Der Schock über die Kriegsgräuel wird genützt, um eine politische Agenda abzuarbeiten. Solidarität mit den Unterdrückten wird kriminalisiert, jene mit den Herrschenden bedingungslos eingefordert. Emanuel Tomaselli und Willy Hämmerle über die heimische Meinungsmacher-Industrie.

„Das Zeitungsschreiben ist ja weiter nichts als ein fortlaufendes Wortemachen über Dinge, die man nicht gelernt hat“ kommentierte einst Marx das Journalistenhandwerk. Tatsächlich, niemand kann alles wissen, und der Nahost-Konflikt ist komplex und vielschichtig.

Allerdings, dass Israel Siedlungen auf palästinensischem Land baut, ihren Zugang zu Arbeit und Wohnraum einschränkt, der israelische Sicherheitsapparat (meist straflos) Unschuldige tötet etc. – kurz, dass Israel die Palästinenser systematisch und seit Jahrzehnten durch ein Besatzungsregime unterdrückt –, das weiß man eigentlich in jeder Redaktion.

Journalisten sind aktuell dazu aufgefordert, dieses Wissen völlig auszublenden, um eine Informationspolitik im Sinne der von der Bundesregierung dekretierten politischen Linie der „bedingungslosen Solidarität mit Israel“ zu gestalten. Wer sich in der Medienmaschinerie nicht an diese Leitlinie hält, dem wird „unprofessionelles Arbeiten“ unterstellt – ein Damoklesschwert für jeden Journalisten. Sensiblen Medienkonsumenten wird in den vergangen Tagen aufgefallen sein, dass mehrere bekannte Journalisten und Korrespondenten in den Tagen nach dem Kriegsbeginn kaum Raum in der österreichischen Berichterstattung bekamen. Wir wissen aus sicherer Quelle, dass dies nicht ihre persönliche Entscheidung ist. Dem ORF-Korrespondent Karim El-Gawhary etwa wurde für seine richtige Feststellung, dass es sich bei den Palästinensern um ein besetztes Volk handelt, mehrmals „Einseitigkeit“ vorgeworfen. Weil „der Kontext nun nicht mehr passt“, hat der ORF auch eine (Kinder-)Sendung, die die Unterdrückung der Palästinenser thematisiert, aus seinem Medienangebot entfernt. (Zum Beispiel hier, hier und hier.)

Um jeden Preis müssen stattdessen Bilder echter, oder Erzählungen angeblicher Hamas-Gräueltaten wachgehalten werden, um emotional Israel als einseitiges Opfer des Terrors erscheinen zu lassen. Um möglichst lange keine Zweifel aufkommen zu lassen, werden palästinensische Opfer(-zahlen und Bilder) in der Berichterstattung weitgehend ausgeblendet. Stattdessen werden wartende Hilfslieferungen von Ägypten nach Gaza in den Mittelpunkt gerückt. Das Veto der USA im UNO-Sicherheitsrat gegen die Einrichtung eines humanitären Korridors zur Versorgung der Menschen in Gaza macht hingegen keine Schlagzeile. Und so weiter und so fort. Hier nur ein Beispiel: Die ZIB 13:00 vom 19.10. etwa berichtet, dass in der Nacht davor „hunderte militärische Einrichtungen, darunter Kommandostände zerstört wurden und dabei zehn Terroristen getötet wurden“. Aber kein Wort über die zivilen Opfer der Militärschläge auf Gaza.

Krieg und Informationskrieg: Distanzierung bis zur Unterordnung  

Wer sich der Maxime der „bedingungslose Solidarität mit dem Staat Israel“ nicht unterwirft, wird öffentlich zurechtgewiesen. Beispielhaft: Der Standard veröffentlichte diese Woche zwei Gastartikel, in denen die Verbrechen des israelischen Staates auch Thema waren. Der Journalist Ben Segenreich wütete in einem offenen Brief, dass diese Artikel den Massenmord relativieren würden, und warf der Zeitung vor, dass sie mit der Veröffentlichung dieser Artikel ihren „moralischen Kompass verloren" habe.

