In den USA stehen die Präsidentschaftswahlen in einer Situation an, die so polarisiert ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr.

Jahrzehntelang war die Politik der USA, insbesondere bei den Präsidentschaftswahlen leicht berechenbar und letztendlich langweilig: Zwei Kandidaten (der republikanischen und der demokratischen Partei), die inhaltlich wenig unterscheidet treten alle vier Jahre gegeneinander an. Diese Kandidaten waren für die großen Konzerne, die die US-Politik dominieren, immer eine sichere Wahl und letztendlich spielte es für sie, aber auch für die arbeitenden Menschen und Jugendlichen, keine allzu große Rolle, wer die Wahlen gewann: Prokapitalistische Politik im Interesse der großen Konzerne und imperialistische Kriegstreiberei auf der ganzen Welt waren sowohl unter demokratischen als auch republikanischen Präsidenten garantiert.

US democrats republicansBild: socialistrevolution.org

Die Basis für diese Unterstützung des „Status Quo“ war eine boomende Wirtschaft, die die USA zum reichsten Land der Welt machte und zwar eine enorme soziale Ungleichheit produzierte, aber trotzdem den meisten Arbeiterfamilien ein mehr oder minder gesichertes Auskommen ermöglichte und sogar die Illusion schürte, dass man auch zum Kapitalisten aufsteigen könnte, wenn man nur tüchtig arbeitet und ein bisschen Glück hat.

Dass der Traum vom Tellerwäscher zum Millionär ein reines Luftschloss ist, liegt für Millionen Amerikaner inzwischen völlig klar auf der Hand. Schon seit Anfang der siebziger Jahre stagnieren die Reallöhne in den USA und sind vielfach deutlich zurückgegangen, zwischen 1998 und 2006 wurden Millionen IndustriearbeiterInnen entlassen. Gleichzeitig stieg die Produktivität in der verarbeitenden Industrie um 43,7%, lies: viel weniger Arbeiter arbeiten mehr für weniger Lohn.

Doch insbesondere seit der Krise 2008 gibt es einen Sturm der Angriffe auf den Lebensstandard der ArbeiterInnen und Jugendlichen. Die private Gesundheitsversorgung wird für immer mehr Menschen schier unleistbar. Studiengebühren steigen in unermessliche Höhen, AbsolventInnen der Universitäten bezahlen ihre akademischen Grade mit zehntausenden Dollar Schulden aufgrund der horrenden Studiengebühren. Weiters ist Wohnen eine der brennendsten sozialen Fragen im Land: etwa 23 Mio. Menschen droht die Zwangsräumung, die Krise am Wohnungsmarkt hat sich verschlimmert, 1/5 der Bevölkerung zahlt über die Hälfte ihres Einkommens fürs Wohnen. Und all das wurde durch die neuerliche Wirtschaftskrise seit dem Frühjahr noch verschärft: Insgesamt sind 11 Millionen Menschen mehr arbeitslos als im Frühjahr. Mindestens 38 Millionen leben in Armut.

Alle diese Umstände bedeuten, dass sich das Bewusstsein der Arbeiterklasse und der Jugend in den letzten Jahren grundlegend ändert und der „Status Quo“ immer mehr zum Hassobjekt wird. Die Black Lives Matter-Bewegung (BLM) ist ein Ausdruck dafür. 54% der AmerikanerInnen befürworteten nach dem Polizistenmord an George Floyd das Niederbrennen der Polizeistation, aus der die Mörder kamen. Insgesamt nahmen nach Schätzungen der New York Times zwischen 14 und 26 Mio. Menschen an ihnen teil!

Es ist verständlich, dass der herrschenden Klasse so etwas nicht egal ist, sie braucht Stabilität. Das beinhaltet insbesondere auch das Vermeiden einer potentiell bereits angelegten Spaltung im Staatsapparat angesichts des Umgangs mit den BLM-Protesten. Vereinzelt hat dies einen sichtbaren Ausdruck gefunden in Polizisten, die sich passiv verhielten oder sich sogar mit Protestierenden verbrüderten. Diese Stimmung schwappte teilweise auch auf die Nationalgarde und das Militär über – immer wieder wurde von einzelnen SoldatInnen und ganzen Truppenteilen berichtet, die sich weigerten gegen die Proteste mobil zu machen.

Das ist einer der Gründe für die Unterstützung des Kapitals für Biden – mit Protesten auf dem derzeitigen Niveau wird er nämlich auch fertig, dazu braucht es keinen Trump. Aber die erratische Politik, das aktive Zündeln muss weg. Der dringende Wunsch des Kapitals nach Stabilität zeigt sich auch am sehr sensiblen Verhalten des Dow Jones, der New Yorker Börse, gegenüber einem zukünftigen COVID-Impfstoff. Ständig schwankend zwischen Nervosität und Euphorie, suchen die Investoren einerseits die vielversprechenden Gewinne – und andererseits ein Mittel, um endlich mit dieser verdammten Instabilität fertig zu werden.

