Unter dem Motto „Black Lives Matter“ strömen seit Wochen regelmäßig hunderttausende Jugendliche und ArbeiterInnen auf die Straßen. Besetzte Stadtteile, Selbstverwaltung, wilde Streiks – die Bewegung hat längst die gesamte Gesellschaft erfasst. Lukas Frank über die Perspektiven.

Eine der weitgehendsten Forderungen, die sich Teile der Black Lives Matter Bewegung auf die Fahne geschrieben hat, ist die Abschaffung der Polizei. Unter diesem Druck haben sich Teile des Establishments dazu durchgerungen, ein paar Lippenbekenntnisse abzugeben, zu mehr sind sie aber trotz der Millionen Menschen auf den Straßen nicht bereit. In manchen Städten der USA haben AktivistInnen allerdings in der Praxis gezeigt, dass es sehr wohl ohne die Polizei geht. Dazu gehört Minneapolis, wo nachts Freiwillige mit Waffen und Feuerlöschern patrouillieren, um Geschäfte und Personen vor Übergriffen durch White Supremacy Banden zu schürzen. Gegründet wurden diese Selbstverteidigungsvereinigungen von der NAACP (Nationale Organisation für die Förderung farbiger Menschen), der ältesten und einflussreichsten schwarzen Bürgerrechtsorganisation der Vereinigten Staaten.

In Seattle sah sich die Polizei Anfang Juni gezwungen ein Revier im Stadtteil Capitol Hill zu verlassen. Demonstranten besetzten daraufhin spontan einen Teil des Stadtteils um das Revier herum. Die Polizei ist in diesem Gebiet, welches von den Demonstranten CHAZ (Capitol Hill Autonomous Zone) genannt wird, nicht erwünscht und wurde durch eigens organisierte Deeskalationsteams ersetzt. Die New York Times beschreibt es als „Experiment für ein Leben ohne Polizei – teils Straßenfestival, teils Kommune. Hunderte sind zusammengekommen um Reden, vorgetragene Gedichte und Musik zu hören“.

2020 BLM seattle CHOP

Doch über die längerfristige Perspektive dieses Experimentes herrscht Uneinigkeit. Für manche ist es der Beginn der Machtübernahme der Massen, andere wollen mithilfe der Besetzung Druck auf die Stadtregierung ausüben. Zwar gibt es keine offiziell gewählte Führung, es scheint sich jedoch eine Clique von AktivistInnen auf Verhandlungen mit der Bürgermeisterin von Seattle, Jenny Durkan, eingelassen zu haben. Es wurde sich im Zuge dessen darauf geeinigt, dass die besetzte Zone auf ein paar Häuserblocks verkleinert wird, dafür aber Straßenblockaden aus Beton von der Stadt erhält. Mit kleinen Zugeständnissen und Einbindung in Diskussionen wird damit wieder eine gewisse Kontrolle der Stadtregierung über das Gebiet sichergestellt und zwar auf eine sehr viel geschicktere Art und Weise als das Donald Trump versucht, der auf Twitter Gift und Galle spuckt und androht den Stadtteil mit Gewalt durch das Militär zu räumen.

Für das politische Establishment der USA ist CHAZ durchaus ein Dorn im Auge, denn es zeigt in der Praxis, dass die Gesellschaft sehr gut ohne korrupte Politiker, Bosse und Banker auskommt. Jedoch ist es ein Leichtes für sie, die Besetzung zu isolieren und in die Kniee zu zwingen, solange sie noch die Kontrolle über die Fabriken und Betriebe haben. Denn schlussendlich braucht auch ein besetztes Stadtgebiet zumindest mal Strom, Wasser und Essen.

In dieser Besetzung widerspiegelt sich die Suche der Bewegung nach einer neuen Taktik. Die letzten Wochen gab es in den USA fast täglich Proteste, insgesamt waren Millionen Menschen in über 2000 Städten beteiligt, die Antwort war oft brutalste Polizeigewalt. Doch nichts hat sich verändert. Die Limits von Demonstrationen und Platzbesetzungen sind inzwischen klar spürbar. Verbunden damit, dass auch die Massen keine unbegrenzten Kraftressourcen haben, ist es zu einer vorübergehenden Abkühlung der Proteste gekommen.

