Ein Kommentar unserer Wirtschaftsredaktion zur Politikerbeschimpfung durch Erste Bank-Chef Treichl.

Der Bankmanager Andreas Treichl hat die österreichischen Politiker provoziert, indem er ihnen Feig- und Dummheit unterstellt hat. Dieser Aussage ist – insofern man den Begriff „Politiker“ auf die Menge der österreichischen Nationalratsabgeordneten und die Mitglieder der Bundesregierung beschränkt – kaum etwas hinzuzufügen. Als reine Nebenbemerkung mag erscheinen, dass Treichl natürlich gute Gründe hat, von der Verdopplung der Aufsichtsratsgagen in der Erste Group Bank AG abzulenken. Es ist jedoch typisch für die österreichische Debatte, dass in der öffentlichen Diskussion der konkrete Inhalt der Bemerkungen Treichls völlig untergeht. Treichl beklagt, dass er für die Vergabe eines Kredits an ein mittelständisches Unternehmen zehnmal so viel Eigenkapital zurückzulegen hätte, wie dies für den Kauf einer griechischen Staatsanleihe der Fall wäre, was die Wettbewerbsposition der österreichischen Wirtschaft schwäche. Wir behaupten hier: 95% der Abgeordneten zum Nationalrat vermag nicht zu entschlüsseln, was Treichl damit meinen könnte. 95% der Journalisten, die über die Aussagen berichten, verstehen den Inhalt dieses Satzes und seine Implikationen nicht.

Wir geben Nachhilfe, weil diese Aussage viel mit der Verfasstheit des Finanzkapitalismus im 21. Jahrhundert zu tun hat. Sie führt direkt zum Kern der Debatte über die alte Klage der politischen Linken: „Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren“. Von vorne: Die in den Internetforen der Qualitätszeitungen und bei ATTAC stark vertretenen Kläger gegen die „Zinsgeldwirtschaft“ und „Giralgeldschöpfung“ haben die letzten 30 Jahre verpasst. Worum es im heutigen Bankgeschäft tatsächlich geht, ist Eigenkapitalrendite. Verstehen wir diese – stilisiert und um die neuesten Verrücktheiten der internationalen Rechnungslegungsbestimmungen bereinigt – als Gewinn pro eingesetztem Eigenkapitaleuro, ist die Interessenslage der Eigentümer (das sind die durch das ABGB und UGB abgesicherten wirtschaftlich Berechtigten des Gewinns) klar. Sie möchten in Übereinstimmung mit dem Profitstreben als Grundprinzip des herrschenden Gesellschaftssystems, dass sich ihr Kapital mit einer möglichst hohen Rate vermehrt. Diese Rate wird bestimmt durch die Größen Gewinn und Eigenkapital. Die Eigentümer – und damit auch das von ihnen via Aufsichtsrat eingesetzte Management – möchten für das von ihnen via Aktienbesitz eingesetzte Eigenkapital ein möglichst hohes Ergebnis sehen. Zu diesem Zwecke vergibt die Bank Kredite an Private, Unternehmen und den Staat, wobei die bezahlten Zinsen in den Ertragstopf der Bank wandern. Könnte die Bank nur so viele Kredite vergeben, wie sie Eigenkapital (also von den Eigentümern zur Verfügung gestelltes (Aktien-)Kapital) besitzt, wäre dies eine äußerst langweilige Geschichte. Die Eigentümer könnten maximal eine Rendite erzielen, die dem durchschnittlichen Kreditzinssatz entspricht. Also nimmt die Bank Fremdkapital auf, einerseits durch die Entgegennahme von Spareinlagen, andrerseits durch die Emission eigener Anleihen oder ähnlicher Finanzinstrumente. Die Crux liegt nun darin, den Fremdkapitalgebern weniger Zinsen zu bezahlen als man den Kreditnehmern der Bank verrechnet, die Differenz wandert in den Gewinn („Zinsmarge“). Durch ein höheres Maß an Fremdkapitalfinanzierung („Leverage“) lässt sich die Rendite für die Eigentümer prinzipiell über alle Grenzen erhöhen. Josef Ackermann von der „Deutschen Bank“ schoss diesbezüglich den Vogel ab, indem er seinen Eigenkapitalgebern eine Jahresrendite von 25% versprach.

Jetzt gibt es aber das unschöne Phänomen, dass einige Kreditnehmer (Häuslbauer, Unternehmen und neuerdings auch europäische Staaten) die von ihnen aufgenommenen Kredite nicht oder nicht vollständig zurückzahlen können (Ausfall, „Default“). Daraus entstehen der Bank „Risikokosten“. Natürlich kann der Durchschnitt dieser Risikokosten im Voraus kalkuliert („Standardrisikokosten“) und durch einen gewissen Zuschlag auf die Zinsmarge verdient werden. Dummerweise ist die freie Marktwirtschaft von einem konjunkturellen Zyklus geprägt, der sich in schwankenden Ausfallsraten niederschlägt. Im Extremfall (wie zuletzt 2007-2010) kann dies dazu führen, dass die Risikokosten punktuell so hoch werden, dass sie das zur Verfügung stehende Eigenkapital auffressen, wodurch die Bank in die Insolvenz schlittern würde und die Fremdkapitalgeber („Sparer“) eines Teiles ihrer Einlagen verlustig gehen würden.

