Am 5. Juli 2015 stimmten 61,3 % der GriechInnen gegen die Weiterführung des Spardiktat der EU. Knapp eine Woche später akzeptierte die Linkspartei und ihr Parteichef Tsipras, die genau in Opposition zu dieser Politik gewählt wurden, die brutalsten Sparmaßnahmen: Ein offener, politischer Verrat. Anlässlich des Jahrestags des Referendums veröffentlichen eine Analyse der Kommunistischen Strömung (griechische Sektion der IMT) aus dem Juni 2016.
Der Text ist ein Auszug des politischen Dokuments, das auf dem Kongress der Kommunistischen Strömung im Juni 2016 beschlossen wurde. Es ist eine gesamthafte marxistische Analyse der politischen Ursachen, die die Führung von SYRIZA dazu brachten, das selbstbewusste „Nein“ des Volkes zu verraten und bietet einen Rückblick auf die wichtigsten Schritte im Entwicklungsgang dieses Prozesses.
Die Reformisten in der Regierung: Vom Bankrott bis zum Verrat
Der Wahlsieg von SYRIZA im Januar 2015 hatte den Charakter einer mächtigen Mehrheitsströmung in den großen Städten, den Arbeitervierteln und der Jugend. Er war das Ergebnis der politischen Radikalisierung der Arbeiterklasse und der armen Volksschichten durch die tiefe Krise des griechischen Kapitalismus und die Explosion der Klassenkämpfe in der Periode 2010-2013. Trotz der mutlosen, sozialdemokratischen Politik der Parteiführung war dieser Wahlsieg einer Partei, die wenige Jahre zuvor bei Wahlen kaum 3-4% erreicht hatte, eine glasklare Widerspiegelung der revolutionären Prozesse, die sich in der Gesellschaft vollziehen.
Im Gegensatz zu den hilflosen Erklärungsversuchen der Bürgerlichen und Reformisten war der Wahlsieg von SYRIZA nicht der rechten, „realistischen“ Wende zu verdanken, die die Parteiführung ab 2012 vollzogen hatte. Diese Wende hat den Wahlsieg vielmehr verzögert und abgeschwächt. Wenn zu Beginn der Memorandenperiode und ihrer großen Klassenkämpfe an der Stelle von „SYRIZA mit 4%“ eine echte revolutionär-marxistische Partei mit derselben Anzahl von Mitgliedern und mit demselben gesellschaftlichen Einfluss gestanden hätte, dann hätte sie die Arbeitermassen begeistern und mobilisieren können, indem sie ihnen ein Programm radikaler Lösungen für ihre Probleme geboten hätte. Eine solche Partei hätte eine viel breitere und stabilere Unterstützung im Volk erlangen können als die reformistische SYRIZA. Sie hätte die Arbeiterklasse an die Macht gebracht – und das wahrscheinlich noch viel früher als im Januar 2015.
Gleichzeitig hätte eine revolutionäre Partei mit einer wirklich proletarischen, internationalistischen Politik in Europa und weltweit mächtige Wellen der Solidarität und Radikalisierung ausgelöst. Das internationale Echo der schüchternen, sozialdemokratischen Politik der Führung von SYRIZA steht zu einer revolutionär-marxistischen Politik wie ein kraftloser Funke zu einer unkontrollierbaren Feuersbrunst.
Wir Marxisten waren die einzigen, die von der raschen Degeneration der Führung von SYRIZA in der Regierung nicht überrascht waren. Früher als alle anderen hatten wir erklärt, dass ihre großen Illusionen in den Kapitalismus sowie ihr Karrierismus die Reformisten zwangsläufig in die Arme der Troika und der herrschenden Klasse treiben und sie von entschlossenen Gegnern der Memoranden zu deren Verteidigern machen würden.
Der offene Verrat an den Interessen der Arbeiterklasse ist wesentlich für die Ideen des Reformismus. Vergessen wir nicht, dass diese Ideen nicht das Produkt irgendwelcher „Missverständnisse“ über den wissenschaftlichen Sozialismus sind, sondern der politische Ausdruck des gewaltigen Druckes des Klassenfeindes und der herrschenden Vorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft auf die Arbeiterbewegung.