Doch dass es einen Weg vorwärts gibt, zeigen die vielen Streiks in Solidarität mit der Bewegung: Alleine in den ersten beiden Juniwochen wurde in über 500 Betrieben die Arbeit niedergelegt. Der bisherige Höhepunkt war am 19. Juni, dem „Juneteenth“. Zu diesem amerikanischen Feiertag, der der Sklavenbefreiung gewidmet ist, wurde von der International Longshore and Warehouse Union ein 8 stündiger Streik in 29 Häfen an der Westküste der USA organisiert.

Die ILWU ist eine 42.000 Mitglieder starke Gewerkschaft von Dock- und HafenarbeiterInnen, die in der Vergangenheit schon öfters durch politische Streiks auf sich aufmerksam machte. In Oakland wurde der Streik von tausenden Demonstranten begleitet, wo unter anderem der Regisseur und kommunistische Rapper Boots Riley folgende militante Rede hielt:

„Was ist unsere Macht? … Diese Frage wird heute beantwortet. Unsere Macht stützt sich auf die Tatsache, dass wir es sind, die den Reichtum erzeugen. Reichtum ist Macht und wir haben die Möglichkeit diese Macht einzustellen. Wir haben die Möglichkeit unsere Arbeit einzustellen und den ganzen Müll herunterzufahren.

Stellt euch vor, dieser Streik an der Westküste wäre nicht nur einen Tag lang. Stellt euch vor wir würden alle Häfen an der Westküste so lange abstellen bis Forderung 1, 2 und 3 von ihnen erfüllt wurden. Sie würden Milliarden an Dollar verlieren… . Wir müssen ihnen zeigen, dass wir sie nicht darum bitten, sondern es ihnen befehlen. Wir müssen die Welt in Stillstand versetzen und diesen Arschlöchern in den Hintern treten.“

Das kann nicht genug betont werden. Ein Großteil der Menschen, die an den Demonstrationen der letzten Wochen teilgenommen haben, sind Menschen, die arbeiten und damit auch Menschen, die ihre Arbeit kollektiv niederlegen und die Gesellschaft in einen Stillstand versetzen können. Die Drohungen der PolitikerInnen und Bosse würden sich damit sofort in heiße Luft verwandeln, denn auch Polizei und Militär sind von der Arbeit normaler Menschen abhängig. Weiters würde damit schnell klar werden, wer in Wirklichkeit die Gesellschaft kontrolliert und anstatt sich auf leere Versprechungen einzulassen könnte der gesellschaftliche Reichtum von den ArbeiterInnen zur Erfüllung ihrer Forderungen eingesetzt werden.

Die Organisationen, die für einen kollektiven Kampf dieses Ausmaßes notwendig wären, sind zum Teil in den USA schon vorhanden. Die AFL-CIO, ein Dachverband verschiedener amerikanischer Gewerkschaften, organisiert über 12 Millionen ArbeiterInnen aus allen Branchen. Was jedoch im Weg steht, ist die Führung dieser Organisationen, die seit Beginn der BLM-Bewegung unauffindbar war. Ein Beispiel wäre die UAW, die vor allem ArbeiterInnen der Automobilindustrie organisiert und auch Teil der AFL-CIO ist. Diese hat sich für den „Juneteenth“ gerade einmal dazu durchringen können eine Arbeitspause für 8 Minuten und 46 Sekunden zu empfehlen. Natürlich unter der Voraussetzung, dass dies von den jeweiligen Unternehmen autorisiert wird. Doch dass sich die gewerkschaftliche Führungsetage überhaupt genötigt sahen zu derartigen Aktionen aufzurufen zeigt, welcher Druck auf ihnen lastet – ausgeübt durch ihre eigene Mitgliedschaft die kämpferische Maßnahmen verlangt.

Schon lange reift in den USA unter der Oberfläche eine revolutionäre Situation heran. Niedrige Löhne, Studiengebühren und ein für normale Menschen nicht leistbares Gesundheitssystem haben den „American dream“ zum amerikanischen Albtraum werden lassen. Dieser Druck muss sich auch in den Massenorganisationen der Arbeiterklasse, wie den Gewerkschaften, in Form eines revolutionären Programms ausdrücken. Dafür kämpft die Internationale Marxistische Tendenz (IMT), der auch der Funke angehört, nicht nur in den USA sondern auf der ganzen Welt.

(Funke Nr. 185/1.7.2020)


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