Zuerst beschloss die SPÖ ein Asylpapier, das die Einheit wieder herstellen sollte, um nur wenige Tage später in eine Führungsdiskussion zu stürzen. Von Florian Keller.


Der jüngste politische Ausdruck einer unappetitlichen Mischung aus Opportunismus gegenüber der „öffentlichen Meinung“ (d.h.: Der Meinung der großen Medienkonzerne) und selbstverliebter Sesselkleberei um jeden politischen Preis in der politischen Führung der Arbeiterbewegung ist das „Migrationspapier“ der SPÖ. Es kapituliert genau in einer Situation völlig vor dem grassierenden Rassismus, in der die Arbeiterklasse ihre Einheit mehr denn je bräuchte, um in den angelegten Klassenkämpfen siegreich hervorgehen zu können.

Der Rassismus ist mit Abstand die wichtigste ideologische Flankendeckung für das Kapital, um die Arbeiterklasse zu verwirren und abzulenken. Jede soziale Schweinerei der Regierung und ihrer Ideologen kommt mittlerweile mit einem Kopftuch und ausländischem Pass daher. Doch in den Händen der SPÖ-Spitzen, der „rechten“ wie auch der „linken“, verkommen diese Schweinereien zur Nebensache. Wenn dagegen argumentiert wird, dann höchstens aus liberal-moralischer Sicht, immer mit den Interessen „der Wirtschaft“ im Hinterkopf (etwa in der Debatte um Lehrstellen für Flüchtlinge).

Dabei ist das Papier in der eklektischen Sprache einer Partei gehalten, die an inneren Widersprüchen würgt. Neben lupenrein neokolonialistischen Vorschlägen, etwa dass Staaten in Nordafrika „unbewohntes Land“ zur Verfügung stellen sollen, um darauf „Verfahrenszentren“ für Flüchtlinge zu bauen, steht z. B. die Beendigung aller „direkten und indirekten Förderungen“ für Lebensmittelexporte in Entwicklungsländer. Jeder in der Partei macht sich die Welt, wie sie ihm gefällt - so konnten auch der „Standard“ und die „Österreich“ über dieselbe Präsentation desselben Papiers jeweils titeln: „SPÖ-Asyllinie gegen ,rechtspopulistische Abschottung‘“ und „SPÖ: ,Wer kein Asyl hat, geht‘“.

Doch trotz aller Zweideutigkeit muss man insgesamt ganz klar feststellen, dass das Papier als Ganzes eine klare Kapitulation vor dem grassierenden Rassismus ist. Es ist wie so oft in der Geschichte der Sozialdemokratie: „Progressive“ oder „menschliche“ Maximalforderungen, die entweder hohle, abstrakte Phrasen sind wie „Im Rahmen einer aktiven Neutralitätspolitik setzen wir uns für Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und Zukunftschancen vor Ort ein“, oder, freundlich ausgedrückt, unter Bedingungen der kapitalistischen Krise völlig utopisch sind, etwa ein „Marshallplan für Afrika und Entwicklungsländer“, werden als Zuckerl für die Linken präsentiert. Die „pragmatischen“ Minimalforderungen sollen dadurch geschluckt werden. Und diese sind viel unmittelbarer und näher: „Maximale Dauer eines Asylverfahrens auf 3 Monate begrenzen. Wer keinen Asylgrund hat, darf nicht bleiben“, oder „Integration vor Zuzug“. Forderungen wie die Möglichkeit eines Botschaftsasyls, oft von verschiedenen Parteilinken gefordert als eine Möglichkeit, die mörderischen Fluchtrouten unnötig zu machen, werden einfach zu einem Baustein einer reaktionären Abschottungs- und Abschiebepolitik. Hier lohnt es sich ausführlich den betreffenden Absatz aus dem Papier zu zitieren:

„Darauf aufbauend werden an den EU-Außengrenzen (auch Flughäfen), auf EU-Boden, europäische Verfahrenszentren errichtet. In diesen werden Asylverfahren in maximal drei Monaten abgewickelt, die Menschen entsprechend der Genfer Flüchtlingskonvention beherbergt und versorgt und nach Abschluss des Asylverfahrens in entsprechend festgelegten Quoten auf die EU-Staaten verteilt. Ergänzend dazu braucht es ein europäisches Botschaftsasyl. Wer auf einem anderen Weg und damit illegal in die EU kommt, wird in ein solches Verfahrenszentrum zurückgebracht.“