Die Bildung der Regierungskoalition mit der rechtsextremen ANEL und die Wahl des Konservativen P. Pavlopoulos zum Staatspräsidenten waren die ersten öffentlichen Anzeichen der Unterwerfung der SYRIZA-Führung unter die herrschende Klasse. ANEL war kein „notwendiges Übel“ in der Regierung zur Sicherung einer parlamentarischen Mehrheit. Ebenso wenig war Pavlopoulos als Präsident ein Manöver zur Spaltung seiner Partei, der ND, wie viele gutgläubige Aktivisten sich von der Führung einreden ließen. Das bürgerliche Gesindel von ANEL als Regierungspartner und der rechte Bourgeois als Staatspräsident waren die Garantie der SYRIZA-Führung für die Bourgeoisie, mit denen sie ihr zusicherte, dass sie die Lebensinteressen des griechischen Kapitalismus treu verteidigen würde.
Der Weg, der zur empörenden Verwandlung des „Nein“ im Referendum in ein „Ja“ führte, hatte also schon am Wahltag im Januar 2015 begonnen – mit der Verwandlung des glasklaren Mandates zur Bildung einer linken Regierung in ein grünes Licht zur Bildung einer Regierung der Klassenzusammenarbeit, oder in der alten stalinistischen Terminologie, einer „Volksfrontregierung“, sowie mit der Besetzung des höchsten Amtes der bürgerlichen Demokratie in Griechenland mit einem ehemaligen ND-Minister. Mit anderen Worten: Die Tsipras-Clique hatte schon in den ersten Tagen ihrer Regierungsbildung gezeigt, wozu sie fähig war – mit völliger Zustimmung seitens der späteren LAE-Führung [LAE ist eine Linksabspaltung von SYRIZA die sich im August 2015 als Reaktion auf den Verrat der rechten Parteiführung gegründet hat; Anm.].
Die Basis, auf der die beiden Hauptströmungen in der SYRIZA-Führung in der Regierung zusammenarbeiteten, war eine unausgesprochene, gemeinsame „Arbeitshypothese“, deren Existenz aus ihrer praktischen politischen Haltung abgeleitet werden kann. Sowohl die „europäisch“ orientierten Reformisten um Tsipras als auch die „Patrioten“ um Lafazanis gingen davon aus, dass die Drohung mit dem Austritt aus der Eurozone (geschmückt mit einem diplomatischen Flirt mit Russland, welches natürlich trotz der russophilen Fantasien der Führung der „Linken Strömung“ niemals ernsthaft als alternative Finanzierungsquelle in Betracht kam) die Gläubiger dazu bringen könnte, wenn schon nicht das ganze „Programm von Thessaloniki“ (daran hatte niemand in der Führung von SYRIZA je ernsthaft geglaubt), so doch ein paar wesentliche Zugeständnisse zu akzeptieren.
Beide reformistischen Gruppierungen gingen davon aus, dass dieses „Druckmittel“ geeignet sein würde, eine „milde“ Austerität zu erreichen, die in Verbindung mit einem Schuldenschnitt alle Seiten zufriedenstellen könnte: Die von den Memoranden erschlagenen Arbeitermassen, die schon erleichtert wären, wenn der Angriff auf ihren Lebensstandard auch nur nachließe, die „produktive“ und „nationale“ Bourgeoisie (ein völliges Hirngespinst), die die „patriotisch gesinnte Regierung“ unterstützen würde, aber auch die „internationalen Märkte“, die darauf vertrauen würden, dass sich der Kapitalismus in Griechenland stabilisiere und von seiner neuen, „linken“ Verwaltung nicht gefährdet werde.
Diese willkürlichen Annahmen bildeten das gemeinsame, unausgesprochene Konzept der Reformisten. Natürlich erwies sich dieses Konzept als völlig unbegründet und fatal für die Arbeiterklasse, wie wir frühzeitig vorhergesehen hatten. Die reformistischen Führer beider SYRIZA-Flügel glaubten, dass sie die Verhandlungen mit dem oben beschriebenen Ergebnis abschließen und sich daraufhin langfristig in der Regierung einrichten könnten, wie es auch den reformistischen Führern von PASOK in den 1980er und 1990er Jahren gelungen war. Ihr Vertrauen in den Kapitalismus und ihr Wunsch, ihn (natürlich gewinnbringend) zu verwalten, hatte sie geblendet.
Wie wir Marxisten allerdings seit Beginn der Krise erklären, unterscheidet sich die gegenwärtige Periode grundlegend von der Periode der keynesianischen und „milde“ neoliberalen Politik der zwei bis drei Jahrzehnte zuvor. Die Krise und der Verfall des Kapitalismus befinden sich in einer neuen, noch fortgeschritteneren Etappe, die einen harten und andauernden Angriff auf den Lebensstandard der arbeitenden Massen erzwingt.