Die Wahlen im November

Auf politischer Ebene unterstützen viele Liberale und sogenannte „Linke” Biden gegen Trump als das kleinere Übel, als „vernünftigeren” Kandidaten. Sie sagen, Biden wäre empfänglicher für Druck von unten, mit ihm lässt sich reden, und seine Angriffe auf die Arbeiterklasse würden weniger hart ausfallen. Diese immer wiederkehrenden Gesänge kennen wir auswendig. Die Wahrheit ist aber, dass Biden genau dieselbe bürgerliche Politik macht wie Trump auch. Während der Proteste gegen den Irakkrieg war Biden nicht „empfänglich” dafür, dagegen zu stimmen. Selbst für die mildesten Reformvorschläge aus der BLM-Bewegung kann er sich nicht begeistern, ganz im Gegenteil: er verurteilt „beide Seiten gleichermaßen“ und schlägt vor, dass man den Protestierenden vielleicht lieber in die Beine als ins Gesicht schießen soll.

joe biden publicdomainBild: Joe Biden. (public domain)

Andere wiederum geben sich weniger Illusionen in die Empfänglichkeit Bidens für linke Forderungen hin, argumentieren aber, dass er die einzige Möglichkeit darstellt, den autoritären „Faschisten“ Trump zu besiegen. Der weitreichende Hass auf Trump wäre auch der Hauptgrund für einen Sieg von Biden. Es ist aber ein Fehler, in Fragen staatlicher Gewalt Trump und Biden auf unterschiedlichen Seiten der Barrikaden zu sehen. Demokratische BürgermeisterInnen, Polizeichefs und Gouverneure stehen ihren republikanischen KollegInnen um nichts nach, wenn es darum geht, gegen (nur zuletzt) die BLM-Proteste loszuschlagen.

Es handelt sich schlicht um normale bürgerliche Politik. Keine kapitalistische Regierung dieser Welt ist sich zu schade, den Polizeiknüppel hervorzuholen wenn es brenzlig wird. Dazu braucht man gar kein grobschlächtiger Trampel zu sein, auch elegantere Staatenführer (wie Macron gegen die Gelbwestenbewegung, oder wie es eben Biden einer wäre) haben damit überhaupt kein Problem.

Selbst wenn Trump den Faschismus nach Amerika gebracht hätte (was nicht stimmt), dann wäre es das erste Mal, dass dieser an der Wahlurne besiegt wird. Tatsächlich wäre dann die dringendste Aufgabe genau die gleiche wie jetzt: die Organisierung der Arbeiterklasse hinter einem, von der Bourgeoisie, unabhängigen Banner.

donald trumpBild: Donald Trump (Pikist)

Viele ArbeiterInnen haben ein sehr konkretes Verständnis für die Funktionsweise des politischen Systems in den USA. Biden und seine Demokraten werden den Verfall ihres kranken Systems nicht mit leeren Versprechen retten. Er wird als Präsident derselben Ausbeutungslogik zustimmen, wie er selbst und seine Vorgänger es stets getan haben. Dass dies im Massenbewusstsein tief verankert ist, zeigt schon die extrem geringe Wahlbeteiligung. Bei den Präsidentschaftswahlen 2016 bemühten sich gerade mal 55% an die Wahlurnen. Bei den Kongresswahlen 2018 lag die Beteiligung bei nur 50,3% – und selbst das war der höchste Wert seit 1914.

Falls Trump verliert, wird er in jedem Fall eine permanente, lautstarke Opposition bilden. Unter den Bedingungen der gegenwärtigen schweren Krise wird die lauwarme Unterstützung, die Biden im Moment noch genießt, unter den Schlägen der Angriffe auf die Arbeiterklasse zerbrechen. Geradeso, wie Trump und seine Partei von der Desillusionierung nach der Obama-Regierung profitiert haben, werden sie auch davon zehren.

Das heißt: die „Politik des kleineren Übels” öffnet der Rechten bloß den Weg für die nächste Runde und verschärft die politischen Verwerfungen nur noch weiter. Sowas ist kein ernsthafter Ansatz für die realen Probleme der Arbeiterklasse. Die Politik des kleineren Übels ist nicht nur demoralisierend und ermüdend, sondern verwischt auch die zugrunde liegenden Klassenbeziehungen und -interessen in der Gesellschaft.

Die Übermacht der Arbeiterklasse ist gerade in einem westlichen Industriestaat wie den USA immens, und sie ist die Klasse, die den ganzen Reichtum, der in der Gesellschaft vorhanden ist, überhaupt erschafft. Sie alleine hätte die Kraft, mit dem scheinbar ewigen Hin und Her zwischen den Republikanern und den Demokraten Schluss zu machen. Denn egal ob Trump oder Biden: an den realen Lebensbedingungen wird sich nichts ändern, in beiden Fällen wird die kapitalistische Ausbeutung, gerade in dieser tiefen Krise, weitergehen. Nur: die Demokraten werden den Sozialabbau freundlicher, dafür umso geschickter, über die Bühne bringen.

Doch dazu braucht es mehr als die Einsicht, dass das herrschende System zum Scheitern verurteilt ist. Die einzige Möglichkeit, die Lebensbedingungen der breiten Masse der Menschen fundamental zu verbessern ist es, ein reines Banner aufzurollen, die Gewerkschaftsbewegung aus den Klauen der Demokraten zu entreißen und mit dem Aufbau einer Partei der Arbeiterklasse zu beginnen, eine Aufgabe, die in den USA dringender ist denn je.

(Funke Nr. 186/10.9.2020)


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