Seit Wochen rebellieren junge Menschen im Iran gegen das Mullah-Regime. Was als spontaner Protest gegen den Mord an der jungen Kurdin Mahsa Amini begann, hat das Potential, in eine revolutionäre Massenbewegung umzuschlagen. Von Rana Issazadeh und Konstantin Korn.

Das Regime versucht seit Wochen die Proteste gewaltsam zu unterdrücken. Frauen, die sich nun zu Tausenden in der Öffentlichkeit ohne Hijab, der verpflichtenden Kopfbedeckung, zeigen und alle, die sich mit ihnen solidarisieren und gemeinsam für Freiheit demonstrieren, riskieren tagtäglich ihr Leben. Die Gefängnisse sind voll mit politischen Gefangenen, die Zahl der Todesopfer nimmt ständig zu. Aber diese Generation lässt sich nicht mehr unterdrücken. Für jede, die verhaftet oder entführt wird, stehen zehn neue KämpferInnen auf. Mit Schulbeginn Ende September wurden dann die Schülerinnen und Schüler zu einer treibenden Kraft der Proteste. Trotz aller Repression gelang es der Bewegung in etlichen Straßenschlachten die Polizei zurückzuschlagen.

Was der Bewegung aber eine neue Qualität gibt, ist die Tatsache, dass nun auch die Arbeiterklasse als organisierte Kraft die Bühne der Geschichte betritt. In etlichen Sektoren kommt es zu Streiks, darunter in der Erdölindustrie, die für die iranische Wirtschaft von strategischer Bedeutung ist. Eine Kampagne für einen politischen Generalstreik zieht immer breitere Kreise, und es wird offen über die Bildung von revolutionären Widerstandskomitees diskutiert bzw. teilweise gibt es solche Formen der Selbstorganisation bereits.

Welche Form der Solidarität

Diese beeindruckende Bewegung hat auch international eine Welle der Sympathie und der Solidarität ausgelöst, allen voran bei der iranischen Diaspora. Auf diesen Zug springen teilweise auch bürgerliche PolitikerInnen auf, die nun groß von Frauen- und Menschenrechten reden. Auch die Nachfahren des ehemaligen Schahs Mohammad Reza Pahlavi, die im Exil sitzen, nutzen die Gelegenheit, sich als Sprachrohr der iranischen Bevölkerung in Szene zu setzen.

In persischen Medien, die vom Westen oder von Saudi-Arabien finanziert werden, bekommen die Pahlavis extrem viel Aufmerksamkeit geschenkt. Ihr Ziel ist die Restauration der Monarchie im Dienst des westlichen Imperialismus. Dass die Mullahs mit ihrem staatlichen Repressionsapparat nahtlos an den Praktiken des Schah-Regimes ansetzen konnten, dafür steht zum Beispiel das berüchtigte Evin-Gefängnis in Teheran, in dem heute genauso wie unter dem Schah politische Gefangene gefoltert und misshandelt werden.

Reza Pahlavi und die liberalen Kräfte in der iranischen Diaspora fordern von der EU und den USA weitere Sanktionen gegen die Islamische Republik. Die jahrelange Sanktionspolitik ist aber ein wesentlicher Mitgrund für die soziale Misere im Iran mit Massenarbeitslosigkeit und hoher Inflation.

Die Sanktionspolitik spielt dem iranischen Regime letztendlich mehr in die Hände, als es ihm schadet. Die Mullahs können so einmal mehr vor einer drohenden Einmischung durch den Imperialismus warnen und die Protestbewegung als angebliche Marionette des Westens ins falsche Licht rücken. Große Teile der Bevölkerung stehen der Bewegung zwar positiv gegenüber, aber sie unterstützen die Proteste noch nicht aktiv. Sie wird man nur mobilisieren können, wenn die Bewegung, allen voran die Arbeiterbewegung, eine grundlegende, revolutionäre Antwort auf die sozialen Probleme geben kann.