In den 1980er Jahren waren die griechischen Staatsschulden erheblich geringer und der europäische und weltweite Kapitalismus standen in ihrer Blüte. Gewisse Zugeständnisse der PASOK-Regierung – und sei es auch nur an Teile der Arbeiterklasse und nur für einen bestimmten Zeitraum – waren dadurch möglich. Die stockende Verlängerung des internationalen Aufschwungs in den 1980er Jahren und in der ersten Hälfte der 2000er Jahre war in gewissem Maße auch eine Verlängerung der Manövrierfähigkeit der rechten Reformisten in der PASOK-Regierung. So wurde im Jahr 2001 unter dem Druck einer Reihe von Generalstreiks das Vorhaben einer Reform des Sozialversicherungssystems fallengelassen, und Konterreformen wurden immer weiter verlangsamt.
Ab 2008 veränderten sich die Bedingungen jedoch weltweit radikal. Wie die Erfahrung der ersten Memorandenregierung unter G. Papandreou zeigte, ist die Übernahme der Regierungsverantwortung im bürgerlichen Staat durch die Reformisten – und sei es auch nur für wenige Monate – unter den neuen Bedingungen der tiefen Krise gleichbedeutend mit der Übernahme der Verpflichtung zur Durchführung harter Sparprogramme zulasten der Arbeiterklasse. Daraus haben die Reformisten von SYRIZA nicht das Geringste gelernt. Der Entwicklungsgang der ersten SYRIZA-ANEL-Regierung – unaufhörliches Zurückweichen, wöchentliche Verletzungen ihrer eigenen „roten Linien – sollte diese Einschätzung eindrücklich bestätigen.
Um nicht in einen Konflikt mit den Bürgerlichen zu geraten und um die empfindliche „Stabilität“ des griechischen Kapitalismus und seinen Verbleib in der Eurozone nicht zu gefährden, verschob die erste SYRIZA-ANEL-Regierung die Verwirklichung ihres Programms in die unbestimmte Zukunft und stellte die Interessen des Kapitals – unter dem Deckmantel der „nationalen Interessen“ – über die Arbeiterklasse. Wie die Marxisten aber vorhergesehen hatten, reichte das nicht. Der Block der herrschenden Klasse und der Gläubiger verlangte nach völliger Unterwerfung und Demütigung. Es genügte nicht, dass die Führung von SYRIZA nur die Umsetzung ihres Programms verzögerte. Sie musste in der Regierung das exakt entgegengesetzte Programm umsetzen. Sie sollte nicht nur die Schlinge um den Hals des Volkes gewickelt lassen, sondern sie noch fester ziehen, als alle vorangegangenen bürgerlichen Regierungen sie gezogen hatten.
Diese Forderung hatte nicht nur die ökonomischen Gründe, die wir bereits ausgeführt haben. Sie ergab sich nicht nur aus der Schwäche des griechischen Kapitalismus und der allgemeinen Situation des europäischen Kapitalismus. Sie hatte auch politische Gründe. SYRIZA musste unterworfen und beispielhaft erniedrigt werden, um den arbeitenden Massen in ganz Europa klarzumachen, dass sie sich von jeder linken Partei, ja von jedweder Handlung oder Idee fernzuhalten hatten, die geeignet war, die Lebensinteressen des Kapitals in Zweifel zu ziehen.
Viel besser als die engstirnigen, provinzlerischen Reformisten verstehen die Bürgerlichen die kolossale internationale Bedeutung eines möglichen Bruchs einer linken Regierung in Griechenland mit der Troika und dem Kapitalismus. Wie wir Marxisten geduldig betonten, hätte ein solches Beispiel – als die Augen der ganzen Welt auf die Krise in Griechenland und die Qualen des griechischen Volkes unter den endlosen Austeritätsmemoranden gerichtet waren – sehr schnell gewaltige internationale Wellen der Unterstützung und Solidarität ausgelöst, die zumindest in Europa das Kräfteverhältnis der Klassen nachhaltig verschoben hätten.
Wie die vergangenen Monate gezeigt haben, gibt es in allen entwickelten Ländern eine (widersprüchliche, nicht geradlinige, uneinheitliche) Tendenz der politischen Radikalisierung der Massen. Das sehen wir an den linken Massenströmungen rund um Corbyn in Großbritannien und Sanders in den USA, an den Wahlerfolgen von Podemos in Spanien und an der Massenbewegung in Frankreich gegen die Arbeitsmarktreform.
