Nach den turbulenten Ereignissen der letzten Monate ist scheinbar (relative) Ruhe in die österreichische politische Landschaft eingekehrt. Eine Analyse von Florian Keller.
Wenn man ein Korken auf eine sprudelnde und schäumende Flasche aufpfropft, scheint sich die Situation zu beruhigen. Aber unter der ruhigen Oberfläche baut sich dafür ein großer Druck auf, der nicht mehr entweichen kann. Ist genügend Druck aufgebaut, fliegt der Korken mit einem Knall aus der Flasche und diese schäumt über – wie man in letzter Zeit in England bei EU-Gegnern, nicht so sehr dafür bei Fußballfans beobachten konnte.
Die Angelobung von Christian Kern als neuen Bundeskanzler und SPÖ-Parteichef in Kombination mit dem (vorläufigen) Sieg Alexander Van der Bellens bei den Bundespräsidentschaftswahlen hatte für die österreichische Politiklandschaft einen ähnlichen Effekt. Die Widersprüche innerhalb der SPÖ, die noch vor wenigen Wochen extrem zugespitzt waren und zum bestimmenden Element wurden, scheinen wie weggewischt – beim Sonderparteitag der SPÖ erhielt Christian Kern bei der Wahl zum Parteivorsitz knapp 97% der Stimmen.
Kern schafft es, mit extrem gezielter Rhetorik zwischen den verschiedenen Flügeln der Partei zu balancieren. Kern zitiert aus der Internationale, dem Kampflied der Arbeiterbewegung – in der selben Rede, in der er sagt: „Wir sind die wahre Wirtschaftspartei im Land“. Er wettert gegen die Hetze der FPÖ, von der es „kein weiter Weg zu brennenden Flüchtlingsheimen“ ist (die Linken können sich freuen und die Rechten hören weg). Er geht weiter und sagt ebenfalls in Richtung FPÖ in Bezug auf Ausländerkriminalität: „jemand der was angestellt hat, hat keinen Platz in unserer Gesellschaft“ (die Rechten können sich freuen und die Linken hören weg).
Bisher funktioniert dieser Balanceakt, wenn auch mit Müh und Not. Die für den österreichischen Kapitalismus notwendigen Maßnahmen werden weiterhin umgesetzt, auch wenn sie die sozialen oder demokratischen Rechte weiter einschränken – wie etwa das neue Sicherheitspolizeigesetz, das im Grunde eine massive Ausdehnung der Rechte der Polizei bedeutet. Doch diese Zeit der „Flitterwochen“ innerhalb der SPÖ ist stark begrenzt. An jeder zentralen Frage können die alten Widersprüche wieder aufbrechen, und es gibt in der Krise keinen Spielraum für Reformen mehr wie in der Vergangenheit, um diese Widersprüche zu glätten. Ein Zeichen dafür ist das schlechte Wahlergebnis für Law-and-Order Mann Hans-Peter Doskozil, der nur mit knapp 80% in das Parteipräsidium gewählt wurde.
Nicht nur Kern, sondern auch die ÖVP weiß das. Diese hat sich nach der krachenden Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen sehr schnell auf eine vorläufige Beibehaltung des Status Quo in der Partei geeinigt. Im Pokerspiel der Macht musste die SPÖ ihren lange aufgebauten Trumpf ausspielen - Kern wurde seit Jahren von den Medien als möglicher Nachfolger Faymanns aufgebaut. Die ÖVP erhöht jetzt langsam den Druck: Querschüsse zum „Ende der Sozialpartnerschaft“, Forderungen einer härteren und schnelleren Gangart nach rechts in der Asylfrage stehen auf der Tagesordnung. Und auch bei der Wahl zur Rechnungshofpräsidentin zog die FPÖ die Daumenschraube an: Gewählt wurde schließlich die schwarze Kandidatin Kraker, auch von den meisten SPÖ-MandatarInnen, um die schwarz-blaue Kandidatin Berger zu verhindern.