Insgesamt gilt: Auf die von Boulevard und Regierung aufgebaute Strohpuppe „schlecht integrierter muslimischer Flüchtling“ und „Asylbetrüger“ wird verschämt mit eingeschlagen, während die Regierung gleichzeitig das Leben der Arbeiterklasse zerstört. Und: gegen diese Kapitulation hat sich im gesamten SPÖ-Parteivorstand keine einzige Gegenstimme gefunden, lediglich für Enthaltungen der roten Jugendorganisationen, allen voran der SJ-Vorsitzenden Julia Herr, hat es gereicht. Statt diesem Opportunismus gegenüber der zentralen Ideologie des Kapitals wäre eine mutige Kriegserklärung der Arbeiterbewegung an Sozialabbau und Rassismus notwendig. Der Kampf gegen das eine ist nicht ohne den Kampf gegen das andere durchsetzbar, beide Dinge sind daher eine untrennbare Einheit.

Personaldebatten ohne Prinzipien

Doch genau in der Situation, als die beiden dominanten Flügel der SPÖ-Bürokratie zufrieden mit dem erreichten in Form des Migrationspapieres schienen, platzte der vorab geleakte Rücktritt von Noch-SPÖ-Vorsitzendem Kern wie eine Bombe. Genau in der Situation, in der die Gewerkschaften einen heißen Herbst vorbereiten, wird der nötige Fokus auf den Kampf Klasse gegen Klasse auf eine völlig prinzipienlose Personaldebatte in der SPÖ verschoben.

Auf der einen Seite ist da der (noch-) Parteivorsitzende Kern, der sich entschieden hat, einen EU-Posten anzustreben und hinter diese persönlichen Karrierewünsche jegliche Überlegung zurückstellt, was für die Partei, den Kampf gegen die Regierungskoalition oder (Gott behüte!) gar den Klassenkampf notwendig wäre. Doch damit geht Kern lediglich so wie er gekommen ist – als ein fähiger bürgerlicher Karrierist, zufällig in der Sozialdemokratie gelandet, der eine gute Karrierechance erkennt, wenn er sie sieht. Die europäische Sozialdemokratie befindet sich selbst in einer tiefen Krise, in dieser Situation rechnet er sich Chancen aus, als ihr Spitzenkandidat bei den kommenden EU-Wahlen ins Rennen gehen zu können – und sich so für einen Spitzenposten bei der Neuordnung der EU-Führung zu bewerben.

Auf der anderen Seite steht die offensichtlich in Wien–Burgenland verankerte Clique in der SPÖ, die selbst Kerns Abgang in eigenes politisches Kleingeld münzt. Leaks an die Medien werden routiniert für den innerparteilichen Kampf genutzt, um Kern unter Zugzwang zu setzen und damit in den Kampf um seine Nachfolge einzugreifen. Es gilt die gleiche Beobachtung wie oben: das einzige Interesse, das zählt, ist das eigene Fortkommen.

Dass sich der „sozialliberale“ steirische Landesvorsitzende Schickhofer, der sich von einer „klassenkämpferischen 2 % Minderheit“ in seiner Partei bedroht fühlt, schon zwei Jahre vor den Landtagswahlen als „Spitzenkandidat“ küren lässt, ist nur ein weiterer krasser Ausdruck eines verbürgerlichten Parteiapparates, der nur sich selbst und das Wohl des Kapitals kennt. Dabei ist wiederrum klar, dass Schickhofer „das Hemd näher ist als der Rock“ – für die Koalition mit der ÖVP in der Steiermark stimmt man auch schon einmal gegen eine Ablehnung des 12-Stunden-Tages. Zu all dem gibt es für uns nur eines zu sagen: Diese „GenossInnen“ wären allesamt besser in der ÖVP aufgehoben.