Es handelt sich um Artikel von Jérôme Segal und Slavoj Žižek. Segal beginnt seinen Text so: „Die Gräueltaten der Hamas sind durch nichts zu rechtfertigen. Ich verurteile sie vorbehaltlos.“ Und stellt weiter, sich auf den Angriff der Hamas beziehend, fest: „Nichts kann eine solche Unmenschlichkeit rechtfertigen. Nichts.“

Doch diese Klarstellung reicht Segenreich nicht. Denn Segal wagt es später in seinem Artikel, die Besatzungs-, Siedlungs- und Gewaltpolitik des israelischen Staates zu benennen, um damit auf die verzweifelte Lage der Palästinenser aufmerksam zu machen. Damit wird aber, so Segenreich, eine Grenze überschritten, in dem die „Hamas-Barbaren und Israel auf die gleiche Stufe“ gestellt würden. Das sei dann wiederum die Relativierung des Massenmordes. Warum das so sein könnte, wird nicht argumentiert. Es ist auch logisch gar nicht argumentierbar, sondern schlicht eine Behauptung. 

Auch ein Artikel von Eric Frey wird angegriffen, obwohl er in seinem Text dem israelischen Regime einen moralischen Freifahrtschein ausstellt: „Zwar wird nichts, was Israel im Gazastreifen tut, mit den gezielten Gräueltaten der Hamas vor einer Woche gleichzusetzen sein. Aber schon jetzt sind mehr palästinensische Zivilisten durch israelische Bomben gestorben als je zuvor.“ Weiter in Freys Text: „Das Ultimatum lässt vermuten, dass Israel eine Art ethnischer Säuberung anstrebt, um freie Hand für sein Militär zu erhalten.“ Segenreich vermisst deswegen auch hier „den journalistischen Kompass“, denn obwohl die Gewalt Israels in jedem Fall gerechtfertigt wird, darf man diese gar nicht erst zur Sprache bringen, so die Forderung des Journalisten.

Diese Forderung wird erhoben, weil den Kriegstreibern klar ist, dass es Israel weder an Bomben, Raketen und Panzern noch an solider Unterstützung aller westlicher Regierungen mangelt, um seine Kriegsziele in Gaza durchzusetzen. Die größte Schwäche Israels ist die Akzeptanz des Kriegs in der internationalen Arbeiterklasse, inklusive der israelischen selbst, die nicht geschlossen (für die angekündigte Bodenoffensive sprechen sich in einer kürzlichen Umfrage ca. 65% aus) hinter dem Krieg steht. Die Art der Berichterstattung über Krieg und Unterdrückung dafür ist zentral.

Der Standard tut nun Buße und veröffentlichte daraufhin (am 20./21. Oktober) wiederum zwei Gastkommentare, um sich wieder auf die Seite „des Guten“ zu stellen. Hans Rauscher beklagt, dass das „‘Narrativ‘ der Hamas, dass hier willkürlich eine ganze Bevölkerung für einen ‚Freiheitskampf‘ bestraft wird, sich verfestigt“ und dass bei all dem Gerede von den zivilen Opfern im Gazastreifen der Überfall auf Israel in den Hintergrund rückt. Seine Conclusio: „Das israelische Vorgehen erzeugt berechtigte Sorge, und jede Menge westliche Staatsmänner … drängen die Israelis, halbwegs Verhältnismäßigkeit zu wahren. Aber es darf nicht aus dem Blickfeld geraten, dass wir es bei der Tat der Hamas mit dem ‚reinen Bösen‘ zu tun haben, wie es Biden formulierte.“

Florian Markl von Mena-Watch (eine radikal pro-israelische Plattform, auf der Segenreich seinen offenen Brief veröffentlicht hat) titelt seinen Kommentar mit „Der Wille zum Judenmord“ und stellt klar: Der Gazastreifen sei kein Freiluftgefängnis, sondern eine Terrorbastion gegen Israel. Auch das Westjordanland wäre schon längst eine Hochburg des Terrors, gäbe es nicht die verstärkte Präsenz der israelischen Armee.

Mit der Veröffentlichung dieser „Gegendarstellungen“ reiht sich der Standard nahtlos in das Werkl der öffentlichen Meinungsmache ein. Dem folgt sogleich auch eine Anpassung der eigenen Berichterstattung. Über die Massendemonstration vom Samstag, 21.10., in London, auf der mindestens 100.000 Teilnehmer gegen die Unterdrückung der Palästinenser marschierten, berichtete der Standard in seinem Liveticker folgendermaßen:

In London beteiligen sich heute Zigtausende an einem "Marsch für Palästina"

Auf zahlreichen Plakaten wird dabei ein "Genozid" angeprangert, womit zweifellos nicht das wahllose Abschlachten von Juden durch die Hamasterroristen gemeint ist. Und mit dem vielfach gezeigten Slogan "Free Palestine" ist definitiv nicht gemeint, dass die palästinensische Bevölkerung aus den Fängen der Terrororganisationen befreit werden muss.