Das Regime setzt auf Gewalt und Terror, aber es weiß auch die Schwächen der Bewegung in der eigenen Propaganda zu nutzen. Eine Rückkehr der Monarchie und mehr Einfluss für den Imperialismus wollen die wenigsten im Iran. Dass in der Bewegung im Land die monarchistischen Kräfte keine große Rolle spielen, zeigt sich an dem sehr populären Slogan „Tod den Unterdrückern – ob Schah oder (Oberster) Führer“. Im kollektiven Gedächtnis ist die Skepsis gegenüber den imperialistischen Machtinteressen tief verankert.

Brot, Arbeit, Freiheit

Die Streiks unter LehrerInnen, in der Erdölindustrie, der Metallindustrie, im Gütertransport usw. zeigen, dass wichtige Sektoren der Arbeiterklasse offen mit der Jugendrevolte sympathisieren und diese mittlerweile auch aktiv unterstützen. Doch die breiten Massen sind noch immer passiv. Sie fragen sich, was kommen würde, wenn die Islamische Republik gestürzt würde. Und sie sind sich zumindest einmal sicher, dass sie keine Rückkehr des Schahs wollen, der die Interessen des Westens begünstigen würde.

Reza Pahlavi ruft auf zur Einheit aller Iraner, „unabhängig von ihren politischen Ansichten“, um „das Land zu retten“. Auf was er mit solchen Aussagen wirklich abzielt, ist, dass hochrangige Vertreter des Militärs und des Staatsapparats auf seine Seite wechseln. Aber jede Form der Einheit mit solchen Reaktionären wie auch jeder Appell an die westlichen Regierungen, die Sanktionspolitik zu verschärfen, bedeutet letztlich, dass sich die Bewegung einem Teil der herrschenden Klasse im Iran oder dem Imperialismus unterordnet.

Als MarxistInnen stehen wir für eine revolutionäre Umwälzung, den Sturz des Mullah-Regimes und des kapitalistischen Systems durch die Massenbewegung. Der zentrale nächste Schritt ist eine Kampagne für einen Generalstreik, die Organisierung von Widerstandsräten in jedem Betrieb, an jeder Schule und Universität und in den Stadtvierteln, mit dem Ziel, dass die gesamte Arbeiterklasse und die ärmsten Schichten der Bevölkerung die Proteste unterstützen und mittragen. Dazu wird es notwendig sein, den Kampf um Frauenbefreiung und demokratische Rechte mit der Perspektive der sozialen Befreiung zu verbinden.

Der iranische Kapitalismus steckt in einer Sackgasse und ist unvereinbar mit den sozialen und demokratischen Forderungen der Menschen. Nur durch eine sozialistische Revolution kann die Grundlage geschaffen werden für Frauenbefreiung, Brot, Arbeit und Freiheit!

Der Mut und die Entschlossenheit derer, die in den letzten Wochen auf der Straße protestiert haben, war einzigartig. Aber diese revolutionäre Energie droht zu verpuffen, wenn sich die Bewegung nicht weiter organisiert und sich ein revolutionäres Programm gibt, mit dem die breite Masse überzeugt werden kann. Im Umkehrschluss liegt hier die Chance des Regimes, wieder die Zügel in die Hand nehmen zu können, wenn die Bewegung früher oder später doch an Dynamik verliert.

Die Aufgabe von RevolutionärInnen im Ausland ist es, einen von der imperialistischen Propaganda unabhängigen Standpunkt einzunehmen und die Heuchelei des Imperialismus aufzuzeigen, hinter dem sich handfeste wirtschaftliche und strategische Interessen verbergen. Stattdessen befürworten wir alle Vorschläge, die dazu beitragen, die Proteste zu stärken und auszuweiten und die die Selbstorganisierung der Massen voranzubringen. Im Kampf um echte Freiheit darf man nur auf die eigene Stärke bauen. Wer an die ehemalige Schah-Dynastie oder die westlichen Regierungen appelliert, hilft der Bewegung nicht, sondern schürt nur falsche Illusionen. „Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!“

(Funke Nr. 208/25.10.2022)


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