und qualitatives Easing“ (QQE) genannt wurde. QQE sollte die Wirtschaft durch massive Geldspritzen ankurbeln. Doch obwohl die japanische Regierung dafür steigende Budgetdefizite in Kauf nahm (heute betragen die öffentlichen Schulden 253% des BIP), hat das nicht zu einer Wiederbelebung des Wirtschaftswachstums geführt und auch nicht zu höheren Realeinkommen der Haushalte.
Laut Iwata liegt die Antwort auf Japans Langzeit-Stagnation in der Weiterführung von Defiziten und Regierungsausgaben – aber diesmal, indem man einfach Geld druckt, statt Anleihen zu vergeben:
„Fiskal- und Geldpolitik müssen zusammenarbeiten, sodass mehr Geld für Fiskalmaßnahmen ausgegeben wird, und die Geldsumme, die in die Wirtschaft fließt, insgesamt erhöht wird […] Wir brauchen einen Mechanismus, mit dem Geld direkt und dauerhaft in die Wirtschaft fließt. […] Die Anleihenkäufe der BOJ funktionieren einfach nicht, weil die Banken das Geld in Einlagen und Reserven horten und es nicht verleihen. Man muss sie umgehen.“
Dieser Vorschlag von „Helikoptergeld“ [das quasi vom Helikopter direkt abgeworfen wird] wird als Lösung für niedriges Wachstum gesehen und basiert auf der Idee, dass die Nachfrage einfach dadurch angekurbelt werden kann, indem man mehr Geld druckt. Exakt das ist auch die Annahme der MMT. Selbst Mario Draghi zollte dieser Politik 2016 Respekt, als er noch Präsident der EZB war.
Dann gibt es auch noch den Staatskapitalismus in China, der es der Regierung in Beijing erlaubt, die eigenen Unternehmen (öffentlich wie private) mit extremer Entschlossenheit zu unterstützen.
Das ist ein Trend, der sich im Kapitalismus auf der ganzen Welt entwickelt. Es wird das Versuchsfeld sein, auf dem in der kommenden Periode soziale Konflikte ausgetragen werden.
Intensivierung des Klassenkampfes
Bewegungen mit revolutionärem Charakter, wie jene in Palästina, Myanmar, Kolumbien und anderen Ländern, werden in der nächsten Periode auch in entwickelten kapitalistischen Ländern auftreten. Die Arbeiterklasse, die ihre Kampfbereitschaft gezeigt hat, wird wieder in die Offensive gehen. Erinnern wir uns nur an den März und April 2020, in der härtesten Periode der Pandemie, als wir wichtige Mobilisierungen in Italien, Spanien, Frankreich, den USA und Kanada sahen.
Die Situation unterscheidet sich stark von 2008 und 2009. Die Arbeiter wurden damals von der Krise und der unerwarteten Umstrukturierung der Wirtschaft, die darauf folgte, überrumpelt. Das trug zur Lähmung der Arbeiterbewegung bei und drückte sie für einige Jahre nach unten.
Nachdem der erste Schock der Krise überwunden war, ist die Arbeiterklasse heute selbstbewusster, dass Kämpfe reale Resultate bringen können und ist auch bereiter, sich auf solche einzulassen. Die Wiedereröffnung der Wirtschaft wird diesen Prozess bestärken, genauso wie die gesammelten Erfahrungen während der Pandemie, in der die Rolle der „systemerhaltenden“ ArbeiterInnen in der Gesellschaft deutlich aufgezeigt wurde – insbesondere in den Bereichen Gesundheit, öffentlicher Verkehr, Handel und Industrie.
Die Arbeiter haben im Kampf gegen COVID-19 einen sehr hohen Preis – in Todeszahlen und Opfern – bezahlt. Sie sind sich heute ihrer Rolle als Klasse in der Gesellschaft weit bewusster. Das wird für die Entwicklung von Klassenbewusstsein entscheidend sein.
Natürlich spielen die Gewerkschaftsbürokratien eine verräterische Rolle, indem sie Arbeitskämpfe behindern und in den letzten Jahren sogar noch weiter nach rechts gegangen sind. Doch das ist ein relatives Hindernis, da ihre Fähigkeit, die Arbeiterbewegung zu kontrollieren, durch ihre gesunkene Autorität begrenzt ist. Ihr Ansehen war noch nie so niedrig wie heute.
Die Bourgeoisie wird versuchen, sich auf sie zu stützen und das mit Zwang und stark repressiven Maßnahmen kombinieren, um den Klassenkampf zu unterdrücken. Man kann weltweit mit neuen Anti-Streikgesetzen rechnen. Doch die Geschichte lehrt uns, dass diese Methoden den Prozess zwar verlangsamen können, auf lange Sicht werden sie aber die Kraft der Bewegungen, wenn sie schließlich unweigerlich explodieren, nur erhöhen.
Die kommenden Bewegungen werden wahrscheinlich zunächst überwiegend ökonomischen Charakter haben. Doch sie werden sich aufgrund der Tiefe der Krise und der enormen Frustration, die sich in den letzten Jahren angestaut hat, zweifellos radikalisieren und immer mehr politischen Charakter gewinnen. Ein neuer „Mai 68“ oder „heißer Herbst“ [1969 in Italien] bahnt sich an – doch diesmal auf globalem Maßstab.
In einem solchen Kontext würde die Inflation die Bewegung nicht zurückhalten, sondern sie noch weiter anspornen. Arbeiter werden gezwungen sein zu kämpfen, um ihre Löhne gegen die steigenden Preise zu verteidigen. Wir werden mutigere Gewerkschaftsplattformen sehen, die nicht nur für bessere Kollektivverträge, sondern auch auf politischer Ebene kämpfen werden. Die Frage der Arbeiterkontrolle und Verstaatlichung wird wieder aufkommen und wird objektiv die Frage der Arbeitermacht und ihre Rolle in der Gesellschaft aufwerfen.
Die Pandemie hat Millionen von Arbeitern gezeigt, dass nur die Abschaffung der Patente und die Verstaatlichung der Pharmakonzerne, sowie ein öffentliches und allgemein zugängliches Gesundheits- und Impfsystem Covid-19 effektiv bekämpfen hätten können. Solche Maßnahmen hätten Millionen von Toten verhindern können.
Generell niedrige Löhne betreffen die Mehrheit der weltweiten Arbeiterklasse. Die enorme Umverteilung von Reichtum von Arbeit in Richtung Kapital in den letzten Jahren bedeutet, dass eine steigende Inflation die Arbeiter zweifellos zu wachsender Entschlossenheit in Kämpfen bewegen wird. Die Gewerkschaftsbürokratien werden sich mit der Entscheidung konfrontiert sehen, diese Kämpfe entweder zu unterstützen, oder übergangen zu werden und gar keine Rolle mehr zu spielen.
In jedem Fall wird die Arbeiterklasse einen Weg finden, den Herrschenden die Rechnung vorzulegen. Auf dieser Ebene werden MarxistInnen gegen die Reformisten um die Führung der Arbeiterbewegung kämpfen können. Sobald sich die Arbeiter eine Führung schaffen, die ihre Interessen wirklich vertritt, kann keine Kraft der Welt die sozialistische Umwälzung der Gesellschaft aufhalten. Der Kapitalismus wird von der Bühne der Geschichte abtreten.
(In leicht gekürzter Fassung erschienen im Funke Nr. 195)
[1] Gemeint sind Ideen, wonach die Nationalstaaten an Bedeutung verlieren mit der Tendenz, sich aufzulösen.