Die Berliner Großdemonstration und Kundgebung gegen die Corona-Politik der Bundesregierung am 29. August war ein moralischer Sieg für Rechte und Neonazis. Wieso haben die Demos derzeit Erfolg, und was ist die Aufgabe der Linken? Ein Artikel des Funke in Deutschland, von Hans-Gerd Öfinger.

Bilder von Faschisten, die mit der Reichsflagge (Symbol des 1918 durch die Revolution gestürzten Kaiserreichs und der Nazi-Diktatur 1933-45) in der Hand den Treppenaufgang zum Reichstagsgebäude besetzten, machen weltweit die Runde und lösen vor allem bei Antifaschisten Alarmstimmung aus. 

Derartige symbolische Bilder dienen auch dazu, die rechte Szene zusammenzuschweißen. Schließlich dürften an diesem Tag mehr Angehörige der extremen Rechten vereint und unbehelligt durch die Bundeshauptstadt marschiert sein als in den letzten Jahren. Die in vielen anderen kritischen Artikeln über die Demo aufgeführte Liste prominenter Faschisten und Rassisten, die in Berlin mittendrin waren, liest sich wie ein aktuelles „Who is who“ der extremen Rechten in Deutschland.

Die von der Organisation „Querdenken 711“ angemeldete und organisierte Großveranstaltung bot den Faschisten und Rassisten aus AfD, NPD, Identitären, Antisemiten, Reichsbürgern und Co. eine willkommene Kulisse, um „wie ein Fisch im Wasser zu schwimmen“ und sich als fester Bestandteil einer vermeintlichen „Volksbewegung“ gegen eine angeblich von der Bundesregierung ausgehende „Corona-Diktatur“ in Szene zu setzen. Seit Jahren versuchen diese Kreise – mehr oder weniger ohne durchschlagenden Erfolg – sich an Bewegungen und Stimmungen anzubiedern und sich diese zunutze zu machen. So etwa, als sie erfolglos im vergangenen Jahr die Form der französischen Gelbwesten-Bewegung zu kopieren suchten. Doch jetzt könnten sie damit ein stärkeres Echo als bisher finden. Ihnen kommt entgegen, dass der Stuttgarter Softwareunternehmer Michael Ballweg, Gründer und Anführer von „Querdenken 711“ behauptet, seine Bewegung sei „weder links noch rechts“, sondern breit und bunt. Gleichzeitig lässt er ausdrücklich Kader der extremen Rechten mitmarschieren.

Die in einer tiefen Krise steckende AfD wittert wieder Morgenluft. So marschierten auch viele Mitglieder und Mandatsträger aus ihren Reihen in Berlin mit. Mehrere aufmerksame Beobachter berichteten, dass auch Aktive aus dem AfD-Jugendverband Junge Alternative an der Erstürmung der Reichstagstreppe beteiligt gewesen seien, die am Nachmittag abseits der großen Kundgebung stattfand. Spekulationen, wonach etliche V-Leute des Verfassungsschutzes an dieser Aktion federführend beteiligt waren, machen die Runde.

Verschwörungstheorien und „Kampf gegen Totalitarismus“?

Aber was will diese Bewegung überhaupt und welche Perspektiven hat sie? Wer auf der Website der Querdenken-Initiative nach einem Selbstverständnis und politischen Programm sucht, wird dort nicht fündig. Gemeinsamer Nenner der Bewegung ist offenbar der vage Anspruch, Freiheit, Demokratie und Grundgesetz gegen eine drohende „Corona-Diktatur“ zu verteidigen. Dem liegt die Ansicht zugrunde, dass das Corona-Virus eigentlich ein ganz harmloser Schnupfen wäre und dass eine Verschwörung von Regierungen und Milliardären wie Microsoft-Gründer Bill Gates Angst schüre, um eine Diktatur zu errichten.

Als Kronzeuge diente der eigens aus den USA eingeflogene „Starredner“ Robert Kennedy, ein Neffe des früheren US-Präsidenten John F. Kennedy und Unterstützer der „Anti-Impf-Bewegung“ in den USA. Er behauptete in seiner Rede, „dass Leute wie Bill Gates and Anthony Fauci diese Pandemie seit Jahrzehnten geplant haben, die sie jetzt über uns gebracht haben“. Sein Onkel habe 1963 in West-Berlin die „Front gegen den Totalitarismus gestärkt“ und in diesem Sinne sei Berlin mit dieser Demonstration auch heute wieder „die Front gegen den Totalitarismus“, so der Antikommunist Kennedy.

