Regierungsumbildungen, schlechte Umfragewerte und ehemalige Parteivorsitzende waren das Hauptthema vor dem ÖVP-Parteitag. Wie Kanzler Nehammer trotzdem (oder deswegen) zum „Mister 100%“ wurde, dies aber mehr Schein als Sein ist, analysiert Stefan Wagner.
Karl Nehammer ist am ÖVP-Parteitag in Graz einstimmig zum Bundesparteiobmann gewählt worden. Im Mittelpunkt des Interesses stand aber mehr der Zustand der Partei, als der Lückenbüßer für den zurückgetretenen Sebastian Kurz. Nach der Kurz’schen Selbstinszenierung versuchen sich die Schwarzen auf ihre alten Tugenden zurückzubesinnen. In der ersten Reihe waren alle Altvorderen (Riegler, Molterer, Pröll, ...) platziert worden, um Geschlossenheit zu zeigen – nur der „Dissident“ Reinhold Mitterlehner fehlte. Mit geeintem Auftreten aller ÖVP-Strukturen sollte von den anhaltenden Problemen abgelenkt werden: die Parteifinanzen-Affäre der ÖVP Vorarlberg, schlechte Umfragewerte, der laufende ÖVP-Korruptions-U-Ausschuss und die Affäre um betrunkene Cobra-Personenschützer bei den Nehammers lassen die Partei nicht aus den Schlagzeilen herauskommen.
Der Hobby-Boxer Nehammer und seine Partei hängen angezählt in den Seilen. Der Parteitag war dazu da, sich trotz drohendem K.O. für die nächsten Runden Mut zuzusprechen. Eine wichtige Rolle nahm dabei Alt-Kanzler Schüssel ein. Sein rhetorischer Punkt-Sieg über Kurz beim Interview-Duett zeigte, die „alte“ ÖVP ist zurück – Floskeln über Freiheit und „christlich-soziale Werte“ mit inbegriffen. Die im Raum stehenden Korruptionsvorwürfe wurden gekonnt aufgegriffen und ins Gegenteil verkehrt, ja man stilisierte sich gar als Opfer, deren Privatsphäre verletzt wurde. Wenn es zur Aufrechterhaltung der herrschenden Ordnung um den Ausbau des Überwachungsstaates geht, heißt es von der ÖVP stets „Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu fürchten.“ Bei sich selbst ist dieser Maßstab natürlich nicht anzulegen.
Gesellschaftspolitisch kennt die ÖVP nur Abgrenzung nach links. Im Gleichnis des Heiligen Martin, der seinen Mantel mit einem Bettler teilte, erkennen sie sich als Christlich-Soziale wieder, während die Sozis den Mantel eines anderen teilen möchten. Schon im Vorfeld wurde deutlich, dass es vor allem um eine Abgrenzung der ÖVP zur SPÖ geht. So erklärte Nehammer im Hinblick auf sein Wahlziel: Hauptsache besser als Rendi-Wagner. Die kleinen Funktionäre der ÖVP sind vor allem vor den anstehenden Landtagswahlen wieder gefragt. Sie sollen in der neuen alten Volkspartei auf Zeltfesten und bei Spatenstichen die Kommunikation nach außen übernehmen. Die Kurz‘sche Message Control war gestern.
Schüssel und seine Nachfolger Kurz und Nehammer vertreten dieselben gesellschaftlichen Interessen der Dreifaltigkeit bestehend aus „Partei, Raiffeisenbank und Kontrolle des Staatsapparats“. Was sich jedoch ändert, ist das globale Umfeld des österreichischen Kapitals. Darauf basiert der „Linkspopulismus“ von Nehammer, wenn er laut darüber nachdenkt, Extraprofite von Konzernen höher zu besteuern oder es bedauert, dass Energieunternehmen nicht unter der Kontrolle des Staates sind. Die ÖVP ist und bleibt der ureigenste politische Ausdruck der herrschenden Klasse in diesem Land. Auch wenn in den bürgerlichen Medien Nehammers Aussagen kurzfristig für Entsetzen sorgten, so waren seine Überlegungen nicht viel mehr als das Eingeständnis, dass in Zeiten einer verschärften Krise das kapitalistische System ohne staatliche Eingriffe nicht funktionieren kann.
Jedenfalls werden die Bürgerlichen alles tun, damit die ÖVP bei den nächsten Wahlen die Nummer 1 bleibt. Die Schwarzen fürchten aber zurecht, den Zugriff auf die Schalthebel der Macht zu verlieren. Die gezeigte Geschlossenheit am Parteitag soll die Angst davor kaschieren, dass erstmals nach Jahrzehnten eine Regierung ohne ÖVP möglich ist.
(Funke Nr. 204/31.5.2022)