Argentinien. Als Ergebnis jahrelanger Massenmobilisierungen passierte am 30.12.2020 ein Gesetz über die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruches bis zur 14. Woche den Senat. Ein historischer Durchbruch, berichtet Vera Kis.
Oft wird uns erklärt, dass es sich nicht lohnt zu kämpfen, weil wir ohnehin keine Macht hätten und nichts bewirken könnten. Die argentinische Frauenbewegung beweist das Gegenteil. Rund um die Forderung nach dem Recht auf legale Abtreibung hat sich dort in den vergangenen Jahren eine kämpferische Massenbewegung gebildet. Diese führte dazu, dass sich zuletzt 75% der Bevölkerung für die Aufhebung des Verbotes aussprach, und selbst konservative Abgeordnete nach jahrelangem von der Kirche inspirierten Widerstand sich diesen klaren Mehrheitsverhältnissen beugen mussten.
Geschafft hat dies die „marea verde“ (grüne Flut) die seit 2005 rund um die „landesweite Kampagne für legalen, sicheren und kostenlosen Schwangerschaftsabbruch“ aktiv ist. Das Motto der Bewegung lautet: „Sexualerziehung um entscheiden zu können, Empfängnisverhütung um nicht abzutreiben zu müssen und legaler Schwangerschaftsabbruch um nicht zu sterben“. Vor allem der dritte und letzte Teil des Spruchs findet sich auf vielen Transparenten und drückt den Klassencharakter der Bewegung aus.
Legaler Schwangerschaftsabbruch, um nicht zu sterben!
Wie jede wirkliche Massenbewegung rekrutiert sich „marea verde“ vor allem aus der Arbeiterklasse und den unteren Schichten des Kleinbürgertums. Denn das Verbot der Abtreibung ist immer in erster Linie eine soziale Unterdrückung. Selbst in Ländern, die Abtreibung komplett untersagen, finden Schwangerschaftsabbrüche statt. Wer reich genug ist, erledigt den Schwangerschaftsabbruch unter hygienischen Bedingungen im Ausland. Die meisten Frauen aber, die ungewollt schwanger werden, können sich das nicht leisten und gehen zu einer „Engelmacherin“. Ein Verbot des Schwangerschaftsabbruches bedeutet nicht, dass nicht abgetrieben wird, sondern nur, dass mehr Frauen dabei sterben. In Argentinien alleine starben durchschnittlich jedes Jahr offiziell etwa 100 Frauen an den Folgen unprofessionell durchgeführter Schwangerschaftsabbrüche. Dunkelziffer unbekannt, da es sich ja um einen Straftatbestand handelt. Frauen, die abtrieben, drohte eine mehrjährige Haftstrafe. Im Jahr 2019 mussten 852 Frauen deshalb vor Gericht gestellt. Manche Frauen wurden sogar nach natürlichen Totgeburten angezeigt!
We can do it!
Zusammen mit dem Gesetz über den straffreien und kostenlosen Schwangerschaftsabbruch wurden unter dem Druck der Mobilisierungen auch einige andere Reformen von der aktuellen Mitte-Links-Regierung im Oberhaus durchgebracht. Der „Plan der 1000 Tage“ beinhaltet unter anderem kostenfreie medizinische Versorgung für Schwangere, eine Erhöhung des Kindergeldes und ein kostenloses Basispaket für Neugeborene (etwa Impfungen, Milch, gesunde Babynahrung). Die neue Gesetzgebung bezüglich des Schwangerschaftsabbruches und des Kindergeldes zeigt die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit des außerparlamentarischen Drucks (des Drucks von der Straße).
„Dürfen“ bedeutet nicht immer „können“
Mit dem Körper der Frau betreibt die herrschende Klasse weltweit Politik. Selbst wo Frauen auf Wunsch ihre Schwangerschaft beenden dürfen, bestehen viele Hürden, mit denen die Gesellschaft sich die Kontrolle über die Frau einräumt. Gesetzlich manifestiert sich dies darin, dass in fast allen Ländern (wo überhaupt eine sichere Abtreibung prinzipiell möglich ist), die Abtreibung weiter verboten, aber unter bestimmten Bedingungen straffrei ist. Dies ist etwa die aktuelle Situation in Österreich. Daraus leitet sich ab, dass Ärzte und medizinische Einrichtungen aus „Gewissensgründen“ eine derartige Behandlung ablehnen dürfen. Im (auch in dieser Frage) politisch hoch polarisierten Argentinien hat sich bereits die Hälfte der Ärzteschaft im Rahmen der reaktionären Gegenkampagne festgelegt keine Abtreibungen durchzuführen. Unter diesen Bedingungen wird die Behandlung auch nicht wie gefordert kostenfrei zu haben sein.
Eines der wenigen Länder weltweit, in denen der Schwangerschaftsabbruch tatsächlich legal ist, ist Kuba, wo er schon 1965 entkriminalisiert und dann 1987 legalisiert wurde. Die Abtreibung ist dort legal, sofern sie „nicht aus Profitinteresse, nicht außerhalb medizinischer Einrichtungen, von Fachpersonal und nicht gegen den Willen der Frau“ durchgeführt wird. Dieser emanzipatorische sozial-medizinische Ansatz, der das Wohl der Frau und ihre Selbstbestimmung in den Mittelpunkt stellt, wurde von der Frauenbewegung auf Grundlage der Enteignung der Herrschenden und der ideologischen Zurückdrängung der Kirche erreicht.
Dennoch, mit dem neuen Gesetz ist Argentinien nun eines der wenigen Länder des Kontinents (neben Kuba, Uruguay, Guyana, Puerto Rico, französisch Guyana und die mexikanischen Regionen Oaxaca und Mexico Stadt), die rechtlich eine medizinisch sichere Abtreibung ermöglichen.
Es ist zu erwarten, dass dieser Erfolg Bewegungen in anderen Ländern (unmittelbar besonders in Chile) antreiben, und die politische Polarisierung zuspitzen wird.
Revolution und Konterrevolution
Der Kampagne gegen die Abtreibung und für die männliche Verfügungsgewalt über Frauen ist dabei seit Jahren ein zentrales Thema der politischen Reaktion. Letzten Herbst gab es in Brasilien etwa den Fall einer 10-Jährigen, die von ihrem Onkel vergewaltigt worden war und daher abtreiben „durfte“. Präsident Bolsonaro hatte sich damals hinter die AbtreibungsgegnerInnen gestellt, die das Mädchen als Mörderin verunglimpften und lautstark vor der Klinik demonstrierten.
Weltweit werden Frauen und junge Menschen von der kapitalistischen Krise materiell und auch ideologisch besonders hart getroffen. Wie immer in Krisen sind Frauen die erste Verschubmasse zur Lösung der Probleme in der Gesellschaft (siehe Home-Schooling, Entwicklung der Frauenarbeitslosigkeit, ...).
So ist es auch kein Zufall, dass in den letzten Jahren in verschiedensten Ländern Massenbewegungen für Frauenrechte entstanden sind, z.B. die Frauenstreiks in Spanien seit 2018, in Polen 2020 gegen die Verschärfungen des Abtreibungsrechtes oder die Bewegung gegen Frauenmorde in Mexiko. Als MarxistInnen unterstützen wir diese Bewegungen und jede fortschrittliche Reform enthusiastisch. Eine wirkliche, allseitige Befreiung der Frau ist nur durch die Überwindung des Kapitalismus möglich.
Daher gilt: Die Frau frei vom Mann, beide frei vom Kapital!
(Funke Nr. 190/20.1.2021)
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