Das Ziel ist klar: Geht es nach der ÖVP, soll sich Kern möglichst schnell verbrauchen, damit dann Außenminister Kurz, völlig unverständlicherweise sehr beliebt in den Umfragen, als Kanzlerkandidat gegen ihn in vorgezogenen Neuwahlen ins Rennen geschickt werden kann. Das ist auch ein weiterer Aspekt, warum sich innerhalb der SPÖ viele umso entschlossener (und realitätsverneinender) hinter Kern stellen. Auch die SPÖ bereitet sich auf die unvermeidlichen Neuwahlen vor, noch einmal wird mühsam eine wacklige Einheit nach innen hergestellt, um nach außen schlagkräftiger zu sein.
So ist auch zu erklären, dass Kern die soziale Frage wieder auf das Tableau bringt, und zwar schärfer, als amtierende SPÖ-Kanzler es in den letzten Jahrzehnten gewagt haben. So sagt er in einem Interview mit dem Kurier unter dem bezeichnenden Titel „Christian Kern: ,Ich bin proletarischer als viele meiner Vorgänger'“: „die wahre Konfliktlinie ist an der sozialen Frage zu definieren […] Wir müssen klarmachen, dass die gesellschaftlichen Konflikte nicht zwischen Armen und noch Ärmeren laufen, sondern zwischen Arm und Reich.“ Auch die Maschinensteuer, eine Abgabe auf kapitalintensive Produktion, wurde als Vorschlag wieder ausgegraben, was ihm auch prompt den Rüffel von der ÖVP einbrachte, ein Klassenkämpfer zu sein.
Doch es ist alles nicht so einfach, wie die StrategInnen sich das vorstellen. Denn die Verschiebungen in der Beliebtheit sind in Wirklichkeit nichts anderes als Umgruppierungen im Regierungslager. Viele ArbeiterInnen und Jugendliche haben schon längst alle Hoffnung in die Große Koalition oder ihre Parteien verloren, daran ändern auch die personelle Neuaufstellung oder rhetorische Spielereien nichts. So ist es bezeichnend, dass sich die SPÖ in den Umfragen der letzten Wochen zwar verbessert hat, aber de facto nur auf Kosten der ÖVP. Insgesamt herrscht weiter die beispiellose Situation, dass SPÖ und ÖVP zusammen keine Mehrheit erreichen würden. Die FPÖ ist weiterhin unangefochten führend in den Umfragen. Für die Regierungsparteien ergibt sich also die Situation, dass beide sich mit gezücktem Revolver belauern, aber bisher keiner abdrückt, weil letztendlich die FPÖ den „Sieger“ erledigen könnte.
Doch die Situation, in der der Kapitalismus besonders in Europa steckt, wird keine lange Periode der politischen Balance zulassen. Die Gesellschaft ist gekennzeichnet von einer stagnierenden Wirtschaft, Rekordarbeitslosigkeit und einer langsamen, aber tiefgreifende Offensive des Kapitals am Arbeitsplatz. Die politischen Widersprüche werden dadurch zu sehr zugespitzt, als dass es einen Ausgleich geben könnte. Das Kapital braucht in Österreich eine starke Regierung, die in der Lage ist, tiefe Konterreformen durchzusetzen. So eine Regierung kann nur eine Bürgerblockregierung sein, die auf den Trümmern einer diskreditierten Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung errichtet wird. Der Takt wird nicht hauptsächlich von parteipolitischen Strategien vorgegeben, sondern von der internationalen Entwicklung. Und diese hat sich in den letzten Wochen noch einmal zugespitzt.
Illusionen in den „Neustart“ der Regierung sind deswegen mehr als fehl am Platze. Letztendlich können wir nicht vorhersagen, wann genau der Korken wieder aus der Flasche springen wird. Wir können aber sicher sagen, dass er es tun wird, und zwar nicht in ferner Zukunft. Wir kämpfen auch in diesen jetzigen „ruhigeren“ Zeiten entschlossen dafür, dass an diesem unvermeidlichen Punkt die Arbeiterbewegung nicht nackt dasteht, wie es unter der jetzigen Führung der Fall sein wird, sondern eine revolutionäre, sozialistische Alternative hat.