Einer, der am Rande der Kundgebung stolz mit Kennedy ein Selfie produzierte und ebenfalls in Berlin zu Wort kam, war der Journalist und Publizist Ralph T. Niemeyer. Er war vor einigen Jahren von der LINKEN in die SPD übergetreten und beschreibt sich selbst als „Marxist“ und „Antifaschist“. Niemeyer bemühte sich darum, den linken Flügel der „Querdenken“-Demo darzustellen. In einem Youtube-Video vor der Demo fand er sich damit ab, dass auch die AfD und der Faschist Björn Höcke zur Teilnahme aufgerufen hatten.

„Es fällt mir schwer vorzustellen, dass auch ein Höcke zur Demonstration aufruft. Ich werde nicht mit ihm Seite an Seite schreiten. Ich werde ihn nicht begrüßen. Aber wir können nicht bestimmen, wer zu einer Demo kommt. Was wir können ist klar unsere Meinung vertreten und damit deutlich machen, dass die Mehrheit freiheitlich und demokratisch denkt“, so Niemeyer, der die Rolle eines Alibilinken spielt, um Menschen zu binden, die sich selbst als „links“ einstufen.

Dass ein derart breites Gemisch aus Leuten unterschiedlichster Gesinnung und Klassenzugehörigkeit, Neonazis, religiösen Sektierern, Esoterikern, Impfgegnern, Corona-Verharmlosern, alternden Hippies, egoistischen Partylöwen, Ballermanntouristen, Kleinunternehmern, Menschen in prekären Jobs, durch den Lockdown überforderten Alleinerziehenden und Eltern kinderreicher Familien, verzweifelten Kleinbürgern und „Normalbürgern“ aus der Nachbarschaft zu einer einheitlichen und stabilen Massenbewegung zusammengeschweißt werden könnte, ist indes äußerst unwahrscheinlich. Es fehlt schlicht und einfach der Kitt eines klaren Programms und einer klaren Klassen-Orientierung.

Kapitalismus und Corona

Wer sich nüchtern an die ersten Wochen und Monate des Jahres 2020 erinnert, kann Kennedys Aussagen von einer jahrelang durch Gates und Co. geplanten Pandemie als Vorwand für die kaltblütige Etablierung einer Diktatur nach Masterplan nicht nachvollziehen. Die Ausbreitung des Corona-Virus hat viel mit der Zerstörung von Wildtier-Lebensräumen und kapitalistischer Massentierhaltung zu tun.

Tatsache ist, dass westliche Regierungen, Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und auch Experten wie etwa die Spitze des Robert-Koch-Instituts wochenlang das Virus als rein chinesisches Problem verharmlosten. So verstrichen mindestens zehn wertvolle Wochen, in denen es vielleicht möglich gewesen wäre, mit drastischen Maßnahmen die vor allem von den Hotspots ausgehende Ausbreitung über Geschäftsreisende und Touristen weitgehend zu stoppen.

Doch aus Profitgründen wollten die italienischen Kapitalisten ebenso wenig den Betrieb einstellen wie die Bergbahnbetreiber im österreichischen Ischgl (Tirol). Es war die spontane Streikbewegung von um ihre Gesundheit besorgten Arbeitern in italienischen Fabriken, die unter dem Motto „Wir sind kein Schlachtvieh“ einen Produktionsstopp erzwang. Diese Bewegung fand auch in Frankreich, Spanien und anderswo ein Echo.

Die Regierenden wirkten wochenlang eher wie Getriebene und Dilettanten, die nicht genügend Mund-Nase-Schutzmasken und Desinfektionsmittel auftreiben konnten und sich nach wochenlanger Untätigkeit nicht dem Vorwurf aussetzen wollten, keine wirksamen Maßnahmen gegen die Pandemie zu ergreifen und somit das Leben von Menschen leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Eine demokratische Planwirtschaft im Rahmen eines sozialistischen Europa hätte in den entscheidenden Wochen solidarisch den betroffenen Hotspots wie etwa der Region um Bergamo geholfen und hierfür alle Ressourcen mobilisiert. Doch Bundesregierung und EU verweigerten damals Italien die Solidarität.

Sicher nehmen Bürgerliche und Kader im Staatsapparat die Corona-Einschränkungen zum Vorwand, um die Arbeiterklasse in die Defensive zu drängen, demokratische Rechte und Schutzbestimmungen auszuhebeln und die Vermögensumverteilung von unten nach oben zu verstärken. Streiks, Kundgebungen und Demonstrationen müssen weiter gehen. Gewerkschaften und linke Organisationen müssen selbst dafür sorgen, dass dabei die Hygienevorschriften eingehalten werden.

