Nach zwanzig Jahren an der Macht bekommen Erdoğan und seine Koalition trotz überwältigender Machtfülle und Medienkontrolle in den eigenen Umfragen gerade noch so die Mehrheit, in den meisten zeichnet sich eine Niederlage an der Wahlurne ab. Was sind die Gründe und Perspektiven? Eine Analyse von Kurt Bührle.
Die Inflation, die unabhängigen Experten zufolge 2022 bis zu 137% betrug, stürzte Millionen in die Armut. Trotz zweimaliger Anhebung des Mindestlohns um jeweils 50% liegt dieser noch immer unter der Armutsgrenze, 80% der Arbeiter sind von akuter Armut betroffen.
Von den großen Zielen und dem Wachstum der frühen Jahre seiner Herrschaft ist nichts geblieben, nach 10 Jahren wirtschaftlicher Stagnation suchen Junge, sofern möglich, wieder außerhalb der Türkei nach Perspektiven; Jobs gibt es für sie kaum noch.
Doch im letzten Jahr hat sich die Arbeiterklasse bereits durch eine beachtliche Streikwelle Gehör verschafft, öffentlich Bedienstete sind dieses Jahr bereits in den Streik getreten. Die Zeiten, in denen man der herrschenden Partei AKP dankbar war, sind vorbei, denn zu danken ist nichts geblieben.
Vollends diskreditiert hat sich Erdoğan dann durch die Reaktion auf die Erdbebenkatastrophe. Zuerst reagierte die Katastrophenbehörde AFAD chaotisch, Freiwillige wurden gebremst, Hilfe kam in den ersten 24 Stunden kaum wo an. Dass sich der Präsident dann erdreistete, die Katastrophe als „Schicksal“ abzutun, ließ vielerorts die Wut hochkochen – waren es doch seine Amnestiegeschenke, legalisierte Korruption, die den Bau so vieler unsicherer Häuser erst möglich machte. Dass es gerade die Bauindustriellen sind, mit denen Erdoğan seit Beginn seiner Herrschaft im Bunde ist, ist kein Zufall. Sie haben ihn und die AKP im Gegenzug für laxe Gesetze und Steuergeschenke stets unterstützt.
Am schlimmsten traf es zwei Provinzen mit kurdischer respektive arabischer Bevölkerungsmehrheit. Einerseits wurden diese bereits vorher der Willkür und Korruption der AKP-Schergen überlassen, andererseits wurde gleich nach der Katastrophe von offizieller Seite wie auch der extremen Rechten Stimmung insbesondere gegen Syrer gemacht, diese 1,6 Millionen Menschen, die vor dem von der Türkei mitgeführten Krieg flüchteten, nur um ebendort als Arbeitssklaven zu enden. Plünderungen und andere Verbrechen wurden ihnen in die Schuhe geschoben. Kurdischen Dörfern wurde unter der Ansage, es handle sich „eh nur um Terroristen“, Hilfe verweigert.
Die katastrophale Situation und die offensichtliche Verantwortung des Regimes dafür haben den Massen in diesen Gebieten schmerzhaft vor Augen geführt, dass die AKP nicht an ihrer Seite steht, sondern immer an der Seite der Bauherren. AKP-Politiker wurden vielerorts verjagt, sie würden nur eine Show veranstalten. In den offiziellen Medien war davon genau so wenig zu hören wie von jeder anderen Kritik an der Regierung. Kritische Sender wurden weiter verboten, Erdoğan persönlich betitelte Kritiker als „unehrenhafte“ Leute, mit denen bei „gegebener Zeit abgerechnet“ werde.
Dementsprechend werden die Befugnisse, die die Regierung im Zuge des verkündeten Notstands bekommen hat, benutzt, um die Opposition weiter zu bekämpfen, nicht um der Bevölkerung zu helfen. Die linke HDP, die mit ihrer starken Verankerung in den kurdischen Gebieten mit eigenen Hilfscamps gleich vor Ort effizient Hilfe organisierte, wurden behindert, die Camps aufgelöst, NGOs enteignet, Hilfen umgelenkt.
Aufseiten der Opposition führte das zu bemerkenswerten Bewegungen. Erstmals traten der Vorsitzende der kemalistischen CHP und die Co-Vorsitzende der HDP gemeinsam auf, um die Unfähigkeit und die kriminellen Handlungen der Regierung zu geißeln. Nachdem die Vorsitzende der IYI Parti (eine Abspaltung der Nationalistischen MHP) Meral Aksener daraufhin das Wahlbündnis mit der CHP verließ, traten 90.000 Mitglieder innert kürzester Zeit aus der Partei aus: Ein eindrückliches Zeichen, wie oberflächlich die Ressentiments gegenüber der HDP und den Kurden selbst in der rechten Wählerschaft in Wirklichkeit sind.
Doch die entscheidende Entwicklung spielte sich nicht auf Ebene der Wahlbündnisse ab. Es war die Arbeiterklasse, die angesichts der Erdbebenkatastrophe gegen den aktiven Widerstand der Behörden und der Bosse das Heft in die Hand nahm. Mehr als 10.000 Bergarbeiter haben sich selbstorganisiert in die Krisenregion aufgemacht, um dort mit ihrem Fachwissen zu helfen.
Arbeiter des Gesundheitswesens waren vor Ort, um die Verletzten zu behandeln; Boten haben verkündet, sie würden Hilfsgüter auf Motorrädern über unwegsame Straßen führen; Post- und Fernmeldebedienstete haben gespendet, Arbeiterinnen einer Textilfabrik haben Extraschichten geleistet, um Decken für die Überlebenden herzustellen.
Architekten, Tischler, Metallarbeiter, Schweißer und Spengler haben sich zusammengetan, um transportable Behausungen für die Überlebenden zu bauen. Lehrer organisierten Unterricht für Kinder und ebenso Zentren für psychische Gesundheit und Rehabilitation.
Kurz: Die Arbeiterklasse hat bewiesen, dass sie angesichts der größtmöglichen Katastrophe zu enormen organisatorischen Leistungen imstande ist. Ganz ohne bürokratische Hürden, und erst recht ohne Rücksicht auf nationale Vorurteile.
Diese Haltung mag auch auf die Parteien der Opposition Druck ausüben, nachdem diese Millionen Mitglieder haben, die nicht selten selbst Arbeiter sind. Doch letztlich wird keine Regierung auf Basis des Kapitalismus den wirtschaftlichen Niedergang der Türkei und die Verarmung der Arbeiterklasse aufhalten können. Er hat den Massen nur noch Elend, Terror und Krieg zu bieten. Vage Hoffnung auf Demokratie kann die Völker der Türkei und des Nahen Ostens nicht in die Freiheit führen – im Gegenteil: Erdoğan wird eine Niederlage nicht einfach „fair“ akzeptieren, und selbst ohne ihn kann der türkische Kapitalismus auf syrische Kinderarbeit, imperialistische Interventionen in den Nachbarländern oder den Terror gegen die Kurden nicht verzichten.
Nur die Arbeiterklasse hat ein Interesse daran, die nationale Unterdrückung zu beenden, politische und kulturelle Freiheiten zu garantieren. Nur sie kann sichere Behausungen und ein Leben in Wohlstand garantieren. Sie hat das eindrücklich bewiesen. Die Linke in der Türkei braucht daher eine von allen Bürgerlichen unabhängige, eine revolutionäre Perspektive der Arbeiterklasse.
(Funke Nr. 213/24.4.2023)