Nach 18-monatiger Amtspause ist Benjamin Netanjahu wieder Premierminister. Dafür hat er die rechteste Regierung in der Geschichte des Landes gebildet, die sich jetzt mit Massenprotesten konfrontiert sieht. Von Filip Apolin und Valentin Iser.
Seit Jahrzehnten stützt sich die Kapitalistenklasse in Israel, und zwar sowohl der liberale als auch der konservative Flügel, auf die Spaltung der Arbeiterklasse: Der Staat treibt eine Politik der Besatzung, des Siedlungsbaus und der Diskriminierung von Palästinensern voran und nutzt die Wut und die Angst, die genau durch diese Politik aufgepeitscht wird, dafür aus, Unterstützung beim jüdischen Teil der israelischen Arbeiterklasse zu generieren. Doch in diesem Prozess schuf sie etwas Unberechenbares, das sie nicht mehr kontrollieren kann: eine fanatische Bewegung extrem rechter Zionisten und ultraorthodoxer Fundamentalisten, die besonders in der Siedlerbewegung im Westjordanland verankert ist. Und genau auf diese Kräfte stützt sich Netanjahu jetzt mit seiner neuen Regierung: Die Partei des Ministers für Nationale Sicherheit steht für die vollständige Annektierung des Westjordanlandes und die Ausweisung aller Araber, der Finanzminister Bezalel Smotrich bezeichnete sich in einer geleakten Aufnahme selbst als „faschistischer Homophob“.
Kaum im Amt, machte sich seine rechte Regierung sofort daran, eine Justizreform durchzupeitschen, welche es dem Parlament ermöglicht, mit einer Mehrheit Urteile des Obersten Gerichts aufzuheben. In der bürgerlichen Demokratie Israels fällt diesen Urteilen eine besondere Wichtigkeit zu, da es keine richtige geschriebene Verfassung gibt, sondern nur Grundsätze, die von Gerichtsurteilen ergänzt werden. Die Unabhängigkeit der Justiz soll in einer bürgerlichen „Demokratie“ bei den Kapitalisten untereinander für einen fairen Wettbewerb sorgen. Für die Rechtsaußen-Verbündeten von Netanjahu sind die Gerichte jedoch Hindernisse für ihre Politik. Aber auch Netanjahu, der in mehreren Instanzen der Korruption, Betrug und Bestechlichkeit bezichtigt wird, käme eine Einschränkung ihrer Macht durchaus gelegen.
Die Kapitalisten allgemein befürchten aber, dass die Clique um Netanjahu mit dieser Reform die Kontrolle über den Staat für ihre Vorteile ausnützt. Israel soll ein Investmentzentrum sein, die Kreditfähigkeit Israels dürfe nicht fallen und der Markt müsse geschützt werden. So kamen die ersten Proteste zur Justizreform auch von Konzernen, und die Medien berichten so kritisch über die Regierung wie noch nie.
Doch dabei blieb es nicht: Beim bisherigen Höhepunkt gingen um die 500.000 Menschen in einem Land von 9 Mio. auf die Straße, was eindeutig auf Unruhe in der Gesellschaft hindeutet, vor allem in der Mittelschicht. Doch die Führung der Bewegung hält diese in für das Kapital „ungefährlichen“ Grenzen: Selbst der „prodemokratische“ Flügel der herrschende Klasse in Israel sieht kein Problem in der Unterdrückung der Palästinenser. Und dies ist den palästinensischen Massen vollkommen klar, die dieser Bewegung beinah vollständig ferngeblieben sind, trotz ihres tiefen Hasses gegen Netanjahu. Wie könnten sie auch das Justizsystem verteidigen, das regelmäßig die Vertreibung von Palästinensern deckt?
Die Regierung und ihre Unterstützer nutzen derweil die bewährte Eskalationsspirale: Alleine bis Anfang März wurden 67 Palästinenser von israelischen Sicherheitskräften und Siedlern umgebracht, etwa fünfmal so viele wie im selben Zeitraum im letzten Jahr. Im Februar griff nach einem Doppelmord, mutmaßlich von einem palästinensischen Terroristen, ein Mob von 400 israelischen Siedlern die Kleinstadt Huwara im Westjordanland an und machte Gebrauch von Brandsätzen, Knüppeln und Steinen. Ein hochrangiger israelischer General bezeichnete die Vorgänge richtigerweise als „Pogrom“. Dutzende Autos und zwanzig Häuser standen in Flammen. Es gab dreihundert Verletzte und ein Sanitäter wurde erschossen. Ein Abgeordneter der rechtsextremen Partei Otzma Jehudit, Zvika Fogel, meinte, dass „Dörfer brennen müssen“. Der schon genannte Finanzminister sprach sich sogar dafür aus, die Stadt „auszuradieren“. Premierminister Netanjahu mahnte lediglich, man solle keine Selbstjustiz begehen.
Auf einigen Protesten wurden spontan Slogans gegen den Pogrom angestimmt. Doch es muss klar sein: Die kapitalistische Führung der Proteste wird alles daransetzen, diese Ansätze von Klassensolidarität über ethnische und religiöse Grenzen hinweg zu unterbinden. Die Arbeiterklasse muss mit der bürgerlichen Führung der Proteste brechen und eigene Forderungen aufstellen.
Denn die einzige Möglichkeit, dem jahrzehntelangen Konflikt entlang religiöser oder ethnischer Linien ein Ende zu bereiten, liegt im gemeinsamen Klassenkampf jüdisch-israelischer und palästinensischer ArbeiterInnen. Sie müssen sich allen Teilen der herrschenden Klasse entgegenstellen: den „prodemokratischen“ wie den extrem Rechten. Nur auf diese Weise kann ein Arbeiterstaat errichtet werden, der allen gleiche Rechte garantiert. Vorwärts zur sozialistischen Föderation im gesamten Nahen Osten!
(Funke Nr. 212/21.3.2023)