Wenn SYRIZA in der Regierung, und sei es auch ohne vollständig ausgearbeitetes revolutionäres Programm, einen ernsthaften Widerstand gegen den Druck der Troika und des Kapitals dargestellt und die internationale Arbeiterklasse zu entschlossenem Beistand aufgerufen hätte, hätten diese Strömungen und Bewegungen sich erheblich verstärkt und wären zu einem deutlichen politischen Bezugspunkt geworden. Aber die griechischen Reformisten haben bewiesen, dass sie keinerlei Interesse an solch „abwegigen“ Überlegungen haben. Nach einer kurzen Schwankungsperiode beschlossen sie also, sich völlig dem „Naheliegenden“ zu widmen: Der Rettung der internationalen Position des griechischen Kapitalismus.
Wie und warum aber wurde Tsipras zum Referendum am 5. Juli getrieben? Noch bevor SYRIZA die Regierungsgeschäfte übernahm, blieb der Regierung in dem Moment, da sie akzeptieren musste, dass die Gläubiger ihr überhaupt keinen Verhandlungsspielraum lassen würden, keine andere Wahl, als Zuflucht zu einem Referendum zu nehmen, um sich der Verantwortung für die Unterwerfung zu entledigen und sie auf das Volk zu schieben. Die SYRIZA-Führer glaubten dem bürgerlichen Geschwätz, laut dem das griechische Volk den Euro stark unterstütze, und unterschätzten die radikale Entschlossenheit der Arbeiterklasse, der armen Volksschichten und der Jugend. Sie flüchteten sich ins Referendum, weil sie glaubten, dass das Ergebnis ihnen helfen würde, den Kompromiss zu legitimieren.
Tsipras hatte keine andere Wahl, als bei der Ankündigung des Referendums öffentlich für ein „Nein“ zu werben. Alles andere hätte sofort zur Spaltung von SYRIZA geführt und die Mehrheit im Parlament zerstört. Das Ergebnis des Referendums mit der überwältigenden Mehrheit für „Nein“ kam für die Tsipras-Clique völlig unerwartet. Am Abend des 5. Juli musste sie mit Entsetzen zur Kenntnis nehmen, dass sie Gefahr lief, einer offen revolutionären Situation ins Auge sehen zu müssen. Der Auftrag der Massen war schon auf den Großkundgebungen des 3. Juli deutlich geworden. Er lautete glasklar: Vorwärts zum Bruch mit der Troika! Nehmt die Schlinge der Memoranden von unserem Hals und wir werden jedes Opfer bringen, um euch zu unterstützen! Auf diesen Auftrag zu hören, hätte für die SYRIZA-Führung aber bedeutet, gerade in die revolutionäre Konfrontation zu gehen, die sie seit der Bildung ihrer Regierung um jeden Preis zu vermeiden versucht hatte.
Das Dilemma, von dem die Marxisten erklärt hatten, dass es unentrinnbar war, während die Reformisten sich selbst und die Massen einschläferten und es für ein „maximalistisches Hirngespinst“ erklärten, trat schließlich unübersehbar auf die Bühne und wurde zum Albtraum für die Tsipras-Clique: Revolutionärer Bruch oder demütigende Unterwerfung. Schon vor dem Referendum hatten verschiedene bürgerliche Elemente Tsipras direkt mit „Sondergerichten“ für den Fall gedroht, dass das Land zahlungsunfähig würde und aus dem Euro austräte. Als aufrechter karrieristischer Reformist war Tsipras nicht im Geringsten geneigt, sich auf solcherlei Abenteuer einzulassen. So flüchtete er eilig in die Arme der herrschenden Klasse, berief eine Beratung aller im Parlament vertretenen Parteien ein und unterschieb in aller Hast das dritte Memorandum, bevor die Massen noch richtig verstanden hatten, was geschah.
Die Quelle der Degeneration
Was Tausende arbeitende Menschen so entsetzt hat, waren nicht so sehr Tsipras‘ ständige Rückzieher in Bezug auf seine Wahlversprechen, sondern vielmehr die Tatsache, dass er so tief gesunken ist, selbst die Rolle des Henkers des werktätigen Volkes zu übernehmen, wo er doch auch hätte zurücktreten, sich doch hätte weigern können, seine Hände mit dem Blut derer zu beschmutzen, die ihn in die Regierung gebracht hatten. Es ist nicht einfach zu verstehen, woher dieses Ausmaß, diese Tiefe der Degeneration kommen.