Zumal der Finanzsektor den „Blutkreislauf“ der modernen Ökonomie (Lenin nannte diese „Imperialismus, das höchste Stadium des Kapitalismus“) darstellt, sah sich der Gesetzgeber (Marx nannte diesen „ideeller Gesamtkapitalist“) gezwungen, einer unbeschränkten Ausdehnung der Fremdkapitalfinanzierung und den damit einhergehenden Risiken für die Gesamtwirtschaft entgegenzutreten. Die Politik tat dies, indem sie von den Banken verlangte, für jeden Kredit in Abhängigkeit vom Risiko eines Ausfalls ein gewisses Maß an Eigenkapital zurückzulegen. Je höher dieses Maß, desto weniger Kredite können vergeben werden, desto weniger Gewinn kann die Bank für ihre Eigentümer erzielen, desto geringer die Eigenkapitalrendite. Also kämpfen die Bankmanager im Auftrag ihrer Eigentümer gegen höhere Eigenkapitalanforderungen. Dabei haben sie mit dem unlängst beschlossenen Paket („Basel III“) einen kleineren Rückschlag erlitten, der ihnen die Zornesröte ins Gesicht treibt. Andreas Treichl hat also stellvertretend für seine Funktionäre allen Grund böse zu sein. Und vor diesem Hintergrund ist auch seine Aussage von den „feigen und dummen Politikern“ zu verstehen.

Böse auf ihre eigene Dummheit sollten aber auch die europäischen Regierungen sein. Und sie sollten sich überlegen, ob sie ihre eigenen Bürger weiter anlügen wollen. Ein Musterbeispiel hiefür lieferte Günther Stummvoll in der TV-Sendung „Im Zentrum“ vom 15.5.2011. Der Finanzsprecher der Regierungspartei ÖVP argumentierte, dass die Basel(II & III)-Regelungen von den „Währungsexperten“ beschlossen worden wären und der Gesetzgeber damit nichts zu tun hätte. Wir verteidigen hier nicht das „Baseler Komitee“, aber die Dreistigkeit der Behauptung, dass europäische Richtlinien von einem Organ ohne Gesetzgebungskraft beschlossen werden, ist dennoch bemerkenswert. Tatsache ist, dass die Umsetzung der Basel II-Regelungen in Form der Richtlinien 2006/48/EG und 2006/49/EG am 7.6.2006 vom Europäischen Rat, dessen Mitglied Wolfgang Schüssel war, beschlossen wurde. Tatsache ist weiters, dass der Abgeordnete zum Nationalrat Günther Stummvoll am 13.7.2006 im Plenum des Nationalrats nicht gegen die Änderung des Bankwesengesetzes zur Umsetzung der Basel II-Regelungen gestimmt hat.

In ihrer umfassenden Dummheit (bravo, sehr geehrter Herr Treichl) haben Mitglieder des Europäischen Rates und des österreichischen Nationalrats überdies Veränderungen der vom Baseler Komitee vorgeschlagenen Regelungen beschlossen, die Herrn Treichl die heutigen Polemiken erlauben. Die EU hat ohne Not beschlossen, dass Kredite (und sei es auch in Form von „Anleihen“, Herr Treichl) an Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ohne Eigenkapitalunterlegung begeben werden dürfen (Richtlinie 2006/48/EG, Anhang 6, Teil 1, Punkt 4). Dieser unscheinbare Punkt erlaubt heute das folgende Spiel: Banken nehmen bei der EZB einen Kredit zu 1,25% auf und kaufen damit griechische Staatsanleihen, die mit ca. 20% verzinst werden. Die 18,75% Zinsdifferential wandern, ohne dass anderwärtig die Geschäfte der Bank beeinträchtigt werden (i.e. die restliche Kreditvergabe kann ungestört weiterlaufen), in die Tasche der Eigenkapitalgeber. Sehr geehrter Herr Treichl, hat die konsolidierte Erste Group Bank (EGB) griechische Anleihen auf ihrer Bilanz? Profitiert sie von der „Dummheit und Feigheit der Politiker“?
Möglicherweise hat die EGB keine griechischen Bonds auf ihren Büchern. Wir bezweifeln dies, aber es ist auch nicht von hoher Wichtigkeit. Die EGB hatte jedenfalls so viele faule Kredite im Portfolio, dass sie den Steuerzahler mit über einer Mrd. Euro in die Bank einzahlen ließ. Wohlgemerkt: Der Steuerzahler gab Eigenkapital (d.h. Kapital, dass direkt an den „Risikokosten“ und damit einem drohenden Verlust beteiligt ist), nicht Fremdkapital! Eigenkapital ist auf der ganzen Welt mit Stimmrechten in der Hauptversammlung der Aktiengesellschaft verbunden, welche über die Aufsichtsratsvergütung bestimmt. Herr Treichl (und seine Kompagnons von RZB, VBAG und Hypo) hatten Glück: Sie trafen auf Dummheit und Feigheit.


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