Doch sobald das mediale Desaster vollständig war, wurde auf einmal ein völlig anderer Ton angeschlagen. Christian Kern wurde von allen Seiten innerhalb der Partei über den grünen Klee gelobt, in kürzester Zeit völlige Einigkeit darüber hergestellt, dass es Einigkeit braucht. Innerhalb weniger Tage sagte Doris Bures, dem Vernehmen nach Wunschkandidatin der Wiener und Burgenländer, als Nachfolgerin ab. Daraufhin wurde Kerns Wunschnachfolgerin aus dem „linksliberalen Lager“ Pamela Rendi-Wagner vorsorglich gleich aus dem „rechten“ Burgenland vom dortigen Parteipräsidium vorgeschlagen, laut Kurier sind zur Zeit der Veröffentlichung dieses Artikels 8 Bundesländer und der ÖGB für sie.

Diese Wendung um 180° mag oberflächlich betrachtet völlig unerklärlich wirken. Doch sie stellt nur die notwendige, andere Seite der Medaille dar. Wo davor unprinzipielle und karrieristische Erwägungen zur Explosion führten, führen dieselben Erwägungen jetzt dazu, dass das Kriegsbeil (vorerst) wieder begraben wird. Denn wer schmiert die Butter auf das Brot, wenn wegen den internen Rangeleien die nächsten Wahlen verloren werden?

So wird versucht, die sich auftürmenden Widersprüche in der Partei mit allen Mitteln wieder zuzudecken. Nach dem „Quereinsteiger“ Christian Kern soll die nächste „Quereinsteigerin“ Rendi-Wagner die Partei übernehmen. Und wie bei Kern sind sich alle einig – „sie ist die richtige“. Warum, das kann kaum jemand beantworten, was auch nicht weiter erstaunlich ist: so kann etwa der Standard gestern schreiben: „In westlicheren Bundesländern kennen sie selbst innerhalb der SPÖ viele nicht wirklich“. Falls sie sich durchsetzen sollte, wäre ihr Vorsitz von derselben Dynamik geprägt wie bei Christian Kern, nur auf schwächerer Basis: Ein andauernder Balanceakt in einer Partei, in der sich die inneren Widersprüchen weiter auftürmen. Die nächste Explosion wäre vorprogrammiert, noch stärker, noch zerstörerischer, nur ein wenig nach hinten verschoben.

Der Grund dafür liegt im Todeskampf des rechten Reformismus, der die SPÖ seit Jahrzehnten prägt. Der wirkliche Widerspruch innerhalb der Parteibürokratie ist nicht zwischen „links“ und „rechts“, sondern zwischen dem eigenen Anspruch des politischen Spitzenpersonals, das gesellschaftliche Bindeglied zwischen Kapital und Arbeit zu sein (die Logik von Sozialpartnerschaft und Koalitionsregierungen, verbunden mit saftigen Posten) und der Wirklichkeit eines Kapitalismus in der Krise, der weder substanzielle Reformen an der Regierung erlaubt hat und damit zu einer ständigen Erosion der Wahlunterstützung geführt hat, und jetzt sogar der Bürgerblockregierung diktiert, die lästigen Bürokraten der Arbeiterbewegung direkt in ihren Interessen anzugreifen.

Diese Logik muss mutig durchbrochen werden. Und das wäre nur mit einer Kandidatur zum Parteivorsitz möglich, die die bürokratische Logik des geringeren Übels und des Ausgleichs zwischen den Flügeln völlig außen vor lässt. Aus unserer Sicht wäre es notwendig, dass diejenigen in der Partei sofort aktiv werden, die mit sozialistischem Selbstverständnis und einer Orientierung auf die Arbeiterklasse erkennen, dass dieser Herbst zum Scheidepunkt werden könnte. Der direkte betriebliche Klassenkampf ist in der ganzen Situation angelegt (siehe hier (Link)). Daher wäre es notwendig, so eine Kandidatur zu organisieren – auch mit dem Bewusstsein, dass so eine Kandidatur im ersten Anlauf wenig Chancen hätte, angesichts der verknöcherten bürokratischen Strukturen der Partei und dem daraus folgenden absoluten Mangel an Parteidemokratie. Doch so eine Kandidatur wäre ein dringend nötiger Sammlungspunkt für einen klassenkämpferischen, sozialistischen Pol in der Arbeiterbewegung, der mit der richtigen Orientierung schnell eine massive Eigendynamik bekommen könnte.


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