Viele Funktionäre der Linken, darunter viele alte Mitarbeiter Tsipras‘, die die Warnungen der Marxisten als „Anzeichen böswilligen Misstrauens gegenüber der Führung“ verunglimpft hatten, haben nun scheinbar eine Erklärung für diese Degeneration in der Annahme einer ausgeklügelten, langjährigen Verschwörung gefunden. Beispielsweise hat Zoe Konstantopoulou kürzlich in einem Interview auf dem Fernsehsender SKAI erklärt, Tsipras habe „die Sache schon verkauft, bevor er überhaupt Premierminister wurde“.
Unabhängig davon, wie viel oder wenig Wahrheit darin stecken mag, ist eine „Erklärung“ dieser Art in letzter Instanz nur dazu geeignet, Tsipras persönlich schuldig und den Reformismus aber freizusprechen. Im Gegenteil: Nur wenn wir Tsipras‘ Haltung als Symptom und Produkt des allgemeineren politischen und klassenmäßigen Wesens des Reformismus auffassen, können wir ihre wirkliche Grundlage begreifen, ohne in eine „faktenorientierte“, empirische Untersuchungsmethode zu verfallen, die letztendlich nur dazu führen kann, den führenden Persönlichkeiten übertriebene, metaphysische Eigenschaften und Fähigkeiten zuzuschreiben.
Überhaupt erklärt die Annahme, Tsipras habe nur einen im Voraus geplanten Verrat ausgeführt, nicht, warum er dazu diesen so verschlungenen Weg gehen musste; warum er seine Wahlversprechen nicht auf eine direktere, wirtschaftlich und politisch für den griechischen Kapitalismus weniger verheerende Weise verraten hat, ohne dabei Kapitalverkehrskontrollen einzuführen und die Entstehung einer offen revolutionären Situation im Juli zu riskieren. In Wirklichkeit war Tsipras‘ Verrat nicht das Ergebnis einer wohlüberlegten Planung, sondern die Folge einer verräterischen, reformistischen Politik, die von Schwankungen, Improvisationen und oberflächlichen Einschätzungen über die wahre Situation der Klassen und über das Kräfteverhältnis zwischen ihnen geprägt war.
Andererseits war die Quelle einer Degeneration derartigen Ausmaßes mit Sicherheit nicht nur der Reformismus allein. Wenn es ausreichen würde, reformistische Ideen zu vertreten, um so extrem zu degenerieren, dass man die Rolle des Henkers der Rechte und des Lebensstandards des arbeitenden Volkes annimmt, dann müsste man hunderttausende, ja Millionen Arbeiter, die an die Losungen und die Ideen des Linksreformismus glaubten und glauben, nicht für potenzielle Protagonisten der sozialistischen Revolution, sondern für allesamt moralisch verkommene Verräter ihrer Klasse halten.
Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen dem Reformismus der Arbeiter und dem Reformismus – nicht der Arbeiterführer im Allgemeinen, sondern der bürokratisch-karrieristischen Führer. Die Marxisten müssen diesen Unterschied unbedingt unter allen Umständen berücksichtigen. Der Reformismus der einfachen Arbeiter reflektiert die gute Absicht, so einfach und friedlich wie möglich die Gesellschaft zu verändern. Der Reformismus der karrieristisch-bürokratischen Führer reflektiert den Wunsch, so einfach wie möglich an die Privilegien eines Handlangers der herrschenden Klasse zu kommen – auf Kosten der einfachen reformistischen Arbeiter.
Die Quelle der extremen Degeneration, die Tsipras dazu brachte, nicht nur Zugeständnisse zu machen, sondern die Seiten zu wechseln und das Memorandum auf Kosten der Arbeiterklasse umzusetzen, widerspiegelt den bürokratischen und karrieristischen Charakter seines Reformismus. Wenn ein durchschnittlicher, einfacher reformistischer Arbeiter sich an Tsipras‘ Stelle befunden hätte, hätte er nicht zugestimmt, Löhne und Pensionen seiner Kollegen, Nachbarn und Verwandten zu kürzen. Ein karrieristisch-bürokratischer reformistischer Führer aber kann sich aus einem Gegner der Memoranden in ihren Verteidiger und Beschützer verwandeln, mit derselben Leichtigkeit, mit der ein Fahrgast aus einem Waggon eines Zuges in den nächsten hinüberwechselt.