Auch das Plakat auf dem Bild unterstreicht die Ideologie des Todes, für die die Hamas steht.

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Das angesprochene Plakat zeigt den Slogan „Land, für das du töten musst, gehört dir nicht. Land, für das du sterben musst, schon.“ Zeitgleich fand in Wien am Samstag eine Demonstration mit mehreren Tausend Teilnehmern statt. Sie verlief völlig friedlich und unter den Slogans „Freiheit für Palästina!“ und „Lasst Gaza leben, lass Gaza frei!“ Sie fand in der Berichterstattung des Standard bis heute (Stand 22.10., 11:50) noch mit keinem einzigen Wort Erwähnung.

Jedes Mitgefühl mit nicht-israelischen Kriegsopfern ist ein Sandkorn in der Militärmaschinerie, und dies muss vermieden werden. Diese Medienstrategie ist so weitgehend, dass selbst der höchste politische Repräsentant der Republik, Bundespräsident Van der Bellen, über die Grenzen der engmaschigen pro-Israel Informationspolitik getreten ist. Folgendes Twitter-Posting entfernte die Kanzlei:

Bildschirmfoto 2023 10 21 um 20.04

Die medialen Scharfmacher, die der Staatsräson von der „bedingungslosen Solidarität“ das Wort reden, beklagen sich über die angeblich fehlende Distanz zu den Morden der Hamas. Das ist eine Nebelgranate. Man kann sich distanzieren so viel man will, es geht ihnen nicht um die Verbrechen der Hamas. Es geht um die Verbrechen der israelischen Regierung, zu der die Distanz gewahrt werden muss – und zwar die Distanz in der Berichterstattung.

Warum bedingungslose Solidarität?

Sie ist nicht nur eine außenpolitische Positionierung, sondern eine Waffe der Bürgerlichen, um jeden gesellschaftlichen Widerspruch in Österreich selbst platt zu machen.

Die bürgerliche Demokratie Österreichs steckt in einer tiefen Krise. Korruptionsskandale, Freunderlwirtschaft, Konflikte im Justizwesen und Postenbesetzen, die nicht abklingende gesellschaftliche Polarisierung rund um eine komplett gescheiterte Coronapolitik (Impfflicht und ihre Aufhebung, Milliardengeschenke an die Kapitalisten). In allen Parteien herrschen interne Zwists bis hin zu Spaltungstendenzen (zuletzt virulent in der ÖVP rund um den öffentlichen Rückzug von Othmar Karas). Die SPÖ hat eine undefinierte, weil intern weiter umstrittene politische Linie und Andreas Babler kommt nicht vom Fleck. Über allem schwebt der unkontrollierbare Aufstieg der FPÖ. Das österreichische Kapital ist ob dieses Chaos enorm besorgt, es braucht stabile politische Verhältnisse, um seine Angriffe gegen die Arbeiterklasse endlich voranzubringen. Auf der Agenda stehen ganz oben: Lohn- und Pensionskürzungen.

Rassismus und Terror-Hysterie ist die zentrale Strategie, um die Arbeiterklasse als politischen Faktor kaltzustellen. Die ÖVP versucht dabei seit Monaten die rassistische Themenführerschaft zu übernehmen, die Grünen tragen dies in Regierungsverantwortung mit. Aktuell versuchen nicht wenige Grüne und liberale Politiker und Meinungsmacher, die besten rot-weiß-roten anti-muslimischen Stimmungsmacher abzugeben. Dies ist gar nicht einfach, heute erst relativierte ein ÖVP-Abgeordneter im Nationalrat die Verbrechen des Nationalsozialismus (die industrielle Massenvernichtung der Juden) indem er sagt, dass die Hamas viel schlimmer sei!