Die Pandemie war und ist allerdings nur der Brandbeschleuniger einer kapitalistischen Wirtschaftskrise, die sich schon im vergangenen Herbst abgezeichnet hat. Wenn jetzt nicht nur Millionen Arbeiter, sondern auch Kleinunternehmer und Soloselbstständige um ihre Existenz bangen, so ist daran nicht das „Corona-Regime“ schuldig, sondern der real existierende Kapitalismus. Die Verdrängung kleiner Läden und Klitschen durch große Ketten und Konzerne ist seit vielen Jahren voll im Gange. Jede Krise ruft auch Spekulanten und Krisengewinnler auf den Plan, die sich an der Krise gesundstoßen wollen. Demgegenüber bleiben viele Verlierer auf der Strecke, die ihre Arbeit und Existenzgrundlage verlieren, aus dem Alltagstrott gestoßen werden und darüber verzweifeln.

Tiefere Missstände: Schon vor Corona war die Welt nicht in Ordnung

So hat die Pandemie alles verschärft an die Oberfläche gebracht, was ohnehin schon in dieser Klassengesellschaft vorhanden war: Unrecht, Ungleichheit, Widersprüche, Skandale und Missstände in allen Bereichen der Gesellschaft, gerade auch im Gesundheits- und Bildungswesen. Wer als Obdach- und Wohnungsloser kein Zuhause hat, konnte im Frühjahr auch schwer den amtlichen Rat „Bleibt zu Hause“ beherzigen. Die Ungleichheit der Bildungschancen nimmt drastisch zu. Kinder ohne PC,WLAN und bei den Hausaufgaben helfende Eltern fallen zurück. Eine neue No-Future-Generation wächst heran.

Es ist auch eine Frage der Klassenzugehörigkeit, wer einem höheren Risiko ausgesetzt ist und wie Infizierte behandelt werden. So wurde im Frühjahr alles in Bewegung gesetzt, um schlecht bezahlte Erntehelfer einzufliegen. Die Pandemie hat das Elend der Werkvertragsarbeiter in deutschen Schlachthöfen und die Zustände in den Unterkünften offen gelegt. Textilarbeiterinnen in Bangladesch waren trotz Ansteckungsrisiko gezwungen, zu arbeiten. In den USA haben Millionen Menschen keine Krankenversicherung und in Afrika sind viele Millionen faktisch von jeder ärztlichen Versorgung abgeschnitten. Dass Deutschland mit „nur“ 9300 Corona-Toten bislang relativ glimpflich davon gekommen ist, darf den Blick darauf nicht verstellen, dass es in anderen Ländern (Brasilien, USA, Spanien) schon jetzt weit katastrophalere Ausmaße gibt.

Die Corona-Pandemie hat einen Wendepunkt eingeleitet und angesichts der jetzt angebrochenen globalen Kapitalismuskrise stehen massive Erschütterungen an. Jeder Vergleich hinkt, aber auch die Pest, die Millionen Menschen hinraffte, beschleunigte im ausgehenden Mittelalter den Niedergang des Feudalismus. Die Krise erfasst zunehmend alle Lebensbereiche und untergräbt Lebensstandard, Lebensqualität, natürliche Lebensgrundlagen und den Zusammenhalt der Gesellschaft.

Kein Regime, keine Regierung ist wirklich stabil. Das auf privatem Profit basierende kapitalistische System hat der Masse der Bevölkerung keine sichere Zukunft anzubieten. Unbehagen macht sich breit und drückt sich nicht immer in fortschrittlicher Form aus, vor allem dann, wenn keine fortschrittliche Alternative angeboten wird. Solche Zeiten rufen auch immer Zufallsfiguren auf den Plan, die davon träumen, an der Spitze von Massenbewegungen Politiker zu werden, Karriere zu machen und in künftige Geschichtsbücher einzugehen.

Klasse gegen Klasse – Vakuum füllen, Offensive starten!

Dass die vermeintlichen „Querdenker“ mit ihrem Traum von einer „Volksbewegung“ sich jetzt überhaupt so stark in Szene setzen und Nazis sich anbiedern können, ist in erster Linie einem Vakuum geschuldet. Viele Millionen Menschen werden von Existenzängsten und einem großen Unbehagen erfasst und suchen nach Antworten, Erklärungen und einer starken Bewegung, die die Verhältnisse in ihrem Sinne verändert. Das wäre die Stunde der Gewerkschaften, der LINKEN und ihrer Basis.

Sie haben die Verantwortung, der arbeitenden Klasse und Masse der Bevölkerung einen Weg aufzuzeigen. Sie dürfen nicht als verlängerter Arm der Bundesregierung, des Staatsapparats und der Kapitalistenklasse in Szene treten und müssen die konsequentesten Verteidiger sozialer und demokratischer Rechte sein. Mit einer sozialpartnerschaftlichen und prokapitalistischen Politik drohen große Niederlagen.