Der Reformismus des einfachen Arbeiters ist authentisch und konsequent. Der ehrliche Wunsch, Reformen für seine Klasse zu erringen, treibt den einfachen Arbeiter im Entwicklungsgang des Klassenkampfes zum Zusammenstoß mit dem bürgerlichen Staat und zur Überwindung seiner Illusionen in die bürgerliche Demokratie und in ihre Fähigkeit, sein Recht auf ein Leben in Würde im Rahmen des Kapitalismus zu verwirklichen. Der Reformismus der bürokratisch-karrieristischen Führer hingegen wird von der Entwicklung des Klassenkampfs zunächst deformiert und schließlich ausgelöscht, wenn er in Konflikt mit ihrem organischen Bedürfnis tritt, sich an den bürgerlichen Staat zu binden, sich ihm anzupassen, Zugang zu den gewinnbringenden Mechanismen der bürgerlichen Demokratie zu finden. Mit anderen Worten: Der durchschnittliche, einfache Arbeiterreformist hat durch die Erfahrung des Klassenkampfs die organische Tendenz, bewusst oder unbewusst schließlich zu einem Revolutionär zu werden. Der durchschnittliche bürokratisch-karrieristische Reformist hat die organische Tendenz, als ein jeglicher reformistischen Verkleidung entblößter Verräter zu enden.
Alexis Tsipras ist weder der erste noch der letzte Führer dieser Art in der Geschichte der griechischen und internationalen Arbeiterbewegung. Er ist ein authentischer Nachfolger des „Werks“ von G. Papandreou, E. Venizelos, K. Simitis, C. Florakis, L. Kyrkos und ihresgleichen sozialdemokratischer oder stalinistischer griechischer Arbeiterführer, die zur extrem degenerierten Nachkriegsgeneration solcher europäischer Führer wie Mitterand, Schmidt, Carrillo, Berlinguer und Blair gehören, die sich alle der Reihe nach als „würdige“ Erben der Verräter erwiesen, die vor dem Krieg aus den Reihen der Sozialdemokratie und des Stalinismus hervorgegangen waren – Leute wie Scheidemann, Blum und Diaz.
Verrat und „Verhandlung“
Wie können wir nach alldem die Taktik der sogenannten „harten Verhandlung“ mit den Gläubigern charakterisieren, die die hauptsächliche politische Aktivität beider SYRIZA-ANEL-Regierungen ausgemacht hat? Zweifellos war und ist die Taktik der „Verhandlung“ für die Tsipras-Clique ein Mittel zur Einschläferung und Ablenkung der Arbeiterklasse von ihren klassenmäßigen und politischen Aufgaben. Gleichzeitig ist sie ein Produkt ihrer organischen Ängstlichkeit, ihres Unwillens, die herrschende Klasse und die Troika wirklich zu konfrontieren, und ihrer gleichermaßen organischen Furcht vor der revolutionären Aktion der Massen. Es wäre jedoch ein Fehler und zugleich eine Vereinfachung, diese Taktik von ihren Anfängen bis heute als eine einzige Theateraufführung zu bezeichnen.
Wir können die Taktik der sogenannten Verhandlung in drei Etappen einteilen.
- Erste Etappe: Von der Bildung der ersten SYRIZA-ANEL-Regierung bis zur Entfernung von G. Varoufakis als Verhandlungsführer (25. Januar bis zur Eurogruppe in Riga Ende April 2015).
- Zweite Etappe: Von der Entfernung Varoufakis‘ bis zur Unterzeichnung des Memorandums.
- Dritte Etappe: Von der Unterzeichnung des Memorandums bis heute (2016).
In der ersten Etappe folgte die Regierung der sogenannten „Varoufakis-Doktrin“. Hier weiß die Regierung, dass sie am Ende auf jeden Fall einen Kompromiss eingehen wird, glaubt aber ehrlich (bzw. idiotisch) an die Möglichkeit eines „ehrenhaften Kompromisses“, also an eine schonende Vereinbarung, die es den Reformisten-Karrieristen erlauben wird, für lange Zeit an der Macht zu bleiben, indem sie eine für alle Klassen zufriedenstellende, die Stabilität des griechischen Kapitalismus sichernde „success story“ präsentiert. Die „Varoufakis-Doktrin“ stützte sich auf eine Reihe von Illusionen: Illusionen in die Möglichkeit, die Gläubiger zum Vorteil Griechenlands zu spalten, Überschätzung der keynesianischen Neigungen der EZB hinsichtlich der griechischen Staatsschulden und der Banken, Überschätzung der „freundschaftlichen Gefühle“ des amerikanischen und französischen Imperialismus, Überschätzung der Angst der Gläubiger vor der Perspektive eines Austritts Griechenlands aus der Eurozone. All das erwies sich als realitätsfremd, und so war das einzig reale Element dieser Doktrin am Ende der Narzissmus des „Spieltheoretikers“ und die Dummheit der Tsipras-Clique, die auf den Erfolg dieser Spielchen ihre Karrieren verwettet hatte.