Und es ging nur wenige Stunden bis die Hysterie zur Waffe gegen die Gewerkschaften gemacht wurde. Die Metall-Kapitalisten sabotieren die KV-Verhandlungen mit folgenden Argument: „Für diese aggressive Stimmung in der Öffentlichkeit und die Verrohung der Sprache sieht der Fachverband der Metallindustrie auch die Gewerkschaften als mitverantwortlich, die in den letzten Tagen mit massiven Angriffen und aggressiver Sprache gegen die Arbeitgeber persönlich mobilisiert haben.“

Gestern war es nur die Hamas – heute sind es schon alle Arbeiter und ihre Organisationen.

Hysterie um jeden Preis

Eine hysterische Kampagne wurde losgetreten: Palästinenser sind Hamas, sind Antisemiten, sind muslimische Migranten – Solidarisierung ist Terrorsympathie! Pro-Palästinensische politische Stellungsnahmen und Kundgebungen werden als Gefahr dargestellt: als Ausdruck der Freude über israelische Todesopfer, als Gefahr für die öffentliche Sicherheit, als Manifestation des (importierten) Antisemitismus. Die Entmenschlichung der Palästinenser, ihre Nicht-Benennung als Opfer schließt den naheliegendsten Grund der Solidarisierung aus: Trauer, Wut und Angst um das Leben der 2,2 Mio. Bewohner Gazas.

Um den medialen nationalen Schulterschluss herzustellen, verzichten die Medien dabei auf jegliche journalistische Sorgfaltspflicht. Wir vollziehen dies anhand von einer Story nach.

Den ORF-Report vom 17.10. moderierte Susanne Schnabel so ein: „Wie die letzten Tage gezeigt haben, ist der offene Hass auf Israel und somit Jüdinnen und Juden auf Europas Straßen zurück. So auch gestern Abend in Wien vor dem Bundeskanzleramt bei einer, wenn auch kleinen, jedoch nicht der ersten Demonstration mit Parolen, die unter anderem auf die Auslöschung Israels abzielen. Wir wollen daher wissen, warum ist das möglich, gibt es Konsequenzen und wie steht es um die Sicherheit hier bei uns?“

Der ORF verwendet als Videobeweis dafür u.a. Bildmaterial vom Twitter-Account von Markus Sulzbacher (Selbstbeschreibung: „Immer dort, wo es brennt. Wien. Journalist DER STANDARD“). Das Video zeigt knapp über ein Dutzend Jugendliche mit einer Palästina-Fahne in der Wiener Innenstadt. Das gesamte Handy-Video ist 21 Sekunden lang.

Ab Sekunde 0:19 erkennt man, wie ein Jugendlicher die Arme ausbreitet und man hört den Ruf: „Wir sind keine Antisemiten“. Sulzbacher bricht das Video ab und teilt das Bildmaterial unter dem Header: „Antiisraelische Demo war am Judenplatz“. Er war nach eigenen Angaben mit vor Ort und beklagt sich über die Nicht-Präsenz der Polizei am Judenplatz. Er hat keine Wahrnehmung eines konkreten Vorfalles, sonst hätte er ihn veröffentlicht, und kritisiert augenscheinlich trotzdem, dass friedliche Jugendliche sich in der Stadt frei bewegen dürfen. 

Der ORF-Report nimmt dann dieses Material und moderiert einen Beitrag über diesen „Vorfall“ so an: „In der Wiener Innenstadt wird nicht nur auf angemeldeten Orten demonstriert, sondern auch zum Beispiel auf diese Art und Weise, am symbolträchtigen Judenplatz. So geschehen diesen Sonntag. Wer sind diese Menschen? Und wer organisiert sie?“

Die Distanzierung der Demonstranten vom Antisemitismus, festgehalten auf dem „Beweisvideo“ Sulzbachers, ist dem ORF nicht nur keine Silbe wert, sie wird noch dazu aus dem ohnehin schon sehr kurzen Video herausgeschnitten. Sulzbacher und ORF scheinen sich einig zu sein: Arabischstämmige Jugendliche auf Österreichs Straßen sind ein Sicherheitsrisiko an sich.

Dass ORF-Journalisten so unter Druck des nationalen Schulterschlusses stehen, dass sie dieser Tage Probleme im sinnerfassenden Lesen und Zusammenfassen eines einzigen Artikels haben, haben wir bereits hier dokumentiert: Gegen die Rufmordkampagne - Free Palestine! - Presseaussendung der Sozialistischen Jugend Vorarlberg

Die Position des Funke bleibt unerschütterlich: Wir stehen auf der Seite der Unterdrückten! Nein zu Rassismus und Spaltung! Free Palestine!

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