Die Frage, welche Klasse für die Krise und die versuchte Krisenbewältigung bezahlen soll, stellt sich in den kommenden Monaten und Jahren mit aller Wucht. Eigentlich brodelt es an allen Ecken und Enden. Tagtäglich erreichen uns Berichte über defensive Kämpfe gegen Entlassungen und Betriebsschließungen. Die Krise bringt Missstände im privatisierten und kaputt gesparten Gesundheitswesen ebenso wie im Bildungswesen knallhart auf den Punkt.

  • Nicht nur Bill Gates gehört enteignet, sondern alle großen Konzerne, für die Krankenhäuser, Pharmaproduktion, Forschung und Krankheiten ein profitables Geschäft sind.
  • Immer mehr Menschen vor allem in großen Städten haben Angst um ein bezahlbares Dach über dem Kopf, weil der Soziale Wohnungsbau kaputt gespart wurde und profitgierige Spekulanten und Immobilienhaie das Wohnungswesen beherrschen.
  • Die anlaufenden Tarifrunden für den Öffentlichen Dienst und die öffentlichen Nahverkehrsunternehmen müssen der Ausgangspunkt für eine breite Gegenwehr sein. Statt Vereinzelung defensiver Kämpfe müssen wir alle Kräfte bündeln und konzentrieren. Der DGB als Dachverband von acht maßgeblichen Gewerkschaften muss bundesweit in allen Kreisen und großen Städten Beschäftigte aller Branchen, Mitglieder aller Gewerkschaften, Jugendliche aus Schulen und Hochschulen und prekär beschäftigte Wanderarbeiter aus Schlachthöfen, Baubranche und Landwirtschaft zu gemeinsamen Kundgebungen mobilisieren.
  • Um ihre Arbeitsplätze kämpfende Belegschaften müssen mit regelmäßigen Besuchen und Solidaritätskomitees aktiv unterstützt und aus der Vereinzelung gerissen werden.
  • Der kommende weltweite Aktionstag der Fridays for Future-Bewegung, Solidaritätsaktionen mit der US-amerikanischen Black Lives Matter-Bewegung sowie antifaschistische und antirassistische Initiativen müssen Seite an Seite mit Gewerkschaftern marschieren.

Uns kommt derzeit zugute, dass laut RTL/ntv-Trendbarometer von Anfang August 91 Prozent der befragten Bundesbürger und sogar 94 Prozent der 18- bis 29-Jährigen kein Verständnis für die Anti-Corona-Proteste haben und nur neun Prozent der Gesamtbevölkerung sich „verständnisvoll“ gezeigt hätten. „Während die Anhänger fast aller Parteien den Protesten mit großer Mehrheit ablehnend gegenüberstehen, begrüßen 59 Prozent der AfD-Anhänger die Demonstrationen“, so die Meldung.

Selbst wenn dies dem derzeitigen Stimmungsbild entsprechen sollte, dürfen wir uns aber nicht für alle Zeiten in Sicherheit wiegen, dass die Unterstützung der Corona-Maßnahmen immer so breit sein wird wie derzeit – vor allem wenn es im Winterhalbjahr zu einer von der Bundeskanzlerin angedeuteten Verschärfung der Corona-Maßnahmen kommen könnte und Existenzängste und psychische Probleme vieler Menschen zunehmen. Der Unmut wird wachsen und sich äußern. Gewerkschaften und LINKE haben die Aufgabe, diese Stimmungen aufzugreifen – mit einem klaren Programm, das die realen handfesten Probleme anpackt und löst.

Umso dringlicher brauchen wir ein sozialistisches Programm und müssen mit griffigen, verständlichen Parolen erklären, dass die Kommandozentralen der Wirtschaft, Banken, und Großkonzerne in öffentliche Hand überführt und unter die Kontrolle der Beschäftigten gestellt und transparent geführt werden müssen. So werden die Grundlagen geschaffen, um allen Menschen ein weitgehend sorgenfreies Leben ohne Angst vor Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Verdrängung, Umweltkatastrophen, Bevormundung und Diskriminierung zu sichern.

Wer eine lebenswerte Welt schaffen will, muss den Kapitalismus besiegen. Wenn wir in diesem Sinne kämpfen, einen starken gesellschaftlichen Gegenpol aufbauen und die positive Vision und Vorzüge einer sozialistischen Demokratie konkret erklären, dann brauchen wir keine Angst vor Zufallsgestalten um die „Querdenker“ zu haben. Es ist auch der beste und wirksamste Beitrag, um AfD, NPD, Identitären, Antisemiten, Faschisten, Rassisten, Reichsbürgern und Co. für immer den Nährboden zu entziehen.


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