In der zweiten Etappe hat die Regierung nunmehr hingenommen, dass sie ein hartes Memorandum unterschreiben wird und ihre Verhandlungstaktik beläuft sich einfach auf die politische Umsetzung des Verrats. In diesem Rahmen flüchtet sie, aus den oben erklärten Gründen, ins Referendum.
In der dritten Etappe, die (2016) noch andauert, stellen sich die Dinge klarer dar. Die „Verhandlung“ hat jetzt einfach und zynisch den Zweck, die SYRIZA-ANEL-Regierung so lang wie möglich an der Macht zu halten und die harten Maßnahmen „hübsch“ darzustellen, indem das Bild eines Pseudo-Widerstands gezeichnet wird, indem man beispielsweise Konflikte mit dem IWF über Formulierungen aufbauscht.
In all ihren Etappen war die „Verhandlung“ ein langwieriger, brutaler Prozess der Verblendung und Desorientierung der Arbeiterklasse und der armen Volksschichten. An dieser Stelle müssen wir klarstellen, dass dieser Prozess für lange Zeit, in seinen ersten beiden, entscheidenden Etappen, von der Führung der heutigen LAE ebenso mitgetragen wurde wie von Zoe Konstantopoulou und den Funktionären ihrer Partei.
Die Rolle der Führung des linken Flügels von SYRIZA
Die Tsipras-Clique stand an der Spitze der Regierung und übernahm auf jeden Fall die entscheidende Drecksarbeit des Verrats. In letzter Instanz hätte diese politische Clique allerdings nichts zustande gebracht, wenn nicht die „patriotisch“-„demokratischen“ Führer des linken Flügels von SYRIZA (inklusive der Maoisten der KOE, der Cliffites der DEA und der anderen opportunistischen Bestandteile dieses Flügels), allen voran natürlich die Minister der Linken Strömung, sie in den ersten Etappen dieses elenden Täuschungs- und Verratsmanövers, das man Verhandlung genannt hat, nicht direkt und indirekt gestützt hätten.
Zweifellos sind diese Führer nicht in gleicher Weise verantwortlich wie Tsipras. Etwas schematisch könnte man sagen, dass sie auf solche Weise verantwortlich sind wie der äußerst verängstigte und passive Komplize eines Verbrechens. Die Behauptung allerdings, sie seien von der Tsipras-Clique getäuscht worden, ist unehrlich. Als erfahrene Kader, die dem Schoß des alten stalinistischen und „eurostalinistischen“ Opportunismus entsprungen waren, oder auch als jüngere, die in den letzten Jahren Lehrlinge im Labor des opportunistischen Kuhhandels (Im SYRIZA-Jargon sagte man elegant: „Osmose“) in der SYRIZA-Führung waren, kannten sie die Ideen, Methoden und Ziele der Tsipras-Clique sehr gut. Sie koexistierten jahrelang mit ihr im Apparat der Parteibürokratie, deren Privilegien allen Reformisten, gleich welcher Herkunft oder „ideologischen Tradition“, zugute kamen.
Der Kontakt von SYRIZA mit der Staatsmacht begann auf kommunaler und regionaler Ebene und gipfelte in der Regierungsbildung. Daraus flossen immer mehr materielle Ressourcen für die privilegierte Parteibürokratie, egal welcher Herkunft: Posten als Bürgermeister, Gouverneure, Berater, Mitarbeiter und Funktionäre der Ministerien, und schließlich eben als Minister. Das war das materielle Bindemittel, das die Funktionäre der Führungsmehrheit und -minderheit zusammenhielt und den linken Flügel zu einer „loyalen“ innerparteilichen Opposition machte, die sich bei jedem Schritt auf Abänderungsanträge beschränkte und niemals alternative Dokumente zur Diskussion stellte oder den Machtanspruch der Tsipras-Clique ernsthaft in Zweifel zog.
Tsipras wusste, dass er bald gezwungen sein würde, ernsthafte Abstriche von seinen Wahlversprechen zu machen. Es war nie eine Option für ihn, darauf zu verzichten, die Führer der Linken Plattform an die Pfründe der Macht zu lassen, um sie in Regierungsämtern gefangen zu halten und sich vor ernsthaften innerparteilichen Konflikten zu schützen. Der Karrierismus und der blinde Ehrgeiz dieser Führer brachte sie dazu, diese Geschenke anzunehmen. Sie gingen wie echte kleinbürgerliche Politiker – keineswegs wie Kommunisten – davon aus, dass sie „nach all den Jahren politischer Arbeit für die Linke“ diese Posten „verdient“ hätten.
So kam es, dass die fanatischen Kämpfer für die nationale Währung von ihren Ministersesseln aus das Personal für eine Regierung stellten, die im Interesse der herrschenden Klasse über den Verbleib des Landes in der Eurozone verhandelte. Tatsächlich zeigten sie eine so große Verbundenheit mit ihren Regierungsämtern, dass sie nach dem „Vorbeben“ des Memorandums, der „Vereinbarung des 20. Februar“, nicht nur keinerlei Initiative ergriffen, die Basis von SYRIZA zu mobilisieren und für die Umsetzung der Wahlversprechen zu kämpfen, sondern sich an diese Ämter klammerten, bis Tsipras selbst sie aufforderte, zu gehen.
Mit dieser Haltung signalisierten sie der Arbeiterklasse in den politisch entscheidendsten Tagen, dass die Führung des linken Flügels kein Problem damit hatte, sich an einer Regierung zu beteiligen, an der Spitze unverhohlene Verräter stehen, und dass sie nicht aufhören würde, diese angeblich „linke Regierung“ zu unterstützen. Das war desaströs für den linken Flügel. Selbst als die Abgeordneten des linken Flügels dann im Parlament gegen das Memorandum stimmten, ohne über eine umfassendere Strategie zu verfügen, die Partei unter die Kontrolle der Linken zu bringen und die Verräter aus der Führung zu vertreiben, war das nur ein vereinzelter, passiver Akt zur Rettung ihrer politischen Ehre (das heißt, ihrer Position als Führer der Linken) und keineswegs eine kämpferische Positionierung mit realem Nutzen für die Interessen der arbeitenden Massen.
Diese Haltung hat dazu geführt, dass LAE bei den Wahlen politisch marginalisiert wurde und es nicht schaffte, auch nur knapp ins Parlament einzuziehen. Als die Arbeiterklasse und die armen Volksschichten zur Wahl gingen, erinnerten sie sich an die wiederholten Versicherungen der linken Führer von SYRIZA, die Regierung werde nicht für ein neues Memorandum stimmen, und an die Passivität, mit der sie an ihren Ministersesseln klebten, als Tsipras schon offensichtlich den Kurs des offenen Verrats eingeschlagen hatte.
Gewiss, im Bewusstsein breiter Schichten der arbeitenden Massen mögen diese Führer nicht dasselbe sein wie Tsipras. Doch als sichtbare Minister seiner Regierung und als passive Mitläufer, während er den Verrat vollendete, haben sie dauerhaft den Ruf erworben, verantwortungslos und politisch unglaubwürdig zu sein.
Die wichtigste Lehre, die die beiden SYRIZA-ANEL-Regierungen der Arbeiterklasse bis heute also erteilt haben, ist, dass sie das verräterische Wesen des Reformismus in all seinen Erscheinungsformen, seien sie rechts oder links, patriotisch oder „europäisch“, sichtbar gemacht haben – und damit auch die Notwendigkeit einer wirklich revolutionären, marxistischen Führung. Diese Lehre wird sich aber in ihrer ganzen Bedeutung und Tiefe unter den gegenwärtigen Bedingungen nur ein kleiner, fortgeschrittener Teil der Arbeiterklasse aneignen.
Die breiteren Massen der Arbeiterklasse haben empirisch mit den Reformisten gebrochen, die sie als „linke“ Regierung kennengelernt haben, aber aufgrund der extrem sektiererischen, erpresserischen und im Wesentlichen passiven Politik der KKE-Führung – mit anderen Worten: aufgrund des Fehlens eines wirklich marxistischen, subjektiven Massenfaktors – können sie noch nicht die notwendigen politischen Schlüsse ziehen. So verzögert und behindert das Fehlen des revolutionären subjektiven Massenfaktors den politischen Übergang der arbeitenden Massen vom Reformismus zum revolutionären Sozialismus, obwohl alle objektiven Voraussetzungen für diesen Prozess vorhanden sind. Dies begünstigt das Anwachsen und die Verbreitung von politischer Verwirrung, Zynismus und Skeptizismus.
Der Artikel wurde vom Chefredakteur der Zeitung EPANASTASI („Revolution“), Stamatis Karagiannopoulos, verfasst.